BMF-Monatsbericht September 2019 - Die Erzbergersche Finanzreform 1919/1920

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    Die Erz­ber­ger­sche Fi­nanz­re­form 1919/1920

    • Die auf den damaligen Finanzminister Matthias Erzberger zurückgehende Reichsfinanzreform führte zu einer grundlegenden Neuordnung in der Finanzverwaltung.
    • Die mit der Reform einhergehende Zentralisierung bedeutete einen tiefen Einschnitt in den bis dahin traditionell stark ausgeprägten Föderalismus in Deutschland.
    • Viele der damals eingeführten Prinzipien prägen das deutsche Steuerrecht bis heute.

    Einleitung

    Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs stand das Deutsche Reich auch finanziell am Rande des Ruins. Reparationszahlungen und Kriegsanleihen sowie die ökonomischen Folgen des Kriegs führten zu einer Vervielfachung der Staatsschulden im Vergleich zum Vorkriegsniveau. Zudem bereiteten eine Zerstückelung des Steuerrechts zwischen den Ländern sowie Steuerflucht in erheblichem Umfang Probleme. Nach den Unruhen im November 1918 und der Ausrufung der Weimarer Republik sah sich insbesondere der im Juni 1919 ernannte Finanzminister Matthias Erzberger der Herausforderung gegenüber, binnen kurzer Zeit eine handlungsfähige, moderne Finanzverwaltung zu etablieren und ein Steuersystem zu schaffen, das diesen gewachsenen Anforderungen gerecht werden konnte.

    Matthias Erzberger (1875 bis 1921)

    war ab 1903 Reichstagsabgeordneter (Deutsche Zentrumspartei). Als Leiter der deutschen Waffenstillstandskommission war er einer der Unterzeichner des Waffenstillstands von Compiègne. Im Januar 1919 wurde er in die verfassungsgebende Weimarer Nationalversammlung gewählt. Von Juni 1919 bis März 1920 war Erzberger Reichsfinanzminister und zeitweise Vizekanzler im Kabinett Gustav Bauers. Neben der Neuorganisation in Form einer Zentralisierung der Finanzverwaltung beinhalteten die unter seiner Ägide durchgeführten umfassenden Reformen auch die Einführung eines modernen einheitlichen Steuerrechts in Form der Reichsabgabenordnung, deren Grundsätze bis heute fortwirken. 1921 wurde er von rechtsnationalen Gegnern der Weimarer Republik ermordet.

    Zentrale Inhalte der Reform

    Bis zum Jahr 1918 hatte sich das Deutsche Reich neben den Beiträgen der Länder im Wesentlichen durch Zölle finanziert. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verpflichteten die Siegermächte das Deutsche Reich dazu, Zölle zu reduzieren, um ausländischen Unternehmen den Zugang zum deutschen Markt zu erleichtern. Die geringeren Zolleinnahmen reichten in der Folge nicht mehr zur Generierung ausreichender Staatseinnahmen. Dieses Einnahmendefizit auszugleichen, war ein Hauptanliegen der Erzbergerschen Reform. Das insgesamt 16 Einzelgesetze umfassende Paket, von besonderer Bedeutung hierbei die Reform der Reichsabgabenordnung, führte in drei großen Bereichen zu tiefgreifenden Veränderungen.

    Neues Steuersystem

    Lag die Finanzhoheit infolge der Reichsgründung 1871 bei den Ländern, so sorgte die neue Reichsabgabenordnung als Mantelgesetz für eine deutschlandweit einheitliche Besteuerung. Sie ging maßgeblich auf die Arbeit des Staatssekretärs Enno Becker zurück und gilt bis heute als Grundlage des steuerlichen Verfahrensrechts. Zentraler Bestandteil war aber die Reform der Einkommensteuer, die eine drastische Aufwertung erfuhr und eine bedeutende Einnahmequelle für die Weimarer Republik wurde. Auch die Einführung der Umsatzsteuer, der Kapitalertragsteuer sowie der direkte Lohnsteuerabzug gehen auf die Reform von 1919 zurück.

    Grundzüge der neuen Einkommensteuer

    Bereits mit dem preußischen Einkommensteuergesetz vom 24. Juni 1891 wurde mit der allgemeinen Einkommensteuer erstmals ein grundsätzlich progressiver Einkommensteuertarif eingeführt. Dieser sah damals ein steuerfreies Existenzminimum von 900 Mark und in absoluten Beträgen gestufte Steuersätze vor. Als sogenannter Höchststeuersatz stieg die Steuer bei Einkommen über 105.000 Mark in Stufen von 5.000 Mark um je 200 Mark.

    Progressiver Einkommensteuertarif

    Ein progressiver Tarif bewirkt, dass der Steuerbetrag infolge der steigenden Grenzsteuersätze relativ stärker zunimmt als die Steuerbemessungsgrundlage. Im Ergebnis führt dies zu einem Anstieg des Durchschnittssteuersatzes, wenn das zu versteuernde Einkommen steigt.

    Das im Rahmen der Erzbergerschen Finanzreformen geschaffene Einkommensteuergesetz vom 29. März 1920 (EStG 19201) sah darüber hinaus insbesondere folgende Regelungen vor: Neben zahlreichen steuerfrei zu stellenden Einkommensbestandteilen wurde erstmals eine Haushaltsbesteuerung eingeführt, bei der nicht nur die Einkommen der Eheleute, sondern auch die zum Haushalt zählenden minderjährigen Kinder erfasst wurden. Der Steuertarif war als Stufensatztarif mit deutlich progressivem Verlauf gestaltet. Die Steuerbemessungsgrundlage (steuerpflichtiges Einkommen) wurde in Teilmengen (Stufen) unterteilt, bei deren Erreichen der Grenzsteuersatz um jeweils 1 Prozentpunkt stieg (sogenannter Stufengrenzsatztarif). Oberhalb eines steuerfreien Existenzminimums von 1.500 Mark betrug der Grenzsteuersatz für die ersten angefangenen oder vollen 1.000 Mark 10 %. Er stieg in größer werdenden Schritten jeweils um 1 % zunächst in 1.000-Mark-Schritten an,

    • ab einem steuerpflichtigen Einkommen von 15.000 Mark in 2.000-Mark-Schritten,
    • ab 35.000 Mark in 3.000-Mark-Schritten,
    • ab 40.000 Mark in 5.000-Mark-Schritten,
    • ab 90.000 Mark in 10.000-Mark-Schritten,
    • ab 140.000 Mark in 20.000-Mark-Schritten,
    • ab 200.000 Mark in 30.000-Mark-Schritten,
    • ab 260.000 Mark in 40.000-Mark-Schritten und
    • ab 400.000 Mark in 50.000-Mark-Schritten an.
    • Der Spitzensteuersatz von 60 % war schließlich ab einem steuerpflichtigen Einkommen von 500.000 Mark erreicht.

    Die Progression des Tarifs ging also immer vom Einkommenszuwachs aus: Der jeweilige Zuwachs war bis zum Erreichen des Spitzensteuersatzes stets stärker getroffen als das vorhergehende Grundeinkommen.

    Diese Grundstruktur ist auch heute noch im Einkommensteuertarif erhalten, allerdings ist der Höchststeuersatz deutlich abgesenkt worden.

    Nach dem derzeitigen Tarif (Stand 2019) wird ein Grundfreibetrag von 9.168 € steuerfrei gestellt; der Eingangssteuersatz beträgt 14 %. Für über dem Grundfreibetrag liegende zu versteuernde Einkommen steigt der Grenzsteuersatz bis auf knapp 24 % bei einem zu versteuernden Einkommen von 14.254 € und erhöht sich dann weiter bis auf 42 % bei einem zu versteuernden Einkommen von 55.960 €. Darüberliegende Teile des zu versteuernden Einkommens werden bis zu 270.500 € mit 42 %, anschließend mit 45 % besteuert.

    Verfassungsrechtliche Flankierung

    Die parallel entstandene Weimarer Reichsverfassung trug dem Bestreben Rechnung, das Reich zum dominanten Akteur im Bereich der Steuergesetzgebung zu machen, sodass es als Gesetzgeber in besonderem Maße über Gestaltungsfreiheit verfügte. Die Verfassung beschränkte sich dann auch auf einen grundlegenden Artikel zur Gesetzgebung über die „Abgaben und sonstigen Einnahmen“, verbunden mit einem sehr allgemeinen Schutz der Länderinteressen (Art. 8). Dies wurde ergänzt durch die ausschließliche Gesetzgebungs- und Ertragskompetenz des Reichs im Münz-, Zoll-, Post- und Telegrafenwesen (Art. 6 Nr. 5, Nr. 6 und Nr. 7) sowie durch eine Gesetzgebungskompetenz des Reichs zu Grundsätzen über die Zulässigkeit und Erhebungsart von Landesabgaben (Art. 11).

    Zentralisierung der Finanzverwaltung

    Zur effektiven Durchsetzung des neuen Steuerrechts baute Erzberger – basierend auf 26 Landesfinanzämtern, etwa 200 Hauptzollämtern und circa 1.000 Finanzämtern – eine unmittelbar dem Reichsfinanzministerium unterstellte Finanzverwaltung auf. Diese umfasste nach intensiven Einstellungs- und Ausbildungsmaßnahmen bald 30.000 spezialisierte Beamte und löste das überkommene, auf den Regeln des Deutschen Zollvereins basierende System der eigenständigen kommunalen Finanzverwaltung ab. Der Minister selbst sprach in diesem Zusammenhang vor der Nationalversammlung vom „neben der Verabschiedung der Reichsverfassung […] wichtigste[n] Schritt auf dem Wege […] ein neues, starkes Deutsches Reich zu bilden“.2

    Neuordnung der Finanzbeziehungen

    Nachdem der Zentralstaat nicht länger auf die sogenannten Matrikularbeiträge der Länder angewiesen war, führte Erzberger als Kompensation für den Verlust der Steuerhoheit einen vertikalen Finanzausgleich zwischen dem Reich und seinen Gliedstaaten ein. Das nunmehr über das Gros der Steuerkompetenzen und -einnahmen verfügende Reich beteiligte die Länder in erheblichem Umfang an den durch die neuen Reichssteuern gebildeten Mitteln. Diese Regelungen waren den einfachen Reichsgesetzen vorbehalten, die insoweit an keine verfassungsrechtlichen Garantien zugunsten der Länder gebunden waren. Lediglich die Erhebung von Steuern „vom Grundvermögen“ und „vom Gewerbebetriebe“ wurde den Ländern unter Auflagen gestattet.3 Schließlich enthielt das Landessteuergesetz eine wenig verbindliche Aussage zur Lastenverteilung zwischen Reich, Ländern und Gemeinden: Die Höhe der Beteiligung des Reichs blieb auffällig offen, insoweit bot die Regelung den Ländern wenig Schutz vor finanziellen Lasten.

    Als Matrikularbeiträge

    bezeichnet man allgemein Umlagen, die von Gliedstaaten eines Bundesstaats (oder auch eines Staatenbunds) an den Zentralstaat geleistet werden. Bereits im „Heiligen Römischen Reich“ hatten die Reichsstände ihren Anteil an den Kriegsausgaben nach der sogenannten Reichsmatrikel zu tragen. Auch das deutsche Kaiserreich finanzierte sich hauptsächlich durch Matrikularbeiträge, denen die Einwohnerzahl der Länder zugrunde lag. Deshalb hieß es auch, das Reich sei „Kostgänger der Länder“.

    Nachwirkungen

    Auch wenn die Erzbergersche Finanzreform die Hyperinflation der Jahre 1922/1923 nicht verhindern und keine langfristige Sanierung des Staatshaushalts herbeiführen konnte, leistete sie dennoch, insbesondere wegen des erfolgreichen Aufbaus einer effizienten reichsweiten Verwaltung, einen Beitrag zur Stabilisierung der Weimarer Demokratie. In Abgrenzung zur Weimarer Reichsverfassung entfaltet das Grundgesetz eine ungleich höhere Regelungsdichte in Bezug auf das Verhältnis von Bund und Ländern im Bereich des Finanzwesens (Art. 104a ff.). Damit verbunden ist eine verfassungsrechtlich festgeschriebene Verteilung der steuerbezogenen Gesetzgebungs-, Ertrags- und Verwaltungskompetenzen auf Bund, Länder und Gemeinden (Art. 105 f.). Ferner trifft das Grundgesetz Regelungen zur Aufteilung der Lasten zwischen Bund und Ländern (insbesondere Art. 104a) und zum Finanzausgleich (insbesondere Art. 107). Trotz dieser Abmilderung des rein zentralistisch ausgerichteten Ansatzes darf die Reform von 1919/1920 als Jahrhundertreform des deutschen Steuerrechts gelten, angesichts der auch 100 Jahre später noch spürbaren Veränderungen – sowohl der fundamentalen Neuordnung der Bund-Länder-Beziehungen als auch der Entwicklung hin zu einem System bundesweit einheitlicher Besitzsteuern. In Würdigung dieser Leistung trägt der repräsentativste Saal im BMF seit dem 26. August 2011 deshalb den Namen „Matthias-Erzberger-Saal“.

    Fußnoten

    1
    Reichsgesetzblatt (RGBl.) 1920, I. Halbjahr, Nr. 7378, S. 359 bis 378.
    2
    Rede vom 12. August 1919 vor der Nationalversammlung, Protokoll S. 2378.
    3
    §§ 8 ff. Landessteuergesetz vom 30. März 1920, RGBl. 1920, I. Halbjahr, Nr. 7389, S. 402 bis 416.

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