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Titelseite von The Guardian mit der Überschrift: "'Fear and trepidation as 100,000 people flee Rafah bombardment"

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Die brüllende Dissonanz

Die Katastrophe Gaza und ihre Wahrnehmung auf dieser Seite des Ärmelkanals. Versuch einer Verständigung.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Ich schreibe nun schon seit 24 Jahren für diese Website, faktisch das ganze bisherige 21. Jahrhundert (ich glaube, es war irgendwann im Mai 2000, als ich mit dem „Hosten“ für FM4 begann), und so schwer wie heute war das noch nie.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Damals schrieb ich relativ unbeschwert ins Internet hinein, und ganz entzückenderweise schrieb es zurück. Die Direktheit der Onlinekommunikation erzeugte anfangs Illusionen, die Leute redeten viel vom „global village“. Von der Technologie befördert würde sich eine Art liberal-progressive Grundvernunft über alles breiten, alle würden ungefähr so leben und denken wie „wir“, die Avancierten. Ja, es war sogar modern, diese unvermeidliche Angleichung der Gemüter irgendwie schade zu finden.

Und dann erlebte ich über die Jahrzehnte anhand einiger Weltereignisse mit, wie entschieden die Leute trotz globaler Vernetzung aneinander vorbei reden können. Die Invasionen Afghanistans und des Irak Anfang der Nullerjahre waren so eine historische Lektion, auf die ich schon in meinem Jahresendtext 2023 als faszinierend verdrehte Analogie hingewiesen habe. Ich will noch einmal darauf zurückkommen, als kurze Einstimmung auf den aktuellen Kern dieser Story hier:

Mehr als eine Million Menschen – darunter ich selbst – demonstrierten damals in London gegen diese Kriege, aber im angloamerikanischen Medien- und Meinungskonsens wurden sie als völlig unvermeidlich präsentiert. Unter Verweis auf das Terrortrauma 9/11 und eine drohende Vernichtung des Westens durch verborgene Waffenarsenale, sowie Vergleichen zwischen Saddam Hussein und Hitler.

Bilder, die man uns ersparte, um den Glauben an den gerechten Krieg nicht ins Wanken zu bringen

Ich versuchte Brit:innen damals zu erklären, warum die Leute in Deutschland und Österreich aus guten historischen Gründen, die ebenfalls was mit ihren Hitler-Erfahrungen zu tun hatten, nicht gern Kriege unterstützten. In Kontinentaleuropa pochte man gemeinsam mit dem – damals noch nicht so genannten – globalen Süden auf die Autorität der UNO. Die USA/UK und ihre „Koalition der Willigen“ waren dagegen bereit, sich darüber hinwegzusetzen. Wozu Waffeninspektor:innen, wenn der Geheimdienst doch schon alles besser wusste? Sollte man zögern, so wie man einst der wachsenden Bedrohung durch Nazideutschland tatenlos zugesehen hatte?

Manche Leute, die diesen Casus Belli vertraten, taten das aus Zynismus, andere aus ehrlicher Überzeugung, viele aus beidem. Ehrlich überzeugte Menschen fälschten Evidenz, um andere zu überzeugen. Und Zyniker:innen ließen sich von den moralischen Energien ehrlich Überzeugter mitreißen. Nicht auszudenken, wie sehr sich das noch potenziert hätte, wenn es damals schon soziale Medien und KI gegeben hätte, aber unerträglich war es damals schon.

Je nach Zählweise starben hunderttausende bis Millionen Menschen an den Folgen jenes unter falschen Behauptungen begonnenen Krieges.

Dabei war die Falschheit jener Behauptungen für Menschen außerhalb der UK/US-Blase völlig evident und zog sich so weiter durch den Krieg hindurch. Ich erinnere mich gut daran, wie ich britische und amerikanische Freund:innen mit Details davon versorgte, was alles an unerfreulichen News über diesen Krieg in deutschsprachigen Medien zu hören und sehen war. Blutige, emotionalisierende Bilder schwerer Menschenrechtsverletzungen, die man uns auf dieser Seite des Ärmelkanals lieber ersparte, um den Glauben an den gerechten Krieg nicht ins Wanken zu bringen.

Der Antikriegsmehrheitskonsens auf dem europäischen Festland hatte natürlich nichts damit zu tun, dass man Saddam Hussein unterstützt oder gar tolerabel gefunden hätte. Aber es gab viele gute Argumente, die man auch mit den Friedensmärschen in Großbritannien teilte: Dass der von Präsident Bush so genannte „War on Terror“ nicht zu gewinnen sei, im Gegenteil: Dieser Krieg würde mit seinem Blutvergießen den Terror bloß weiter nähren. Und wer konnte das schon bestreiten, als dann im Sommer 2005 in der Londoner Underground die Bomben hochgingen?

Ich wärme diese alten Geschichten nicht bloß auf, weil sie in jedem Aspekt so verflucht vertraut klingen, sondern auch, weil sie zeitlich heute in etwa so weit zurückliegen wie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs die Erinnerung an das Schlittern in den Ersten. Und weil ich mich in dieser frühen Phase des Dritten noch konkret an die damaligen Positionen einiger Menschen in Österreich und Deutschland erinnere, die heute völlig gegenteilige Standpunkte vertreten.

Falls sie sich dessen bewusst sind, werden sie logischerweise ihre aktuelle Position für die aus Lebenserfahrung und Irrtümern gespeiste richtige halten. Der schnöde Musikjournalist gibt aber zu bedenken: Ältere Künstler:innen, die richtig gut spielen können, denken auch meist mit Scham an das naive Unvermögen ihrer Frühphase zurück. Ihr Publikum bevorzugt dagegen beharrlich (und meist zurecht) the early stuff.

Was mich selbst betrifft, so finde ich mich - analog zu den Afghanistan- und Irakkriegen - als mit der deutschsprachigen Welt assoziierter Mensch in Britannien wieder einmal als Zeuge gegensätzlicher paralleler Realitäten wieder. Und wie schrieb ich gerade vorher? „Nicht auszudenken, wie sehr sich das noch potenziert hätte, wenn es damals schon soziale Medien und KI gegeben hätte“?

Ich brauche es mir nicht auszudenken, ich sehe es täglich vor mir. Es raubt mir den Schlaf, treibt mich in Verzweiflung und Panikattacken und es ist eigentlich nur das akute Gewahrsein meiner im Vergleich zu Milliarden anderer gänzlich unbedrohten, privilegierten Sicherheit, das mich ebenso täglich anweist, mich verdammt noch einmal einzukriegen.

Weil ich zu feige und zu faul war...

Meinen ersten Text über diese brüllende Dissonanz hab ich hier letzten Oktober nach einem Besuch in Berlin veröffentlicht, Teil zwei war teils eine Innenansicht, teils gespeist aus den Reaktionen auf Teil 1. Nach der eingangs bereits verlinkten dritten Kolumne zum Thema hab ich mir nun mehr als vier Monate Zeit gelassen.

Wohl auch, weil ich zu feige und zu faul war, mich wieder dem um diesen Themenkomplex getanzten Reigen der absichtlichen Missverständnisse auszusetzen. Das ist allerdings eine gänzlich andere Sprachlosigkeit als jene Sprachlosigkeit vor dem Horror dieser Ereignisse, von der ich in erwähntem ersten Text schrieb. Es ist eine herumeiernde Sprachlosigkeit, die ich nun endlich durchbrechen muss.

Andere haben das bereits geschafft, siehe die auf mehrere Weisen ziemlich mutige, bezeichnenderweise nicht in Deutschland, sondern hier im Guardian erschienene Kolumne der Welt-, FAZ- und Financial-Times-Autorin Eva Lapido.

Dieser Text will dagegen ein Versuch der Verständigung, gerichtet an Menschen im deutschen Sprachraum sein.

Nicht an die Leute, die ich in deutschsprachigen Foren „Gut so“ oder „Kein Mitleid“ posten sehe, wenn sie lesen, dass andere krepieren, zum wiederholten Male vertrieben werden, seit Monaten in Zelten schlafen, buchstäblich in der eigenen Scheiße waten. Leuten, denen so etwas egal ist, solang es bloß um eine andere Sorte Mensch geht, ist leider nicht zu helfen.

Aber mit etwas Glück erreiche ich ja vielleicht die, deren Äußerungen sich seit mehr als einem halben Jahr unverändert so lesen, als sei nach den Massakern der Hamas vom 7. Oktober 2023 nichts Weiteres von größerem Belang geschehen.

Oder jene, die es immer mit Worten wie „bitter“ oder „traurig“ kommentieren, wann immer angloamerikanische Künstler:innen Solidarität mit Kriegsopfern der anderen, palästinensischen Seite kundtun.

Ich kenne viele dieser Leute nämlich als empathische Wesen. Ich weiß, dass die meisten von ihnen eine „differenzierte“ Sicht auf die Dinge für sich beanspruchen, und ich mich werde hüten, meine mediale Plattform hier zum Verbreiten meines Israel/Palästina-Schreibtischexpertentums zu nützen.

Aber soviel (und eigentlich noch viel mehr) kann ich aus erster Hand berichten:

Ich bin in den letzten anderthalb Monaten zweimal für mehrere Tage in Deutschland und Österreich gewesen und verfolge auch online im direkten Vergleich die medialen Darstellungen der Zustände in Gaza im deutsch- und im englischsprachigen Raum.

Der „stabile“ Nicht-Diskurs

Der Kontrast der Berichterstattung erinnert mich frappant an oben geschilderte Zeiten des Irakkriegs, bloß mit umgekehrten Vorzeichen: die taktische Neutralisierung der Formulierungen, das Zu-Tode-Kommen von Menschen ohne Nennung von Täter:innen, die Verlegung unangenehmer Fakten in den Kann-passiert-sein-kann-auch-nicht-passiert-sein-Konjunktiv, unkritische Übernahme der Informationen einer Kriegspartei und Skepsis gegenüber der anderen und natürlich immer das ausweichende, ängstliche Reden über „alles andere, nur nicht das“ (über die Rolle der Angst bzw. den zur Vorsicht lieber schweigenden deutschsprachigen Nicht-Diskurs im Angesicht eines „stabilen“, tatsächlich verbockt hyperdogmatischen und zunehmend hysterischen Scheindiskurses sollte man ein andermal noch wesentlich mehr schreiben).

Wieder zurück in England, sehe und höre ich in Fernsehen und Radio dagegen so gut wie täglich Interviews mit Mitarbeiter:innen von Hilfsorganisationen und Ärzt:innen von Organisationen wie Medecins Sans Frontières von den Zuständen in Gaza berichten. Vorgestern sprach zum Beispiel in den Mittagsnachrichten Rachel Cummings, die Leiterin des Gaza Response Team von Save The Children per Leitung aus Der al Balah von Hunderttausenden, die trotz Evakuierungsorder in Rafah geblieben seien, „weil sie behindert oder verletzt sind und sich nicht bewegen können oder weil sie alte Menschen bei sich haben“. Das rohe Entsetzen in ihrer Stimme war klar und deutlich zu hören. Wer davon nicht berührt wäre, hat vermutlich auch keinen Puls.

Man braucht hier nicht auf Tiktok oder X zu gehen, um Bilder von Menschen in Massengräbern oder in Blutlachen liegenden ausgemergelten, verstümmelten oder unter zerbombten Häusern begrabenen Kindern zu sehen. Man sieht sie in den Berichten von Korrespondent:innen wie Reporterveteranin Lindsey Hilsum und Secunder Kermani von Channel Four oder Nahostexperten Jeremy Bowen und Feargal Keane von der BBC.

Wie allen anderen internationalen Rundfunkanstalten erlaubt Israel es auch britischen Reporter:innen nicht, direkt aus Gaza zu berichten, daher zeigt man von dort festsitzenden, palästinensischen Reporter:innen gedrehtes Material. Ich sehe, wie Eltern ihre halb toten, halb zerfetzten Kinder durch zerbombte Straßen tragen, wie Kinder mit dünnen Beinen auf bloßen Füßen durch die Jauche laufen, um zu Trinkwasser zu kommen, und ich habe keinen Grund, an diesen Bildern zu zweifeln.

Während Großbritannien nach wie vor Waffen an Israel liefert, zeigt man uns auch Bilder davon, wie die britische Armee per Überflug Hilfspakete mit Union Jack drauf per Fallschirm über der Küste von Gaza abwirft, nach welchen dann, sobald sie im Wasser landen, die ausgehungerten Leute um die Wette schwimmen, bis die Schwächeren unter ihnen ersaufen. Offensichtlich eine grausame Farce.

Man debattiert hier auch darüber, ob britische Soldat:innen dazu eingesetzt werden sollen, die Lieferungen von dem Landungssteg, den die USA für Hilfslieferungen im Meer vor Gaza bauen, an Land zu fahren. Die USA weigern sich, dafür ihre eigenen Truppen zu riskieren, die britische Armee hat ebenfalls ihre Bedenken.

Ich könnte endlos weitererzählen, aber mein Punkt ist: Die Katastrophe Gaza ist hier ständig präsent, das Thema ist alles andere als abstrakt (und wenn hier jemand zynisch fragen sollte, warum ausgerechnet diese Katastrophe so viel mehr Aufmerksamkeit erhalte als etwa jene im Sudan, dann hätte die Antwort natürlich auch mit der direkten Involvierung Großbritanniens zu tun).

Titelseite von The Guardian mit der Überschrift: "'Fear and trepidation as 100,000 people flee Rafah bombardment"

Robert Rotifer

Das hier – Überschrift: „’Angst und Beklemmung’, als 100.000 Menschen vor der Bombardierung von Rafah fliehen“ – ist die Titelseite meiner gestrigen Zeitung, und seit mehr als einem halben Jahr sieht, je nach Intensität des Konflikts, jede zweite, dritte Titelseite so aus.

Ich frage mich, ob österreichische oder deutsche Menschen vielleicht versuchen könnten, sich in diesen Kontext hineinzuversetzen.

Ob sie tatsächlich die Arroganz besitzen, beim Blick zu mir über den Kanal automatisch nur Verblendete zu sehen. Oder ob sie es nicht doch als eine durchaus verständliche, völlig erwartbare Reaktion begreifen können, wenn junge britische Menschen mit empathischer Ader, ob jüdisch, muslimisch, christlich oder gar nichts, angesichts der endlosen, glaubhaften Berichte, die sie sehen und lesen, das undifferenzierte, dringende Bedürfnis empfinden, für einen Waffenstillstand demonstrieren zu gehen?

Und wenn etwa – um nur ein Beispiel von vielen zu nennen, von dem ich genau weiß, dass es Leute meiner Generation in Österreich und Deutschland befremden wird – sogar der alte Paul Weller neuerdings mit Palästinafahne auf dem Verstärker tourt?

„Warum aber“, höre ich nun die Stimme meiner österreichischen Timeline schon seit mehreren Absätzen fragen, „demonstrierten die dann nicht alle gegen die Hamas?“, und eine erste Antwort darauf findet sich zunächst einmal weiter oben. Es liegt gemeinhin in der Natur von Demonstrationen, dort anzusetzen, wo man mit der Linie der eigenen Regierung nicht einverstanden ist. In diesem Fall eben einer Regierung, die Waffen an Israel liefert.

Und wie das Beispiel der USA zeigt, die die Anlieferung von 900-Kilogramm-Bomben an Israel ausgesetzt haben, können Proteste möglicherweise doch auch Wirkung zeigen. Präsident Biden will wiedergewählt werden, und für Keir Starmer als Labour-Chef gilt angesichts der kommenden Unterhauswahlen Ähnliches. Ein Interview mit dem Radiosender LBC vom letzten Oktober, in dem Starmer Israel das Recht zusprach, der Bevölkerung von Gaza als Kriegsmittel Strom und Wasser zu entziehen, wurde erst gestern Abend in der Diskussionssendung „BBC Question Time“ wieder zur Sprache gebracht und wird Labour viele Stimmen kosten. Neuerdings rudert Starmer zurück, auch Labour fordert nun einen sofortigen Waffenstillstand.

Natürlich muss ich auch daran denken, wie es wohl in Österreich oder Deutschland ankäme, wenn ich in der Londoner Gratistageszeitung Metro den Kommentar einer Conchita Wurst verehrenden Drag Queen lese, die so wie offenbar die Mehrzahl der britischen LGBTQ-Veranstalter:innen ihren diesjährigen Eurovision-Live-Streaming-Event abgesagt hat. Wie sie in ihrer Verurteilung von mutmaßlichem „Pinkwashing“ Israels mit dem Genozidbegriff um sich wirft und sich dabei - undenkbar im deutschsprachigen Medienmainstream - auf die per kontroversem deutschem Bundestagsbeschluss als antisemitisch eingestufte Boykottbewegung BDS beruft.

Aber ich sagte es ja eingangs schon: Mein Hirn platzt, denn im selben Moment, wo jene Drag Queen direkt nach der Übertragung des Eurovision-Semifinales in der „BBC Newsnight“ interviewt wird, spült der österreichische X-Twitter mir ausgesuchte Mitschnitte von der Demo in Wien zu, und ich bekomme den Eindruck, der propalästinensische Terrorismus stehe vor der Tür.

Als jemand, der nicht dabei war, will ich das auf keinen Fall relativieren, aber was viele meiner Altersgenoss:innen aus der eigenen Jugend vergessen zu haben scheinen, die daraufhin Verbote und hartes Einschreiten fordern:

Verbote oder Prügel haben noch nie jemand überzeugt, schon gar nicht von der Integrität eines demokratischen Systems. Es wird einem nicht erspart bleiben, einer Glorifizierung der Hamas, wo sie besteht, nicht einfach durch bloße Verurteilung, sondern am besten mit Evidenz ihrer Gewalt, auch gegenüber der eigenen Bevölkerung entgegenzutreten und mit den protestierenden Student:innen ernsthaft und eingehend zu debattieren. Und nein, das wird sicher nicht leicht (mein Hamburger Freund G, ein alter Linker, meint, es sei leider nicht möglich, aber ich glaube, er unterschätzt sich).

Wo es den Algorithmen in den Kram passt, springen Inhalte schnell über geographische Distanzen

Allerdings machte es mich schon auch stutzig, dass in jüngerer Vergangenheit mit dem Zunehmen der Proteste an amerikanischen Unis auf meiner deutschsprachigen Timeline derartig viele Menschen, die nie Interesse am dortigen Diskurs über Israel/Palästina gezeigt hatten, plötzlich so gut über Vorgänge an der Columbia University oder UCLA Bescheid zu wissen schienen.

Und dass dieselben Leute, die ich teils als linksliberale Geister kenne, gleichzeitig so gar nichts von den gewalttätigen Übergriffen proisraelischer Gegendemonstrant:innen mitzubekommen schienen, die ich wiederum auf der englischsprachigen Seite meiner Timeline bzw. in britischen Medien zu sehen bekam.

Dafür begannen in meiner deutschsprachigen Bubble umso mehr bedenklich manipulative Posts und Memes mir bekannter rechter Agitator:innen aus dem angloamerikanischen Raum zu kursieren.

Die Erklärung für diese Dynamik ist natürlich dieselbe wie jene dafür, warum umgekehrt auch so vieles, was ich vom Protestcamp in Wien gehört habe, zumindest aus der Ferne vom amerikanischen Beispiel inspiriert zu sein scheint: Da, wo es den Algorithmen in den Kram passt, funktioniert der schnelle Sprung von Inhalten über geographische Distanzen in der Onlinewelt, zumindest von der anglophonen Richtung her, ganz reibungslos.

Aber was mich angesichts all dessen schon interessiert: Wann beginnen eigentlich auch jene, die der Jugend vorwerfen, sie ließe sich instrumentalisieren, in Frage zu stellen, was in ihren eigenen Informationsstrom fließt? Was man verstärkt, und wo das wirklich herkommt?

Und kommt, wenn einmal schon die Chefin des Welternährungsprogramms der UNO eine „full-blown“ Hungersnot feststellt, nicht auch irgendwann der Punkt, wo sich die Prioritäten ihrer eigenen Empörung ändern könnte? Ein bisschen so wie damals beim Irakkrieg vielleicht?

Wo zigtausende Menschenleben – darunter nicht zuletzt die immer noch lebenden israelischen Geiseln der Hamas – irgendwann ein wichtigeres Thema werden als ein weiterer Punktesieg gegen die Wokies in der Arena der sozialen Medien?

Ein Punkt also, wo selbst die größten proisraelischen Kampfposter:innen einmal sagen könnten: Hier endet nun meine Loyalität zur Politik einer rechtsextremen israelischen Regierung.

Ich verurteile antisemitische Slogans von propalästinensischen Demonstrant:innen auf das Schärfste, sie stoßen mich ab, und wir dürfen so etwas nicht zulassen. Aber ich teile, so wie auch die Israelis, die täglich dafür demonstrieren, den Wunsch nach einem Waffenstillstand in Gaza.

Und dafür (hier beginne ich zu träumen), sowie gegen jede Vereinnahmung – weder von der heimischen Rechten noch vom Islamismus –, sollte man gemeinsam Stellung beziehen.

Die selektive Kante gegen rechts

Denn wenn jetzt, angesichts der Lage im Trümmerhaufen Gaza jemand noch dezidiert gegen einen solchen Waffenstillstand eintritt, sollte sie:er nicht zumindest auch erklären müssen, wie sie:er sich eine Zukunft für die hunderttausenden ausgebombten Menschen im großteils auf Jahrzehnte unbewohnbar gemachten Gazastreifen vorstellt? Wäre das nicht das Allermindeste an Anstand? Wie viel Menschlichkeit kann man sich versagen, bis man dabei das eigene Menschsein verliert?

Am Donnerstag interviewte der Moderator Krishnan Guru-Murthy in den „Channel Four News“ den israelischen Ex-Premier Ehud Olmert und sprach ihn darauf an, dass der extremistische israelische Sicherheitsminister Ben Gvir den Satz „Hamas ❤️ Biden“ gepostet hatte.

„Die größte Bedrohung der Sicherheit des Staates Israels sind Ben Gvir und seine Unterstützer:innen“, sagte Olmert, „Ich habe keine Angst vor Hamas. Hamas ist ein Feind von außen. Ben Gvir, Smotrich und ihre Anhänger:innen sind eine Bedrohung der moralischen Grundfesten Israels von innen.“

Ich würde mich hier selbst ein Stück noch hinauslehnen und hinzufügen, was ich meinen Verwandten in Israel schon vor Monaten schrieb: Die größte von Europa ausgehende Bedrohung der Sicherheit Israels sind nicht seine Kritiker:innen in der jungen Linken, sondern seine falschen Freund:innen auf der extremen Rechten.

Denn das unübersehbare Paradoxon ist ja, dass gerade in Österreich und Deutschland, wo die Leute in Sachen Loyalität zu einer ethnonationalistischen israelischen Regierung so entschlossen auf „stabil“ machen, die (traditionell rassistische und antisemitische) Rechte in den Umfragen so besonders weit vorne liegt.

Könnte das möglicherweise damit zu tun haben, dass diese bedingungslose Solidarität die ethnonationalistischen Prinzipien jener israelischen Regierung legitimiert („Es gibt keine Unschuldigen in Gaza“, „Wir kämpfen hier dafür, dass bei euch nicht dasselbe passiert“)?

Ich glaube ja, das ist ziemlich genau, was der israelische Philosoph Omri Boehm meinte, als er in seiner Rede an Europa am Wiener Judenplatz rhetorisch fragte (meine Übersetzung): „Wie wirkt sich die Erlaubnis einer totalen Kriegslogik in Israel und Palästina auf Europas eigene jüdische, Europas eigene muslimische, palästinensische Bürger:innen aus? Spielt das nicht dem Argument der populistischen, nationalistischen Rechten in die Hände, die überall rund um uns im Aufstieg begriffen ist? Die nationale Souveränität geltend machen, internationales Recht streitig machen und erneut ethnische Zugehörigkeit zur Grundlage des Bürgerrechts machen will?“

Darüber wird man – vor dem zu erwartenden Rechtsruck der kommenden Europawahlen - tatsächlich dringend und ernsthaft sprechen müssen. Wer glaubwürdig „harte Kante gegen rechts“ zeigen will, kann dabei nicht selektiv sein, auch nicht bei Israel.

Einstweilen gilt es aber auch, Millionen Menschen vor dem Verhungern, vor Seuchen und Bomben bzw. aus der Geiselhaft zu retten. Ich hoffe, darauf kann man sich noch einigen.

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