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„Generation Angst“: Die digitale Revolution frisst ihre Kinder

„Generation Angst“: Jonathan Haidts alarmierender Zwischenruf zu Digitalisierung und mentaler Gesundheit ist auch ein Appell an die Politik. Jetzt erscheint das Buch auf Deutsch.

von Michael Bröning · 30. April 2024
„Generation Angst“: ein alarmierender Zwischenruf zu Digitalisierung und mentaler Gesundheit

„Generation Angst“: ein alarmierender Zwischenruf zu Digitalisierung und mentaler Gesundheit

„The kids are alright“, sangen „The Who“ vor 60 Jahren. Heute sind die Kids dezidiert alles, aber nicht alright. Davor jedenfalls warnt der US-Sozialpsychologe Jonathan Haidt in einem aufrüttelnden Zwischenruf „The Anxious Generation“, der in den kommenden Wochen als „Generation Angst“ auch auf Deutsch erscheint. 

Haidts Kernbotschaft lautet: Die technische Entwicklung in Sachen Digitalisierung hat eine „Neuverdrahtung der Kindheit“ und letztlich eine „telefonbasierte“ Jugend bewirkt, deren mentale Auswirkungen verheerend sind: Für die direkt betroffenen der nach 1995 geborenen Generation Z aber auch für westliche Gesellschaften insgesamt. 

Die Verlagerung ins Digitale als „Verhinderung von Erfahrungen“

Jonathan Haidt ist dabei nicht irgendein Apokalyptiker, der mit profitablen Kassandrarufen sein Bankkonto füllt, sondern ein in New York lehrender scharfsinniger Beobachter, der sich in den vergangenen Jahren mit einer ganzen Serie von kritischen Werken zur politischen Wirkung psychosozialer Trends einen Namen gemacht hat. Nun aber stürmt er mit „Generation Angst“ geradezu die Bestsellerlisten. Rezensent*innen feiern das Werk als einen Befreiungsschlag, der erstmals überzeugend auf den Punkt bringt, was alle seit langem spüren und erahnen. Um was also geht es genau?   

In vier immer wieder auf Meta-Studien zurückgreifenden Kapiteln umreißt der Autor systematisch Art und Ausmaß der aktuellen Krise, illustriert die Verlagerung ins Digitale als „Verhinderung von Erfahrungen“ und beschreibt die aus der allgegenwärtigen virtuellen Vernetzung entstehenden Belastung insbesondere bei jungen Mädchen. Zudem liefert das Buch in einem Schlusskapitel konkrete politische, gesellschaftliche – und elterliche – Handlungsempfehlungen.

Unvorbereitet in die digitale Materialschlacht 

Ausgelöst wird die aktuelle Krise der mentalen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen für Haidt – die Geburtsstunde der „Generation Angst“ – durch eine Welle technischer Innovationen. Mitte der 2000er Jahre lagen plötzlich sämtliche Zutaten bereit, um das Internet portabel zu machen – und eine ganze Generation unvorbereitet in eine digitale Materialschlacht stolpern zu lassen. Die Wegmarken: Die Einführung des Breitband-Internets, der Siegeszug des iPhones, die Verbreitung sozialer Medien, die Einführung der „Like“, „Retweet“ und „Share“ Funktionen, Push-Notifikationen, die Integration von Frontalkameras in Smartphones und der Kauf von Instagram durch Facebook im Jahr 2012. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, könnte man die Auswirkungen zusammenfassen.

In der Folge dieser sich gegenseitig verstärkenden Trends durchleben Kinder und Jugendliche heute als erste Generation der Menschheitsgeschichte eine grundlegend andere Jugend als sämtliche vorherige Generationen. An die Stelle der analogen Realität tritt der Bildschirm. Die Simulation ersetzt konkrete soziale Erfahrungen in der nicht virtuellen Welt: Der Schein bestimmt das Bewusstsein.

Die Daten sprechen eine klare Sprache

Übertriebener Alarmismus? Ja, meinen Haidts Kritiker. Doch die Daten sprechen eine ziemlich klare Sprache. 46 Prozent aller amerikanischen Kinder erklärten 2022, sie seien per Smartphone „nahezu permanent“ online. Rund 40 Stunden wöchentlich verbringt ein durchschnittlicher Jugendlicher derzeit am Smartphone: Ein Vollzeitjob. Apps, Chats, soziale Medien wie Instagram und – vor allem bei männlichen Jugendlichen – online-Gaming-Sites und Pornographie liefern ein telefonbasiertes Feuerwerk aus Endorphinen, dem selbst problembewusste Nutzer kaum etwas entgegenzusetzen haben.

192 Notifikationen erreichen Jugendliche derzeit im Durchschnitt – täglich. Ping! In der Folge dreht sich in manch einem Haushalt ein Großteil familiärer Diskussionen um die Kontrolle von Technologie. Das dürfte Eltern bekannt vorkommen. Dabei dürften die Daten das Problem eher noch unterschätzen. Denn selbst wenn Kinder und Jugendliche nicht aktiv online sind, wird ein Teil der Aufmerksamkeit in der virtuellen Sphäre gebunden. In der digitalen Gegenwart sind wir „immer irgendwo anders“, warnt Haidt. Das aber bleibt gerade für Heranwachsende nicht ohne Konsequenzen, deren mentalen und physiologischen Entwicklungen noch nicht gefestigt und abgeschlossen sind.

In der Folge der Verlagerung ins Virtuelle treten für die Generation Z eher lose Netzwerke an die Stelle von dauerhafteren und belastbareren analogen Gemeinschaften. 

Der Wahnsinn hat Methode

Seite um Seite stellt Haidt die Fakten zusammen und immer zeigt die Datenkurve steil nach oben: Selbsthass, Isolation, Schlafmangel, Depression, Angststörungen, Motivations- und Konzentrationsschwierigkeiten, Hospitalisierungen und Suizidversuche: Die Zahlen belegen nie dagewesene Verschlechterungen der mentalen Gesundheit, die mit den technologischen Entwicklungen zeitgleich auftreten. Und zwar nicht als US-Besonderheit, sondern zugleich in den nordischen Staaten und vom Vereinigten Königreich bis nach Neuseeland.

Der Wahnsinn aber hat Methode. Denn an US-Colleges etwa lässt sich nachweisen, wie die Einführung von sozialen Netzwerken, die ja wie Facebook an einzelnen Hochschulen begannen, mit nur kurzer Verzögerung psychologische Krisen in den teilnehmenden Universitäten – und nur in ihnen – potenzierten. Reiner Zufall? Stieg mit der Vernetzung einfach das Problembewusstsein und die Tendenz zur Selbstdiagnose? Nein, zeigt Haidt, und verweist auf objektive Indikatoren wie Hospitalisierungen durch Dritte. 

Weltereignisse werden ungefiltert in die Gehirne gepumpt

Zugleich aber entkräften die Daten Einwürfe, die in der aktuellen Welle psychischer Erkrankungen eine Folge neoliberaler Politikentwürfe oder etwa des Klimawandels erkennen wollen. „Es ist nicht so, dass die Welt um das Jahr 2012 plötzlich rapide schlechter geworden ist“, schreibt Haidt. „sondern, dass Weltereignisse jetzt plötzlich über Smartphones als emotionale Social Media Posts anderer junger Menschen ungefiltert in die Gehirne von Heranwachsenden gepumpt wurden“. 

Deswegen sei es zwar naheliegend aber irreführend, die Sorgen vor den Auswirkungen der Digitalisierung als „moralische Panik“ von Erwachsenen abzutun. Das Kopfschütteln der Alten über die Jungen hat Tradition – sicher. Doch das belegt noch nicht die Harmlosigkeit der bahnbrechendsten technologischen Innovation des 21. Jahrhunderts. Anders formuliert: Die Comichefte der fünfziger Jahre mögen Schund gewesen sein – oder auch nicht. Und die Sorgen der Vergangenheit überzogen. Doch die Comicfans von Anno dazumal haben sich nach der Lektüre eben nicht mit Wachstumsraten von 134 Prozent Selbstverletzungen zugefügt – wie derzeit im Vereinigten Königreich. 

Toxisches Geflecht aus Übervorsicht und Anything Goes

Besonders negativ wirkt die „telefonbasierte Kindheit“ dabei laut Haidt, weil die technologischen Entwicklungen zusammenfallen mit allgemeinen gesellschaftlichen Trends. Zehnjährige, die in den Vereinigten Staaten den Schulweg ohne elterliche Aufsicht antreten, provozieren mittlerweile vielerorts eine Intervention der Sozialbehörden. Haidt konstatiert einen Kult der Sicherheit („Safetyism“) – bildlich illustriert durch gepolsterte Kinderspielplätze –, der wichtige Erfahrungen verhindert, die eben auch mit dem Aushalten von Risiko verknüpft sind. Mentale Stärke, daran erinnert Haidt immer wieder, entsteht nicht durch Abschirmung, sondern durch Lernen aus Fehlschlägen.

In der Kombination entsteht ein für Heranwachsende toxisches Geflecht aus Übervorsicht in der analogen Welt und Anything Goes in der Digitalen. Haidt zitiert die Stimme eines vierzehnjährigen Mädchens: „Ich war zehn, als ich das erste Mal Online-Pornographie sah. Die Webseite hatte keine Altersabfrage und keine Identitätsprüfung. Wo meine Mutter war? Im Nebenraum, damit beschäftigt, Gemüse und Obst in neun verschiedenen Farben bereitzustellen.“ 

Merkwürdige Prioritäten aber scheinen bis heute auch politisch festzustellen zu sein. Denn wie sehen sie aus, die Debatten, die auch in Deutschland zum Thema Digitalisierung geführt werden? Die Eigentumsverhältnisse von Tiktok, Digitalisierung an Schulen, Lückenhafte Mobilfunknetze, problematische Genderrollen oder Gewalt in Videospielen – das ungefähr ist das Spektrum. Hinzu kommen Sorgen vor Fake News und Desinformation. Alles wichtige Themen. Doch wenn die von Jonathan Haidt zusammengetragenen Daten korrekt sind, führen wir damit als Gesellschaft eindeutig die falsche Diskussion zum richtigen Thema. Zerbrochene Fensterscheiben und tropfende Wasserhähne sind ein Problem – aber nicht auf der Titanic. 

Laissez-Faire ist keine Option

Wie also antworten auf die Epidemie von Depression, Fragilität, Selbsthass und den Rückzug einer ganzen Generation? 

Der besondere Mehrwert des Werkes liegt in der Besonnenheit der Empfehlungen. Denn Haidt geht eben nicht den Weg der pauschalen Ablehnung. Es geht ihm nicht um einen illusorischen Rückzug aus dem Digitalzeitalter. Seine Forderungen lauten vielmehr: Kein Smartphone vor der 9. Klasse. Keine sozialen Medien vor dem 16. Lebensjahr. Keine Telefone in Schulen und in der Freizeit ein stärkerer Fokus auf unbeaufsichtigtem Spielen. Banal? Undurchführbar? Nein. Denn einer Gesellschaft, die Minderjährige aus gutem Grund vor Spielautomaten, Alkohol und dem fahrlässigen Abschluss eines Zeitschriften-Abos schützt, ist eine vergleichbare Verantwortung mit Blick auf Digitalangebote durchaus zuzumuten. Laissez-Faire ist keine Option zur Regelung des Umgangs von Digitalkonzernen mit einer ganzen Generation von Minderjährigen.

Denn die von Jonathan Haidt beschriebene Abschaffung einer erfüllten Kindheit und Jugend zur Förderung der Werbeeinnahmen von Datenhändlern ist ja eben kein unausweichliches Schicksal. „The Kids are Alright“, sangen The Who. Heute stürmt Olivia Rodrigo mit einem ganz anderen Sound die Charts: „I kinda wanna throw my phone across the room“. Jonathan Haidts eindrucksvolle Warnung zeigt, dass das nicht die schlechteste Idee ist. Doch auch die Politik muss handeln.

Jonathan Haidt: The Anxious Generation. How the Great Rewiring of Childhood Is Causing an Epidemic of Mental Illness. Penguin Press, März 2024 ISBN-10: 0593655036

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Michael Bröning

ist Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.

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