Rezension - Walter Tevis – Das Damengambit (Buch) - booknerds.de

Walter Tevis – Das Damengambit (Buch)


Walter Tevis – Das Damengambit

Waisenkind gegen Weltmeister – Großes Schach

Das Damengambit
© Diogenes

In den 1950er Jahren kommt Elizabeth „Beth“ Harmon als Waisenkind mit acht Jahren in das Methuen-Kinderheim im US-Staat Kentucky. Wie alle Kinder erhält sie täglich Tabletten, darunter grüne Beruhigungspillen. Als sie den Tafelwischer im Keller reinigen soll, bemerkt sie dort den Hausmeister Mr. Shaibel, der über einem ihr unbekannten Spiel sitzt. Dieses fasziniert Beth, doch Mr. Shaibel erklärt ihr die Spielregeln nur zögernd und zunächst widerwillig. Nach wenigen Partien ist allerdings klar, dass er gegen Beth keine Chance hat. Er arrangiert ein Treffen mit Mr. Ganz vom Schachklub der Highschool mit gleichem Ergebnis. Beth wird eingeladen, gegen gleich zwölf Jungs des Highschool-Teams simultan zu spielen, wobei sie alle Partien gewinnt. Dann gibt es eine Gesetzesänderung, die es der Heimleitung untersagt, die Beruhigungstabletten weiter zu verabreichen. Ein Schock für Beth, die beschließt, sich im Arzneimittelraum einen Vorrat anzueignen. Bei diesem Versuch schluckt sie zahlreiche Tabletten und kommt mit einer Überdosis ins Krankenhaus. Die Strafe der Heimleiterin ist hart und besteht unter anderem aus einem Schachverbot.

„Ich kann ohne die Pillen nicht schlafen.“ „Dann solltest du erst recht keine mehr bekommen.“ „Sie hätten uns die gar nicht erst geben dürfen.“ „Ich dulde keine Widerworte!“

Wenige Jahre später wird Beth von dem Ehepaar Alma und Allston Wheatley adoptiert. Bald ist Alma mit Beth allein, gezeichnet von Tabletten- und Alkoholmissbrauch. Derweil entdeckt Beth eine Anzeige für ein Schachturnier, die Landesmeisterschaft von Kentucky. Sie klaut sich das Startgeld zusammen, nimmt teil und wird mit nur dreizehn Jahren Landesmeisterin. Ein Wunderkind ist geboren, spätestens als sie drei Jahre später gemeinsam mit Benny Watts die amerikanische Meisterschaft teilt. Doch Beth will mehr, will unbedingt Vasily Borgov schlagen, den russischen Weltmeister. Allerdings verfällt sie zunehmend ihren Tabletten und vor allem dem Alkohol.

Nicht nur als Netflix-Serie beachtenswert

Die Verfilmung von „Das Damengambit“ war 2020 ein großer Erfolg als Miniserie bei Netflix und lädt dazu ein, sich mit der Romanvorlage zu befassen. Vielleicht sogar – noch besser – mit Walter Tevis (1928-1984), dem Autor, der in seinem recht kurzen Leben „nur“ sechs Romane schrieb. Filmfans werden, wenn nicht seinen Namen, so zumindest drei seiner Romane kennen. „Die Haie der Großstadt“, „Die Farbe des Geldes“ und „Der Mann, der vom Himmel fiel“ sind für Cineasten Pflicht; in den jeweiligen Hauptrollen sind Paul Newman, Tom Cruise und David Bowie zu sehen.

„Das Damengambit“ erschien im Original bereits 1983 und hat nichts von seiner Erzählkraft verloren. Der Aufstieg vom jungen Waisenkind zur Schachkönigin ist ein schönes Märchen, für welches es kein reales Vorbild gibt, sieht man von der Chinesin Xie Jun ab, die mit 21 Jahren Weltmeisterin wurde – allerdings „nur“ bei den Frauen. Womit wir bei einem zentralen Thema abseits des Schachs wären, denn Beth stört sich zunehmend daran, dass sie hauptsächlich als Frau wahrgenommen wird. Kein Wunder, denn die Schachwelt wurde in den 1950/1960er Jahren von Männern dominiert, was sich bis heute nicht geändert hat. So erzählt „Das Damengambit“ auch jene Geschichte, in der sich eine junge Frau in einer Männerwelt durchsetzt. Eine Variante des Klassikers vom Aufstieg des Underdog. Mit der älteren Heiminsassin Jolene DeWitt bringt der Autor gleich noch dezent das Thema Rassismus unter, denn Jolene ist eine Schwarze und wird zu Beth bester Freundin; nach anfänglichen Hindernissen.

In erster Linie ein großartiges Schachbuch

Trotz allem, was in dem Buch ebenfalls gelungen thematisiert wird – Kampf einer Frau in einer Männerdomäne, die knallharten Regeln im Waisenheim, Jolenes Schwierigkeiten als Schwarze und – vor allem – das Thema Tabletten- und Alkoholmissbrauch sowie damit einhergehend Sucht und Selbstbetrug – bleibt „Das Damengambit“ in erster Linie ein großartiges Schachbuch. Wer mit 1. d4 – d5, 2. c4 nichts anfangen kann (es handelt sich um die Eröffnungszüge des Damengambits), hat schon ein Problem. Noch nie wurde in einem Roman derart intensiv über Schach geschrieben.

„Spielst du auch Partien im Kopf durch, wenn du allein bist? Ich meine, von vorne bis hinten?“ „Machen das nicht alle?“

Läufer werden fianchettiert, zahllose Eröffnungsvarianten erwähnt und besprochen; selbst mehrere Partien werden in weiten Teilen analysiert und kommentiert. Wer die Regeln des königlichen Spiels nicht kennt, hat an diesen Stellen keine Chance und vermag sich womöglich dennoch an der großartigen und authentisch beschriebenen Atmosphäre in den Turniersälen und am Schachbrett zu erfreuen. Auch die stundenlangen, akribischen Partieanalysen mit einem oder mehreren Sekundanten sind gut wiedergegeben und zeigen wie (zeit-)intensiv – damals wie heute – die Wettkampfvorbereitungen auf absolutem Spitzenniveau sind. Die zusätzlichen, bereits erwähnten weiteren Themen, gibt es „on top“ dazu. Und da der abschließende Höhepunkt – Beth spielt als 19-jährige bei einem Einladungsturnier in Moskau gegen Weltmeister Borgov – in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre stattfindet, wird selbst die Zeit des Kalten Krieges ein wenig lebendig. Hier hätte man mehr herausholen können, allein, Walter Tevis wollte ja vor allem einen Roman über Schach schreiben. Dies ist ihm grandios gelungen. Nicht nur Schachspieler sollten zugreifen!         


Wertung: 14/15 dpt


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