Jonathan Carr: Der Wagner Clan - Dr. Helmut Puschmann

Jonathan Carr: Der Wagner Clan

Carr Wagner Clan

Verlag S. Fischer
ISBN 978-3-596-18504-7
Eine sehr gut recherchierte Chronik der Wagner-Familie �ber 5 Generationen, beginnend mit Richards Eltern, �ber den Komponisten Richard Wagner selbst, seine ihn 47 Jahre �berlebende 2. Frau Cosima, Richards und Cosimas Sohn Siegfried und dessen ihn 50 Jahre �berlebende Ehefrau Winifred, deren beider S�hne Wieland und Wolfgang sowie Wolfgangs T�chter Eva Wagner-Pasquier und Katharina Friderike Wagner.

Das sind die herausragenden K�pfe des Wagner-Clans, aber auch die oftmals rivalisierenden "Seitenlinien" der Familie werden dargestellt. So hat gerade 2008 nach dem Abtreten von Wolfgang die Wieland-Tochter Nike ihren Anspruch auf die Festspielleiter-Nachfolge gegen die Cousinen Eva und Katharina nicht durchsetzen k�nnen. Seit 1973 bestimmt n�mlich nicht mehr die Familie Wagner, sondern ein Stiftungsrat die Geschicke der Festspiele. Als sehr interessante Figuren werden in Carrs Buch auch ausf�hrlich dargestellt der Ehemann von Richards Tochter Eva, Houston Stewart Chamberlain, der Ehemann von Siegfrieds Tochter Verena, Bodo Lafferentz und Siegfrieds Tochter Friedelind, die sich als einziges Mitglied der Wagner-Familie gegen die Nazis stellte und fl�chten musste.

Einen sehr gro�en Teil dieser Familien-Biographie nimmt die Verstrickung der Familie Wagner mit den Nazis ein, speziell mit Adolf Hitler pers�nlich. Hier bem�ht sich J. Carr um eine schonungslose Aufarbeitung, wobei nur das geschildert wird, was belegt werden kann. Das ist �berhaupt die gro�e St�rke dieses Buches, dass Carr immer auf die "Beweislage" abstellt und sehr deutlich darauf hinweist, wenn bisher unwidersprochene "Fakten" nicht wirklich absolut sicher verbrieft sind.

In �hnlich sorgf�ltiger Weise bem�ht sich Carr, die antisemitischen Ressentiments von Richard, Cosima, H. S. Chamberlain und vor allem von Winifred darzustellen. Er tut das ohne jeden Vorwurf, ohne jede pers�nliche Wertung, aber auch und vor allem ohne jeden Versuch der Bagatellisierung.

Carr stellt sehr geschickt bei allen Entwicklungen der Familie Wagner den Bezug her zur jeweiligen zeitgeschichtlichen und vor allem politischen Realit�t und den dort bestimmenden Personen. So w�re der Bayreuther Festspielhausbau ohne K�nig Ludwig II. nie m�glich gewesen, Winifred h�tte ohne Hitlers Protegieren die Festspiele in der dunkelsten deutschen Periode nicht aufrechterhalten k�nnen und ohne die Duldung der Alliierten, die wohl eher wohlwollende Entnazifizierung, und in neuerer Zeit die Unterst�tzung durch die Bayerische Landesregierung und die deutsche Bundesregierung w�re die Wiederaufnahme des Festspielbetriebes 1951 unm�glich gewesen.

Es gibt viele B�cher von den Wagners und �ber die Wagners. In manch einem davon wird die Geschichte der Familie so dargestellt, wie es der Wunschvorstellung des Autors entsprach. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung ist schwierig: Manche Unterlagen der Familienchronik sind bewusst vernichtet worden oder im Krieg verschollen, manche wichtigen Dokumente, wie Cosimas Tageb�cher sind erst seit wenigen Jahren zug�nglich bzw. ver�ffentlicht. Und bez�glich des umfangreichen schriftlichen Nachlasses von Richard Wagner beschreibt Carrr, wie der Komponist neben seiner unbestrittenen musikalischen Genialit�t ein Mensch mit sich mehrfach wandelnden Grunds�tzen und Wertvorstellungen war. So k�nnen Anh�nger sogar sich widersprechender Weltanschauungen Richard Wagner zugleich f�r sich vereinnahmen und zum Kronzeugen f�r ihre Gesinnungen aufrufen. Carr stellt das alles sehr penibel dar.

Ein faszinierendes, gescheites, solides und informatives, manchmal aber auch etwas ern�chterndes Buch. Bei der Lekt�re d�mmert es dem Leser zunehmend: G�tter waren und sind die Wagners allemal nicht. Eher Menschen mit besonders vielen Kanten und Br�chen, aber eben auch mit einer ungeheuren inneren Kraft und mit Sendungsbewusstsein. Carr selbst hat �brigens die Ver�ffentlichung seines Werkes nicht mehr erlebt, er verstab am 12.6.2008.

Um Wagners Musik zu verstehen, zu lieben oder abzulehnen muss man dieses Buch nicht lesen. Es hilft aber vor allem dem Skeptiker ungemein, zu verstehen, was da seit 1876 Jahr f�r Jahr im August an Faszinierendem in Bayreuth passiert. Es werden sehr deutlich die einzelnen Perioden der Festspielleitung unter Richard, Cosima, Siegfried, Winifred, Wieland und Wolfgang geschildert. Das sind sehr gro�e Fu�stapfen, denen Eva und Katharina seit 2008 folgen. Obwohl, wenn man � wie der Rezensent � 2010 in Bayreuth Katharinas sp�tpubert�re Meistersinger-Inszenierung gesehen hat, mu� man sich eher auf einen Bruch mit allem Althergebrachten einstellen.

Die Familie Wagner, auch ein St�ck (unbequemer!) deutscher Zeitgeschichte und letztlich irgendwie zwiesp�ltig. Und das scheint sich dem Kenner sogar bei Richard Wagners Musik selbst so darzustellen, zitiert doch Jonathan Carr Leonard Bernstein mit dessen ber�hmten Satz: "Ich hasse Wagner, aber auf Knien".