Die Mär von Ilja Muromez

Das war in der Stadt Muron, im Dorf Karatscha-rowo. Da lebte einmal ein Bauer namens Iwan Timofejewitsch mit seiner Gemahlin Jefrossinja Jakowlewna. Sie hatten fünfzig Jahre miteinander gelebt, aber Kinder hatten sie nicht.
Oft waren die Alten traurig, daß niemand da war, im Alter für sie zu sorgen.
Endlich wurde ihnen ein Sohn geschenkt. Sie gaben ihm den Namen Ilja.
Und sie leben nun mit ihrem Sohn Ilja, leben und können sich gar nicht genug freuen.
Es verging ein Jahr, es verging ein zweites. Da erlebten die Alten einen großen Kummer: der Sohn müßte anfangen zu laufen, aber er sitzt da wie ein Klotz. Seine Beine waren wie Stricke: die Arme gebraucht er, aber die Beine kann er auf keine Weise bewegen.
Es verging ein drittes Jahr, aber mit Ilja wurde es nicht im geringsten besser. Die Beine sind wie Stricke, bewegen sich überhaupt nicht.
Die Alten jammerten noch mehr: haben einen Sohn, aber er ist zu nichts zu gebrauchen – sie müssen für ihn sorgen.
Und Ilja lebte lange Zeit als ein solcher Klotz und konnte kein Bein bewegen.
Dreißig Jahre hatte er so gelebt. Und da mußte Iwan Timofejewitsch eines schönen Tages Stub-ben roden, um Weizen säen zu können.
Die Alten gingen in die Wälder und ließen Ilja allein im Hause zurück. Ilja war das schon ge-wöhnt – dazusitzen und das Haus zu bewachen.
Es war ein sehr heißer Tag. Ilja sitzt schweiß-gebadet da. Und auf einmal hört er – jemand ist ans Fenster getreten und klopft ans Fenster.
Irgendwie reckte sich Ilja Muromez in die Höhe, öffnete das Fenster und sieht – zwei Wanderer stehen da, beide sehr alt.
Ilja betrachtete sie und sagt:
„Was wollt ihr, Wanderer?“
Und sie sagen:
„Gib uns doch etwas Hopfenbier zu trinken. Wir wissen, du hast Hopfenbier im Keller. Und bring uns eine Schale, anderthalb Eimer11 groß!“
Ilja gibt ihnen zur Antwort:
„Ich würde euch ja gern Hopfenbier bringen, aber ich kann nicht laufen: meine Beine können nicht gehen.“
Und sie sagen:
„Laß das, Ilja, uns zu belügen! Erst versuch’s, und dann rede!“
Ilja bewegte das eine Bein – es läßt sich bewe-gen. Er bewegte das andere – es läßt sich bewe-gen. Er sprang von der Bank, ergriff eine Schale von anderthalb Eimern und rannte, als hätte er schon immer rennen können, in des Vaters tiefen Keller. Ließ aus dem Faß die Schale vollaufen, bringt sie den Greisen und sagt zu ihnen:
„Nehmt und laßt’s euch wohl bekommen, Wan-derer. Ich freue mich sehr – ihr habt mich laufen gelehrt.“
Und sie sagen:
„Komm, Ilja, trink zuerst selber.“
Ilja Muromez widersprach nicht, ergreift die Schale von anderthalb Eimern und trinkt sie auf der Stelle in einem Zug aus.
„Und jetzt, wackerer Held, Ilja Muromez, sage, wieviel Kraft fühlst du in dir?“
„Ich fühle sehr viel Kraft in mir“, antwortet Ilja. „Kraft genug!“
Die Greise beratschlagten miteinander und sa-gen:
„Nein, es ist doch noch zu wenig Kraft. Geh, Il-ja, und bring noch eine Schale!“
Ilja ergriff die Schale von anderthalb Eimern und stürzte davon in seinen Keller. Ließ die zweite Schale vollaufen und bringt sie den Greisen. Er wollte sie ihnen reichen, da sagen sie:
„Nun, wackerer Held, trink selber!“
Ilja Muromez widersprach nicht, nimmt die Schale und trinkt sie in einem Zug aus.
„Und nun, Ilja, kühner Recke, sage, fühlst du viel Kraft in dir?“
Und er antwortet den Wanderern:
„Ach, viel Kraft fühle ich!“
„Und wie mißt du die Kraft?“
„Nun, wenn eine Säule am Himmel wäre, und an dieser Säule wäre ein Ring – ich ergriffe diesen Ring und würde das ganze russische Land um und umkehren.“
Die Wanderer beratschlagten miteinander und sagen:
„Ach nein, zuviel Kraft haben wir ihm gegeben. Es könnte nichts schaden, etwas wegzunehmen. Ilja! Lauf in den Keller, bring noch eine Schale von anderthalb Eimern.“
Ilja widersprach nicht und lief sogleich in den Keller. Als er die Schale brachte, sagen die Grei-se:
„Nun, Ilja Muromez, trink zuerst selber.“
Ilja Muromez widerspricht nicht und trinkt die Schale aus.
Als er ausgetrunken hatte, fragen die Wanderer wieder:
„Nun, kühner Recke, sage, fühlst du viel Kraft in dir?“
Da antwortet Ilja Muromez wie folgt:
„Ich fühle – meine Kraft hat um die Hälfte ab-genommen.“
Da beratschlagten die Wanderer miteinander und sagen:
„Das ist genug Kraft für dich, Ilja Muromez.“
Und sie schicken ihn nicht mehr nach Hopfen-bier, sondern sprachen zu ihm wie folgt:
„Höre, wackerer Held, Ilja Muromez! Wir haben dir Beine gegeben, wir haben dir Reckenkraft ge-geben – nichts hindert dich, durchs russische Land zu reiten. Aber merke dir: Kränke nicht die Schutzlosen, sondern schlage den Dieb und Räu-ber, und kämpfe nicht gegen das Geschlecht Mi-kulow: die kühle Mutter Erde liebt es. Und kämpfe auch nicht gegen Swjatogor den Recken: ihn trägt die kühle Mutter Erde nur mit Mühe. Und jetzt, Ilja Muromez, brauchst du ein Reckenpferd. Aber das Reckenpferd mußt du dir selbst heranziehen, weil die Pferde dich nicht ertragen.“
„Und wo kann ich ein solches Pferd bekommen, das mich erträgt?“ sagt Ilja Muromez.
„Wir werden’s dich gleich lehren. An eurem Haus wird eines schönen Tages ein Bauer ein grindiges, jämmerliches Füllen am Halfter vorbei-führen, um es zu erschlagen. Du aber laß es nicht aus den Augen und erbitte von dem Bauern dieses Füllen, stell’s in den Stall und füttre’s mit Weizen. Und führe es jeden Morgen hinaus in den Tau – soll es sich im Tau wälzen. Und wenn es drei Jah-re alt ist, dann führ’s hinaus aufs Feld und lehre es, über große Gräben und über hohe Zäune springen!“
Ilja Muromez hörte das alles aufmerksam an und wollte sich kein einziges Wort entgehen las-sen.
„Nun“, sagen die Wanderer, „was wir wußten, haben wir alles gesagt. Denke daran, die Schutz-losen sollst du nicht kränken, den Dieb und Räu-ber nicht laufen lassen. Und denke daran, dir ist vom Schicksal beschieden – getötet kannst du nicht werden. Du wirst eines natürlichen Todes sterben.“
Ilja Muromez dankte ihnen, lud sie ein, etwas zu essen, doch sie schlugen alles ab und gingen fort.
Er blieb mutterseelenallein zurück und wollte nach Vater und Mutter sehen, ihnen bei der Arbeit helfen. Er kommt zum Vater, aber dort sind nach der schweren Arbeit alle eingeschlafen. Er wollte sein Beil versuchen und begann Holz zu schlagen. Jedesmal, wenn er mit dem Beil zugeschlagen hatte, fuhr es bis zum Beilrücken hinein. Ilja hatte Riesenkräfte. Ilja Muromez fällte den Wald und schlug das Beil in einen Baumstumpf. Und das Beil verschwand bis zum Beilrücken. Da schlug er nacheinander alle Beile in Baumstümpfe und ver-steckte sich dann hinter einem Baum. Als die Männer ausgeruht hatten und kamen, wollten sie ihre Beile nehmen, aber wie sehr sie auch zogen, sie konnten sie aus den Baumstümpfen nicht he-rausziehen. Er hatte sie vielleicht nur so zum Scherz hineingeschlagen, die Beile, aber er hatte eben zu viel Kraft. Ilja sieht, sie schaffen es nicht, kam aus seinem Versteck hervor und geht zu Va-ter und Mutter. Und die trauen ihren Augen nicht: Muromez war ein Krüppel und ist gesund gewor-den.
Ilja Muromez zog alle Beile heraus und begann den Eltern zur Hand zu gehen.
Der Vater kann sich gar nicht genug freuen, wie er ihn arbeiten sieht.
Sie beendeten die Arbeit, kamen nach Hause und lebten von nun an zufrieden.
Doch Ilja Muromez paßte immer auf, wann der Bauer das grindige Füllen vorbeiführt. Und einmal sieht er – richtig, der Bauer kommt.
Ilja läuft hinaus und fragt:
„Wohin führst du das Füllen?“
Und er antwortet:
„Es ist sehr schlecht geraten, ich muß es er-schlagen.“
Da bat Ilja Muromez den Bauer dringend, er solle ihm das Füllen abtreten, es nicht erschlagen. Und der Bauer fragt:
„Was willst du mit einem solchen Füllen, ein so starker Held? Es ist nicht einmal für einen Bauern zu gebrauchen.“
Ilja Muromez ließ nicht nach und bat wieder:
„Verkauf mir das Füllen!“
Der Bauer trat Ilja Muromez das Füllen ab und nahm von Ilja nicht einmal irgendeine Bezahlung.
Ilja Muromez führte das Füllen nach Hause, stellte es in den Stall und begann es zu tränken und zu füttern, wie die Wanderer ihn gelehrt hat-ten.
Bald machte sich Ilja Muromez’ Pflege an dem Füllen bemerkbar, und es begann sehr schnell zu wachsen. Und als es drei Jahre alt war, war es ein starkes Pferd geworden. Ilja Muromez führte es nun aufs freie Feld und lehrte es, über breite Grä-ben, Schluchten und Zäune zu springen. Und er wunderte sich selber, wie stark und tüchtig sein Pferd war.
Nun suchte er sich einen Panzer, auch einen Köcher mit Pfeilen, einen straffen Bogen und ein Schwert. Was immer er haben wollte, er fand alles nach seiner Stärke. Und als alles fertig war, ging Ilja Muromez zu Vater und Mutter und sagt:
„Teuerster Vater Iwan Timofejewitsch, teuerste Mutter Jefrossinja Jakowlewna! Schon lange wollte ich die weite Welt durchstreifen, mir die Menschen ansehen und mich hervortun! Segnet mich, ich reite!“
„Und wohin willst du reiten?“ fragt ihn der Va-ter.
„In die Thronstadt Kiew, dem Fürsten Wladimir-Strahlende-Sonne zu dienen.“
Vater und Mutter jammerten:
„Ach, lieber Sohn, wir haben geglaubt, dich uns zum Trost aufzuziehen. Aber wir sehen – den Fal-ken kann man nicht im engen Käfig zurückhalten. Da läßt sich nichts machen, reite zum Fürsten Wladimir und denke daran, tritt ein für die Schwa-chen, kränke nicht die Schutzlosen und schlage den Dieb und Räuber!“
Ilja Muromez legte den Reckenpanzer an, setzte den gefiederten Helm auf und gürtete sich mit dem Schwert. Darauf sattelte er sein Pferd, stieg auf und ritt davon.
Er ritt und ritt und kam zur Stadt Tschernigow. Er sieht und traut seinen Augen nicht: rings um die Stadt Tschernigow steht ein unübersehbares Heer. Drei Zarewitsche der Ungläubigen waren vor die Stadt Tschernigow gezogen, und jeder Za-rewitsch hatte dreihunderttausend Mann.
Ilja Muromez sah – die Stadt ist eingeschlossen, und die Männer von Tschernigow werden durch die Ungläubigen mit dem Hungertod be-droht. Ilja hatte Mitleid mit den Männern von Tschernigow. Straffer zog er seinen Sattel an, er-griff das stählerne Schwert und fiel wie ein Sturm-wind über die ungläubigen Feinde her. Er hieb auf sie ein, so schnell, als haue er Gras. Sie sehen – die Kräfte sind ungleich, und stürzten sich in die Flucht. Der eine hierhin, der andere dorthin flohen sie durcheinander.
Von der Mauer aus sehen Tschernigows Männer – irgendein Recke hat sich auf ihre Seite geschla-gen. Ilja aber fand keinen mehr, den er nieder-hauen konnte. Er ritt zu den weißen Leinenzelten – da stehen die drei Zarewitsche der Ungläubigen, mehr tot als lebendig, bleich wie Leinen und zit-tern wie Espenlaub. Ilja ritt zu ihnen – sie fielen auf die Knie und baten um Gnade. Da sprach Ilja Muromez zu ihnen wie folgt:
„Warum bedroht ihr die Männer? Wäret ihr äl-ter, ich schlüge euch die übermütigen Häupter ab. Aber ihr seid gar zu jung! Kehrt heim und sagt euren Eltern: noch gibt es in Rußland Männer, für die russische Erde zu kämpfen.“
Er nahm ihnen einen Eid ab, daß sie nie mehr gegen das russische Land reiten wollten. Und sie waren froh, daß sie begnadigt wurden, bestiegen ihre Pferde und machten sich aus dem Staube, ihrem Heere nach.
Es sahen all dies von den Stadtmauern aus die Männer von Tschernigow. Sie sehen – sie sind frei. Sie öffnen die Tore, bringen dem Recken die Schlüssel auf goldenem Teller und bieten ihm an, was er will.
Doch Ilja Muromez war nicht gierig auf Schätze: alle diese schlug er ab.
Tschernigows Männer baten ihn, zu ihnen zu kommen und mit ihnen zu sprechen.
Aber auch das schlug Ilja Muromez ab, weil sei-ne Seele sich nach Weite sehnte.
Da fragen die Männer von Tschernigow:
„Wohin reitest du, kühner Recke?“
„Ich reite in die Thronstadt Kiew“, sagt Ilja Mu-romez, „zum Fürsten Wladimir-Strahlende-Sonne.“
Und Tschernigows Männer sagen:
„Höre, reite nicht den geraden Weg!“
„Und warum soll ich nicht den geraden Weg rei-ten?“
„Weil hier seit langem Nachtigall der Räuber im Hinterhalt liegt. Er tötet nicht mit der Kraft der Waffe, sondern mit seinen verwegenen Pfeilen. Wenn er brüllt wie ein Tier und zischt wie eine Schlange, dann stürzen alle Menschen zu Boden.“
Da verabschiedete sich Ilja Muromez von den Männern und ritt den geraden Weg, beachtete nicht, was sie ihm gesagt hatten.
Er reitet seinen Weg und hält immer Ausschau, wo des Räubers Nachtigall Hof ist.
Auf einmal sieht er zwölf Eichen stehen, die Wipfel zu einem verflochten. Und ihre Wurzeln sind mit dickem Eisen beschlagen. Noch war Ilja drei Werst entfernt, da hörte er auf einmal das Pfeifen einer Nachtigall, das Brüllen eines Tieres, und all das wurde überdeckt vom Zischen einer Schlange. Und von diesem Pfeifen der Nachtigall, diesem Brüllen des Tieres und diesem Zischen der Schlange stürzte Ilja Muromez’ Pferd auf die vor-deren Knie.
Da sagt Ilja Muromez zu seinem Pferd:
„Warum stürzt du auf die Knie, flinkes Roß? Bist du denn noch nicht geritten durch die Wälder, die tiefen? Hast du denn noch nicht gehört das Brül-len des Tieres? Hast du denn noch nicht gehört das Zischen der Schlange? Hast du denn noch nicht gehört das Pfeifen der Nachtigall?“
Das Pferd schämte sich vor seinem Herrn und erhob sich auf die flinken Beine. Und Ilja Muromez nimmt seinen stählernen Bogen von der Schulter, legt einen stählernen Pfeil auf die Sehne und schießt ihn auf Nachtigall den Räuber. Aufstieg der Pfeil und traf Nachtigall den Räuber gerade ins rechte Auge, so, daß Nachtigall der Räuber aus seinem Nest herausflog wie eine Garbe Hafer.
Ilja Muromez ritt zu Nachtigall dem Räuber, packte ihn und band ihn an seinen Steigbügel. Und ritt weiter.
Er mußte gerade am Hof Nachtigalls des Räu-bers vorbeireiten, wo die Töchter des Räubers mit ihren Männern lebten. Sie traten auf den Balkon hinaus und sehen – es kommt jemand geritten.
Die älteste Tochter sagt:
„Seht, liebe Schwestern, unser Vater kommt geritten, und er zieht noch einen Recken hinter sich her, der an den Steigbügel gebunden ist!“
Die jüngste Tochter sah hin und begann sogleich zu jammern:
„Ach, liebe Schwestern, nicht unser Vater kommt geritten, sondern irgendein Recke zieht unseren Vater am Steigbügel hinter sich her!“
Die Schwestern brachen in Jammern aus und stürzten davon, ihrem Vater zu helfen.
Sie liefen vom Balkon nach unten, die Schwie-gersöhne aber bewaffneten sich und zogen los, ihren Schwiegervater zu befreien.
Kaum sah Nachtigall der Räuber seine Schwie-gersöhne, rief er ihnen zu:
„Habt Dank, liebe Schwiegersöhne, daß ihr mich befreien wollt, aber reizt den Recken lieber nicht – ihr könnt ihn nicht überwinden. Doch bittet ihn in die Stube, bewirtet ihn mit Wein und Spei-sen und fragt ihn, ob er nicht von euch Lösegeld für mich nehmen will!“
Aber Ilja Muromez, als er all das hörte, dachte: „Sie locken mich noch in eine Falle.“ Er wies alles zurück, bog nach links ab und ritt nach der Thron-stadt Kiew.
Als er angekommen war, betrat er den weißen steinernen Palast und sieht: Fürst Wladimir-Strahlende-Sonne und seine Fürstin sitzen mit ih-ren Recken zusammen und bewirten die Recken.
Ilja Muromez verneigte sich tief vor Fürst Wla-dimir. Und die Fürstin sagt:
„Ich sehe noch einen Gast!“
Alle wandten sich um und erblickten den star-ken Recken Ilja Muromez.
Und Fürst Wladimir fragt:
„Wer seid Ihr, wackerer Mann? Woher kommt Ihr, und wohin führt Euch der Weg?“
Ilja Muromez antwortet:
„Ich komme aus der Stadt Muron, aus dem Dorf Karatscharowo, und will in die Thronstadt Kiew, zu Wladimir-Strahlende-Sonne.“
Und Fürst Wladimir fragt:
„Und auf welchen Wegen seid Ihr geritten, und wieviel Zeit habt Ihr gebraucht?“
Und Ilja Muromez spricht die folgenden Worte:
„Die Morgenmesse habe ich im Dorf Karatscha-rowo gehört, die Mittagsmesse aber bei Euch in der Stadt Kiew.“
„Und welchen Weg seid ihr geritten?“
„Den geraden Weg bin ich geritten.“
Kaum hatten das die Recken gehört, sagen sie zu Fürst Wladimir:
„Glaub diesem Burschen nicht; er schneidet wirklich gar zu sehr auf. Kann man denn auf die-sem Wege reiten? Dort liegt doch schon dreißig Jahre Nachtigall der Räuber im Hinterhalt und läßt weder Reiter noch Fußwanderer durch. Dort kommt kein Tier vorbeigerannt und kein Vogel vorbeigeflogen. Wie hat denn der an Nachtigall dem Räuber vorbeireiten können?“
Fürst Strahlende-Sonne wendet sich Ilja Muro-mez zu und spricht die folgenden Worte:
„Ach, man kann dir nicht glauben, wackerer Recke! Schon dreißig Jahre liegt dort Nachtigall der Räuber im Hinterhalt, niemand kann an ihm vorbeigehen oder vorbeireiten. Es ist deutlich zu sehen, daß du gelogen hast.
Da ließ sich Ilja Muromez nicht auf langes Re-den ein und sagte nur:
„Aber willst du dir nicht gleich einmal Nachtigall den Räuber ansehen? Ich habe ihn auf unseren Hof gebracht, und er hängt jetzt festgebunden an meinem Steigbügel.“
Das hörten die Recken und waren alle gleich entsetzt. Daß dieser Recke es vermocht hatte, ei-nen solchen Räuber herzubringen – das konnten sie nicht glauben.
Da sagt Fürst Strahlende-Sonne zu Ilja Muro-mez:
„Aber sage, kühner Recke, wie heißt du?“
„Ich heiße Ilja Muromez.“
Und der Fürst sagt wieder:
„Und könnten wir uns Nachtigall den Räuber nicht einmal ansehen?“
„Es ist mir eine Ehre“, erklärte sich Ilja Muro-mez bereit und führte sie alle auf den weiten wei-ßen Hof, wo sein flinkes Pferd graste. Und an den Steigbügel des Pferdes war ein Quersack gebun-den, in dem sich Nachtigall der Räuber befand.
Ilja Muromez kommt mit dem ganzen Gefolge, mit allen Recken heraus, bindet den Sack vom Steigbügel los und zieht Nachtigall den Räuber heraus. Kaum hatten die Recken ihn erblickt, da entsetzten sie sich; kaum hatten der Fürst und seine Gemahlin ihn erblickt, da verwunderten sie sich.
Und Fürst Wladimir spricht die folgenden Worte:
„Nun, Dieb Rachmatowitsch, Räuber Nachtigall, pfeife wie eine Nachtigall, unterhalte mich und meine Frau, unterhalte meine starken Recken!“
Da sprach Nachtigall der Räuber die folgenden Worte:
„Nicht dir diene ich, Fürst Wladimir, sondern ich habe meinen Recken, – niemanden sonst erkenne ich an!“
Da wendet sich Fürst Wladimir an Ilja Muromez und sagt:
„Nun, kühner Recke, zwinge diesen Räuber, wie eine Nachtigall zu pfeifen, mich und meine Fürstin und meine starken Recken zu unterhalten!“
Ilja Muromez befielt Nachtigall dem Räuber, mit halber Stärke wie eine Nachtigall zu pfeifen, mit halber Stärke wie ein Tier zu brüllen, mit halber Stärke wie eine Schlange zu zischen, er selbst aber faßt den Fürsten und die Fürstin unter die Arme.
Nachtigall der Räuber nahm alle Kraft zusam-men und pfiff wie eine Nachtigall, aber nicht mit halber Stärke, sondern mit ganzer. Und von die-sem Nachtigallenpfiff hingen Fürst und Fürstin in Iljas Armen, von den Recken aber war nicht einer auf den Füßen geblieben, sie fielen alle der Reihe nach um, und von dem steinernen Palast rollten durch diesen Nachtigallenpfiff alle goldenen Kup-peln herunter. Da schrie der Fürst Strahlende-Sonne:
„Nun, Ilja Muromez, bändige diesen Dieb und Räuber! Solche Späße brauchen wir nicht!“
Da ergriff Ilja Nachtigall den Räuber und warf ihn mit seiner starken Hand so hoch, daß Nachti-gall der Räuber fast bis zu den ziehenden Wolken flog, auf den weißen Hof prallte und seinen Geist aushauchte.
Und Ilja Muromez befahl einen Scheiterhaufen anzuzünden, Nachtigall den Räuber zu verbrennen und die Asche in den Wind zu streuen.
Wieder gehen sie in den weißen steinernen Pa-last, setzen sich an die Eichentische und machen sich über die süßen Speisen und die honigsüßen Getränke her.
Ilja Muromez setzte sich auf ein Bänkchen am äußersten Ende. Aber wie er ein wenig schob und stark nachdrückte, fielen alle Recken der Reihe nach auf den Fußboden, und Ilja saß auf einmal an der Mitte des Tisches. Alle Recken sehen, daß Ilja Muromez sehr viel Kraft hat, und nicht einem fiel es ein, sich ihm zu widersetzen.
Die Recken hatten ein wenig getrunken und fin-gen an zu prahlen, was ein jeder konnte. Und wieder gefiel dies Ilja Muromez nicht. Er dachte einen kühnen Gedanken – durch die weite Welt zu ziehen. Und er gedachte, Swjatogor dem Recken zu begegnen.
Ilja verabschiedete sich von Fürst Wladimir und den Recken und ritt los durch die weite Welt, Swjatogor den Recken zu suchen.
Er ritt lange. Reitet und hält Ausschau, ob er nicht irgendwo Swjatogor den Recken sieht. Und auf einmal sieht er ein großes braunes Pferd. Er reitet näher – da liegt dort ein schlafender Recke.
Und es war das Swjatogor der Recke. Ilja stieg vom Pferd, ging zu Swjatogor und stellte sich ne-ben sein Haupt. Und er erschien gegen diesen Recken wie ein kleines Kind.
Der Recke lag in tiefem Schlaf, und Ilja konnte es nicht erwarten, daß Swjatogor aufwacht. Da gab ihm Ilja einen leichten Schlag.
Der Recke wachte auf und sagt:
„Wer wirft da mit Steinchen nach mir?“
Da trat Ilja Muromez noch näher und sagt:
„Ich bin aus der Stadt Muron, aus dem Dorf Ka-ratscharowo gekommen, man nennt mich Ilja Mu-romez. Ich wollte Euch einmal sehen, aber konnte es nicht erwarten. Da habe ich Euch geweckt.“
Swjatogor der Recke sagt:
„Warum brauchst du mich so dringend?“
Und Ilja antwortet:
„Ich habe von Eurer großen Stärke gehört, da wollte ich Euch einmal sehen.“
„Vielleicht hast du Lust, deine Kräfte mit mir zu messen?“ fragt Swjatogor.
„Nein“, antwortet Ilja, „ich weiß wohl, daß ich meine Kräfte nicht mit Euch messen kann!“
„Wenn das so ist“, sagt Swjatogor12, „dann wol-len wir einen Spazierritt durch die heiligen Berge machen!“
Er pfiff seinem Pferd, das Pferd kam gelaufen und blieb wie angewurzelt vor ihm stehen.
Ilja Muromez rief gleichfalls sein Pferd herbei, und sie ritten zusammen los.
Ilja erzählte, wie er in der Thronstadt Kiew war. Aufmerksam hörte Swjatogor diesen Bericht an. Und danach fragt Ilja Muromez Swjatogor:
„Warum habe ich dich in ganz Rußland gesucht, aber dich nicht finden können?“
„Deswegen“, sagt Swjatogor, „weil ich nicht mehr durch Rußland reite, seit ich von den heili-gen Bergen gekommen bin. Ich sehe – die Erde beugt sich unter mir wie unterwürfig. Und die Menschen laufen vor mir nach allen Seiten davon wie vor einem schrecklichen Tier. Es war mir sehr zuwider, daß sie mich so fürchten. Ich ritt und ritt und verfiel ins Nachdenken: ‚Ach, zuviel unüber-windliche Kraft habe ich in mir! Gäbe es eine Säu-le, und in der Säule wäre ein Ring, ich würde den Ring drehen und das ganze russische Land um und umkehren!’ Kaum hatte ich’s gedacht, da blieb mein Pferd stehen. Ich sehe – gerade vor mir liegt ein kleiner Quersack, so klein, daß man nicht einmal darauf spucken kann. Ich sprang vom Pferd, wollte diesen kleinen Sack aufheben, griff mit der rechten Hand zu, und wie ich zog – bewegte er sich nicht. Ich griff mit der linken Hand zu, zog – er bewegte sich nicht. Ich griff mit beiden Händen zu, und wie ich zog, versank ich bis zu den Knien in die Erde. Da begriff ich: die Mutter, die kühle Erde, will mich nicht auf sich tragen. Daher reite ich nicht durch das russische Land, sondern reite durch die heiligen Berge.“
Sie ritten beide in diese Berge, Ilja und Swjato-gor. Sie ritten und ritten und sehen – auf dem höchsten Bergesgipfel steht ein riesiger Sarg. Sie ritten zu diesem Sarg, und Swjatogor sagt:
„Nun, Ilja Muromez, miß diesen Sarg. Vielleicht ist er für dich gemacht?“
Ilja Muromez legte sich in den Sarg, und er er-schien darin wie eine kleine Fliege. Da sagt Swja-togor:
„Nein, Ilja, dieser Sarg ist wohl nicht für dich gebaut.“
Jetzt steigt Swjatogor vom Pferd und will den Sarg selber messen.
Er streckte sich im Sarg aus – der Sarg war wie für ihn gemacht. Swjatogor der Recke wollte sich aus dem Sarg erheben. Aber auf einmal war er ganz schwach geworden und flehte zu Ilja Muro-mez:
„Nun, Ilja Muromez, mein kleiner Bruder, hilf mir aus dem Sarg steigen! Ich bin ganz schwach geworden.“
Ilja Muromez sprang hinzu, gerade wollte er Swjatogor den Recken aufrichten, da hatte sich der Deckel des Sarges dicht geschlossen. Ilja Mu-romez packte den Deckel, wollte ihn mit seiner gewaltigen Kraft abreißen, aber wie sehr er auch zog – der Deckel bewegte sich nicht von der Stel-le. Vor Wut ergriff Ilja Muromez sein Schwert und begann auf den Sarg einzuhauen. Wie er das er-stemal zugeschlagen hatte, erschien ein eiserner Reif und schloß sich rings um den Sarg. Das zweitemal schlug er zu – da erschien ein zweiter Eisenreif. Wieviele Male er auch zuschlug, immer erschienen eiserne Reifen. Und Ilja Muromez hört – aus dem Sarg dringen dumpfe Worte zu ihm:
„Leb wohl, Ilja Muromez, ich bin wohl das letzte Mal mit dir durch die heiligen Berge geritten!“
Ilja Muromez war weh ums Herz wegen Swja-togor, er sieht – er kann den großen Bruder nicht befreien. Und er hört, wie Swjatogor zum letz-tenmal leicht aufseufzt und keinen Laut mehr von sich gab.
Ilja brach in Tränen aus und ritt fort aus den heiligen Bergen in die Thronstadt Kiew. Er war dort nicht lange. Da kommt ein Ungläubiger mit einem Brief geritten und überreicht diesen Brief dem Fürsten Wladimir. Der Fürst begriff – hier ist etwas Unerfreuliches. Er erbrach das Siegel und beginnt, den Brief zu lesen, im Brief aber ist ge-schrieben:
„Es kommt Batu mit seinen großen Scharen, der Goldenen Horde, gezogen, und mit ihm zieht Heidengötze, der starke Recke.“
Da war bei allen Recken der Rausch verflogen, und sie wissen nicht, was sie tun sollen. Wie sol-len sie reiten, wie solch großer Feindesmacht begegnen?
Das sagt Ilja Muromez:
„Ach, starke Helden, feige seid ihr wie die Hasen! Ihr möchtet nur immer Feste feiern und zechen. Wozu seid ihr nütze? Wenn die feindlichen Heere kommen, dann zittert ihr wie die Blätter an der Espe. Auf, zieht mit mir, laßt uns reiten, der Tatarenmacht zu begegnen!“
Die Recken erschraken, aber da war nichts zu machen: sie mußten Ilja Muromez folgen. Sie ka-men an ihre Grenze. An der Grenze aber steht ei-ne Feldwache. Und in dieser Feldwache waren Recken als Grenzwächter. Hier war als Ältester Samson Samsonowitsch, hier war auch sein Gehil-fe Dobrynja Nikititsch, und es war noch der Feld-hauptmann Aljoscha Popowitsch da…
Ilja Muromez kam zu dem weißen Leinenzelt geritten und sieht – es stehen drei Recken an der Feldwache. Der Recke Samson erblickte Ilja Mu-romez und verneigte sich tief vor ihm:
„Sei mir gegrüßt, Ilja Muromez, wie lange habe ich dich nicht gesehen! Und weswegen hast du dich hierher bemüht zu unserer Feldwache?“
Und Ilja Muromez sagt:
„Habt ihr denn nicht gehört, Grenzwächter, daß eine große Streitmacht gegen unseren Fürsten Wladimir gezogen kommt?“
Da erschrak Samson Samsonowitsch, und er-schrak Dobrynja Nikititsch, und erschrak noch mehr der Feldhauptmann Aljoscha Popowitsch.
Da sagt Ilja Muromez:
„Habt ihr denn nicht gehört, Samson Samsono-witsch, wie hier ein Ungläubiger mit seinem Brief nach der Thronstadt durchgekommen ist? Wie habt ihr das nicht gesehen von eurer Feldwache aus?“
Da begann Samson Samsonowitsch zu sprechen:
„Vergib uns Ilja Muromez, irgendwie haben wir zu dieser Zeit gerade geschlafen, und so haben wir diesen Ungläubigen eben nicht gesehen.“
Hier sagte Ilja Muromez:
„Wir müssen die große Streitmacht, die ungläu-bige, erwarten, wir müssen, wie es sich gehört, für unser russisches Land kämpfen. Stellt noch jemanden vorn auf“ (als vorgeschobenen Beob-achtungsposten, ganz genauso).
Und die Recken hielten Rat, wen sie als Wache aufstellen sollten. Samson Samsonowitsch wollte Aljoscha Popowitsch aufstellen.
Da sprach Ilja Muromez die folgenden Worte:
„Nein, Samson Samsonowitsch, Aljoscha Popo-witsch dürfen wir nicht bestimmen, dem sind die Rockschöße schon so zu lang. Wir müssen Do-brynja Nikititsch bestimmen.“
Dobrynja Nikititsch ritt nach vorn und stellte ei-ne besondere Wache an der Stelle auf, wo die Streitmacht der Ungläubigen durchziehen mußte. Sie warteten und warteten auf das Heer der Un-gläubigen, aber vergebens. Es verging ein Tag, es verging der zweite, aber von der Streitmacht der Ungläubigen ist noch nichts zu sehen.
Am dritten Tag, kaum daß die Sonne aufgegan-gen war, bemerkten sie am Horizont ein großes Heer. Von diesem Heer wurde die Sonne durch dichten Staub verdunkelt. Dobrynja Nikititsch hält Ausschau und sieht – voran reitet ein starker Rek-ke, und das Pferd unter ihm ist ganz in goldenem Zaumzeug, er selber aber ist wie ein großer Ge-treideschober. Er kam auf Dobrynja Nikititsch zugeritten, und der weiß nicht, was er tun soll. Und er sieht – der Recke wirft seine lange Lanze bis unter die ziehenden Wolken, bis über den ragen-den Wald. Und der Recke fängt die Lanze mit der anderen Hand auf und sagt dabei:
„So leicht ich die Lanze werfe, so leicht werde ich mit Dobrynja Nikititsch fertigwerden.“
Dobrynja Nikititsch erschrak vor diesem Recken und jagte auf seinem Pferd zu der Feldwache, wo Samson Samsonowitsch und Ilja Muromez waren. Und er betet, sein Pferd möge nicht straucheln. Er kam zur Feldwache, fiel vor Samson Samsono-witsch auf die Knie und spricht die folgenden Wor-te:
„Vergib mir, Samson Samsonowitsch, daß ich keine Heidenköpfe zu eurer Feldwache bringen konnte. Und solch ein Ritter ist dort zu uns ge-kommen, daß er eine lange Lanze fast bis unter die ziehenden Wolken, fast bis über den ragenden Wald wirft und dabei die folgenden Worte sagt: ‚So leicht ich die Lanze schleudere, so leicht wer-de ich mit Dobrynja Nikititsch fertigwerden.’ So bin ich eben mit leeren Händen zu euch zur Feld-wache gekommen.“
Ilja Muromez und alle Recken hielten Rat, wer reiten soll, dem Ungläubigen zu begegnen. Sie dachten nach und wollten einen wählen. Doch wen immer sie vorsahen, Ilja Muromez hinderte’s. Da bestimmten sie Aljoscha Popowitsch, aber Ilja Muromez widersetzte sich auch hier.
„Wir dürfen Aljoscha Popowitsch nicht schicken: er wird auf das goldene Zaumzeug schielen, und in diesem Augenblick werden die Feinde seine Po-penseele aus dem Sattel werfen.“
Sie wollten raten, Samson Samsonowitsch solle reiten. Aber auch hier sprach Ilja Muromez die folgenden Worte:
„Nein, schon gar zu alt ist Samson Samsono-witsch, wir müssen einen anderen wählen.“
Aber die Recken konnten auf keine Weise eine Wahl treffen. Und sie wollten nun das Los werfen – wer dem ungläubigen Heiden begegnen solle.
Wie sie das Los warfen, fiel es auf Ilja Muro-mez. Da sattelte Ilja Muromez sein Pferd, bestieg es, nahm Abschied von seinen Recken und ritt dem ungläubigen Heiden entgegen.
Als er bis auf eine Werst an ihn herangekom-men war, sah er den bösen Ungläubigen; der warf mit der rechten Hand eine lange Lanze und brü-stete sich sogleich:
„So leicht ich mit meiner Lanze umgehe, so leicht werde ich auch mit Ilja Muromez fertigwer-den!“
Ilja Muromez dachte nicht lange nach, gab sei-nem Pferd die Sporen und stürzte gegen den bö-sen Tataren. Der Kampf begann am frühen Mor-gen. Ihre Pferde wurden müde, ihre Schwerter wurden stumpf; aber die Recken sitzen im Sattel, und keiner von ihnen schwankt auch nur.
Es war schon zwölf Uhr mittags. Die Pferde der Recken strauchelten, und die Recken fielen sogleich zu Boden. Sie hatten ihre langen Lanzen zerbrochen und hatten ihre stählernen Schwerter zerbrochen. Sie hatten nichts mehr, aufeinander einzuhauen. Da gingen sie mit den bloßen Händen aufeinander los. Sie kämpften so heftig, daß der Staub von ihren Füßen wie eine Säule aufgewir-belt wurde.
Schon neigte sich die Sonne zum Untergang, da glitt Ilja Muromez aus und fiel auf den Rücken, und der ungläubige Heide setzte sich auf ihn. Er zog sein Messer aus dem Gürtel und wollte Ilja Muromez die Kehle durchschneiden. Da fielen Ilja seine beiden greisen Wanderer ein und er dachte:
„Da haben die Greise wohl nicht die Wahrheit gesagt, daß mir kein Tod im Kampf beschieden ist: ich muß von der Hand eines ungläubigen Hei-den sterben.“
Kaum hatte er das gedacht, da fühlte er in sich so große Kraft wie damals, als er die drei Glas Hopfenbier getrunken hatte. Er machte seine rechte Hand frei und versetzte dem Ungläubigen einen gewaltigen Stoß gegen seine Heidenbrust. Da flog der Ungläubige bis über den ragenden Wald, bis unter die ziehenden Wolken und fuhr bis zur Brust in die Erde hinein. Ilja Muromez entreißt dem Ungläubigen das stählerne Messer und schlägt ihm den Kopf bis zu den Schultern ab. Er nahm diesen Kopf, steckte ihn auf ein Stück Lanze und ritt los, geradenwegs zur Feldwache.
Er kam zurück zur Feldwache – da wunderten sich alle Recken, wie Ilja Muromez den Ungläubi-gen überwältigt hatte. Sie warteten und warteten und glaubten, das feindliche Heer werde gleich kommen. Aber von dem Heer war nichts zu se-hen. Sie zogen die Recken wieder von der Feldwache ab und ritten zum Fürsten Wladimir-Strahlende-Sonne. Nur die Grenzwächter blieben zurück.
Ilja Muromez brachte dem Fürsten Wladimir ein Geschenk in die Thronstadt Kiew – den Kopf des ungläubigen Heiden.
Fürst Wladimir rief alle Recken zusammen, lud sie ein und bewirtete sie. Und alle Recken bewir-tete er reichlich und belohnte alle mit Geschen-ken.
Alle hatte er belohnt, Ilja Muromez aber, den Wichtigsten, hatte er vergessen.
Ilja Muromez wurde darüber sehr zornig. Er lief hinaus auf den weißen Hof und rief alles betrun-kene Volk zu sich. Und er sprach zu ihnen die fol-genden Worte:
„Es ziemt mir, einem Bauernrecken, nicht, hier zu schmausen und zu zechen, aber es ziemt mir, mit euch zu feiern.“
Er nimmt einen straffen Bogen und legt einen stählernen Pfeil auf die Sehne. Und er sendet die-sen Pfeil gegen das goldgedeckte Schloß. Da traf der Pfeil die goldenen Kuppeln, und die Kuppeln fielen herunter auf den weißen Hof. Ilja Muromez aber befahl dem Volk, die Kuppeln zu sammeln und dafür Branntwein zu kaufen.
Von der Wucht dieses Pfeiles erzitterte das Schloß Fürst Wladimirs und waren die Recken mehr tot als lebendig. Und Fürst Strahlende-Sonne wurde sehr zornig auf Ilja. Aber ein Recke spricht zu ihm die folgenden Worte:
„Nicht recht tust du, Fürst Strahlende-Sonne: alle Recken hast du bewirtet und beschenkt, Ilja Muromez aber hast du mit nichts beschenkt!“
Da begriff Fürst Strahlende-Sonne, daß er nicht richtig gehandelt hatte. Er nahm seinen Zobelpelz, trägt ihn hinaus auf den weißen Hof, reicht ihn Ilja Muromez und spricht die folgenden Worte:
„Nimm’s nicht übel, Ilja Muromez, daß ich dich mit nichts beschenkt habe! Hier schenke ich dir meinen Zobelpelz.“
Ilja Muromez wurde zornig und ergriff den Zo-belpelz, ergriff den einen Ärmel, ergriff den ande-ren Ärmel und riß den Pelz entzwei.
Reißt ihn entzwei und sagt dabei:
„Wie ich die ungläubigen Heiden zerrissen habe, Fürst Wladimir, so zerreiße ich auch deinen Zo-belpelz!“
Fürst Wladimir wagte nicht, ihm zu widerspre-chen. Er kannte seine große Stärke.
Ilja Muromez ging zu seinen Gesellen, kaufte für die goldenen Kuppeln Branntwein und bewirte-te das betrunkene Volk. Bald aber gefielen ihm auch diese Gesellen nicht. Er sattelte sein Pferd und brach auf aus der Thronstadt Kiew, verab-schiedete sich nicht von den Recken und verab-schiedete sich nicht von Fürst Wladimir. Er sprengte los durch das russische Land.
Als Ilja Muromez aus Kiew weggeritten war, kam Khan Heidengötze nach Kiew, vertrieb alle Recken, brachte das ganze Zarenreich Fürst Wla-dimirs in seine Gewalt und machte den Fürsten selber zu seinem Diener.
Schwer war es für Fürst Wladimir, das von Hei-dengötze zu erdulden, aber es war nichts zu ma-chen. Oft dachte er an Ilja Muromez: „Wäre Ilja Muromez hier gewesen, das wäre nicht gesche-hen, und ich brauchte Heidengötze nicht zu die-nen.“
Lange mußte Fürst Wladimir so dienen, aber Il-ja Muromez wußte nichts davon. Einmal war er unterwegs, da begegnete ihm ein Wanderer. Die-ser Wanderer trug einen Hut von zehn Pud, und einen Wanderstab hatte dieser Wanderer von vierzig Pud. Er begegnete Ilja Muromez und sprach die folgenden Worte:
„Ach, wackerer Recke Ilja Muromez! Warum streifst du durchs russische Land und reitest nicht in die Thronstadt Kiew? In der Stadt Kiew ist gro-ßes Unheil geschehen. Khan Heidengötze ist über Kiew gekommen. Alle Recken hat er einen nach dem anderen aus dem Zarenreich hinausgejagt, das Zarenreich Fürst Wladimirs in seine Gewalt gebracht, und der Fürst selbst ist jetzt sein Die-ner.“
Ilja Muromez sagte zu dem Greis:
„Und wie kann ich dich nennen, Greis?“
Der Greis antwortete:
„Man nennt mich Iwanistsche. Mein Hut wiegt zehn Pud. Mein Wanderstab wiegt vierzig Pud.“
Da sagte Ilja Muromez zu Iwanistsche:
„Tritt mir deinen Wanderstab von vierzig Pud ab! Ich will in die Stadt Kiew reiten und ihn Hei-dengötze zu kosten geben.“
Iwanistsche gab ihm freudig den Stab.
Ilja nahm den Stab und ritt zur Thronstadt Kiew. Als Ilja in den weißen Hof geritten war, suchte er aus erster Pflicht Fürst Wladimir auf. Als der Fürst Ilja Muromez sah, freute er sich gleich und spricht zu ihm die folgenden Worte:
„Wie lange, Ilja Muromez, bist du nicht zu uns gekommen! Sieh, was sich bei uns zugetragen hat! Auf dem Thron sitzt Khan Heidengötze, und ich diene ihm als sein Diener.“
Da sagt Ilja Muromez:
„Warte noch, Fürst Strahlende-Sonne, mir Vor-würfe zu machen! Heidengötze wird nicht einmal bis zum Abend auf deinem Throne sitzen!“
Ilja Muromez ging in den weißen steinernen Pa-last, wo Heidengötze saß. Kam zu Heidengötze und bat ihn um ein Almosen:
„Zar, gib mir Bettler ein Almosen – ich leide wirklich große Not!“
„Lauf in die Küche“, sagt Heidengötze, „dort wird den Bettlern gegeben!“
Aber Ilja Muromez sagte:
„Ich will, daß Ihr mir hier ein Almosen gebt!“
Da sprach Heidengötze wie folgt:
„Du ziehst viel durch die weite Welt, Greis; hast du nicht irgendeinmal Ilja Muromez gesehen?“
„Wie soll ich Ilja Muromez nicht gesehen haben, wenn wir beide uns sehr oft sehen?“
„Und was für einer ist Ilja Muromez?“ fragt Hei-dengötze.
„Wenn du Ilja Muromez sehen willst, dann sieh mich an, wir sind beide aus dem gleichen Holz geschnitzt!“
Da sagt Heidengötze:
„Und ißt Ilja Muromez viel?“
„Ilja Muromez ißt nur eine Semmel und trinkt nur ein Gläschen.“
Da lachte Heidengötze und sagte:
„Warum ist denn Euer Recke Ilja Muromez so berühmt? Nimm mich, ich esse sehr viel. An Brot esse ich drei Laibe, an Fleisch esse ich beinah ei-nen ganzen Hammel, und ich trinke drei große Gläser.“
Und Ilja Muromez spricht die folgenden Worte:
„Ach, mein Onkel hatte eine Kuh, die trank und fraß viel. Einmal hatte sie so gefressen, daß sie platzte. Paß auf, daß mit dir nicht einmal das glei-che geschieht!“
Da wurde Heidengötze wütend, ergriff sein stählernes Schwert und warf es mit aller Kraft nach Ilja Muromez. Ilja Muromez wich ihm aus, und das Schwert durchschlug die Wand und flog ins Freie. Da ergriff Ilja Muromez seinerseits den Wanderstab von vierzig Pud und traf Heidengötze mit Macht auf den Scheitel. Er zerschmetterte Heidengötze den Schädel. Ilja trat hinaus auf den Hof zu Fürst Wladimir und sagte zu ihm die fol-genden Worte:
„Schafft Heidengötze weg und richtet das ganze Reich wie früher ein!“
Und Fürst Wladimir Strahlende-Sonne bestieg wieder den Thron seines Zarenreiches. Wieder herrschte er als Zar. Und danach gab er ein Fest für alle Welt.
Zu dieser Zeit aber wollte ein junger Bojar, Djuk Stepanowitsch mit Namen, in den Dienst des Fürsten treten und nahm Abschied von seiner Mutter. Er kam zu Fürst Wladimir. Fürst Wladimir nahm ihn auf und setzte ihn an seinen Tisch, mit den Recken zu feiern. Er bewirtete Djuk Stepano-witsch. Aber Djuk Stepanowitsch trank so: ein Gläschen trank er aus, und das andere goß er un-ter den Tisch, eine Semmel aß er, und die andere warf er unter den Tisch.
Das bemerkte der Fürst Strahlende-Sonne, und er sagte zu Djuk Stepanowitsch:
„Warum, junger Bojar, trinkst du ein Gläschen aus und gießt das andere unter den Tisch, ißt eine Semmel und wirfst die andere unter den Tisch? Gefällt dir vielleicht etwas nicht?“
Djuk Stepanowitsch antwortet dem Fürsten:
„Ja, Wladimir Strahlende-Sonne, deine Sem-meln sind schon etwas hart, und das Bier riecht schon sehr muffig… Bei meiner lieben Mutter wer-den die Semmeln in der Backstube alle honigsüß gebacken: die eine ißt du, nach der zweiten streckt sich die Hand aus, die zweite ißt du, die dritte weicht dir nicht aus dem Sinn. Und das Bier steht bei Euch wohl ungepflegt in Fässern und Kellern. Bei meiner Mutter aber ist das Bier in den Fässern aufgehängt, an hohen Ketten. Die Winde kühlen die hohen Fässer, und das Bier kann nicht muffig werden. Ein Gläschen trinkst du, nach dem zweiten streckt sich die Hand von selber aus, das zweite trinkst du – das dritte weicht dir nicht aus dem Sinn. Bei Euch, Fürst Wladimir, hat auch der Ofen die Farbe verloren. Bei uns aber in der Stube sind die Öfen mit Glasur überzogen. Und die Klei-der bei Euch, Fürst Wladimir Strahlende-Sonne, sind dunkel und abgetragen, bei meiner Mutter aber sind die Kleider jeden Tag neu.“
Es war da ein Recke, saß am Tisch, mit Namen Tschurila Plenkowitsch. Tschurila Plenkowitsch hörte diese Worte und war sehr gekränkt. Und er sagt zu Fürst Wladimir:
„Fürst Wladimir Strahlende-Sonne, laß mich mit ihm eine Wette abschließen. Daß wir beide jeden Tag in neuen Kleidern erscheinen. Ob er wohl für ein ganzes Jahr genügend neue Kleider hat?“
Da hielten die Bojaren Rat und erlaubten ihnen, eine Wette abzuschließen. Und sie wetteten – wenn bei einem die Kleider nicht für ein Jahr rei-chen, dem soll es den Kopf kosten. Djuk Stepa-nowitsch wollte nach Hause reiten, um Kleider für ein ganzes Jahr zu holen. Aber Tschurila Plenko-witsch widersetzte sich dem. Er spricht die fol-genden Worte:
„Ich bin nicht einverstanden damit, Djuk Stepa-nowitsch nach Hause zu beurlauben. Er könnte die Kleider nicht zu Hause, sondern an anderen Stel-len beschaffen. Mag er der Mutter einen Brief nach Hause schreiben, und die wird ihm die Klei-der schicken.“
Djuk Stepanowitsch mußte sich fügen. Er setzt sich an die eichenen Tische, nimmt Tintenfaß und Feder und beginnt, der Mutter einen Brief zu schreiben. Und er steckte diesen Brief in einen Sack und band den Sack seinem klugen Braunen an den Sattel. Und er trug ihm folgendes auf:
„Kluger Brauner, bringe den Brief zu meiner Mutter. Sie soll mir dicke Ballen schicken, damit ich für jeden Tag ein ganzes Jahr lang genügend Kleider habe.“
Und er führte den klugen Braunen hinaus und zeigte ihm den Weg nach Hause.
Der Braune lief schnell, wie ein stählerner Pfeil, der vom Bogen geschossen wurde. Der Braune kam auf den weiten Hof, zu Djuk Stepanowitschs Mutter.
Die Mutter erschrak sehr – das Pferd kam allein angerannt, und vom Sohn nirgends eine Spur. Sie nahm den Mantelsack herunter, wickelte ihn auf und sieht – auf einem Papier ist etwas geschrie-ben. Als sie’s durchgelesen hatte, da ahnte sie: der Sohn hat irgend etwas Dummes angestellt. Sie trug alle Kleider zusammen und bemaß sie genau für ein ganzes Jahr. Sie steckte die Kleider in Säcke, band die Säcke dem klugen Braunen auf und schickte ihn zu ihrem Sohn Djuk Stepano-witsch.
Der kluge Braune kehrte bald zu seinem Herrn Djuk Stepanowitsch zurück.
Djuk Stepanowitsch wurde der Tag genannt, an dem die Recken in neuen Kleidern erscheinen mußten. Und ein ganzes Jahr gingen sie immer in anderen Kleidern.
Und am letzten Tag traten beide – Djuk Stepa-nowitsch und Tschurila Plenkowitsch – in kostba-ren Kleidern ein, aus Zobelfell. Tschurila Plenkowitsch hatte ein sehr kostbares Gewand an, aber Djuk Stepanowitsch ein noch viel besseres: auf dem Rock Djuk Stepanowitschs war ein Ritter mit einem Fräulein. Wenn er seinen Rock zuknöpfte, dann umarmten sich Fräulein und Ritter, wenn er ihn aufknöpfte, küßten sich Fräulein und Ritter.
Tschurila Plenkowitsch hielt Rat:
„Urteilt, gute Leute! Wer von uns hat seinen Kopf verspielt?“
Und sie fällten ihnen das Urteil und entschie-den, daß Tschurila Plenkowitsch seinen Kopf ver-wettet hatte.
Sie wollten ihn auf den Richtplatz hinausführen, aber da trat Ilja Muromez für ihn ein:
„Es ist nicht nötig, daß wir Christenblut vergie-ßen, aber es ist nötig, Tschurila Plenkowitsch ei-nen starken Verweis zu geben.“
Tschurila Plenkowitsch gab aber keine Ruhe, begann wieder Streit anzuzetteln, wollte eine neue Wette abschließen. Man beriet – Djuk und Tschurila sollen wieder miteinander wetten. Tschurila Plenkowitsch sagt:
„Wer von uns wird auf seinem Pferd den Dneprfluß überspringen? Wer ihn nicht über-springt, dem soll der Kopf abgeschlagen werden.“
Aber auch hier zeigte sich Djuk Stepanowitsch nicht feige, wenn er auch jung war. Und sie ritten auf ihren Pferden, den Dnepr zu überspringen. Da sagt Tschurila Plenkowitsch:
„Spring du zuerst, Djuk Stepanowitsch!“
Aber hier widersetzte sich Ilja Muromez:
„Verloren hast du deinen Kopf, Tschurila, also spring du zuerst!“
Tschurila Plenkowitsch hatte keine Zeit zu widersprechen. Er trieb sein schnelles Pferd an und bohrte seinem Pferd die Sporen in die Weichen. Da machte sein Pferd einen hohen Sprung und schlug mitten auf dem Dnepr auf. Der schnelle Fluß trug das Pferd davon.
Da sprang auch Djuk Stepanowitsch. Wie schlug er seinem Pferd in die Weichen! Sein kluger Brauner warf sich auf die andere Seite. Djuk Stepanowitsch packte Tschurila an seinen schwarzen Locken und zog ihn auf die andere Seite.
Da sagten alle Recken gleichzeitig:
„Djuk Stepanowitsch, schlag Tschurila den Kopf ab, zweimal hat er ihn verspielt!“
Aber Djuk Stepanowitsch wollte dies nicht tun. So blieb Tschurila Plenkowitsch am Leben.
Alle Recken kehrten in die Thronstadt Kiew zu Fürst Wladimir zurück und setzten sich wieder an die eichenen Tische. Sie tranken wieder honigsüße Getränke und aßen süße Speisen.
Seit jener Zeit wurde es in Kiew immer ruhiger. Keine ungläubigen Feinde wagten es, die Stadt Kiew zu bekriegen. Und Ilja Muromez beschloß, fortzureiten und das russische Land zu durchstreifen.
Er ritt weit weg von der Stadt Kiew. Auf einmal kommt er an drei Wege. Und an der Wegkreuzung lag ein riesiger Stein. Und auf dem Stein waren drei Aufschriften:
„Wer nach rechts reitet – der wird erschlagen werden, und wer nach links reitet – der wird reich werden, und wer geradeaus reitet – der wird ver-heiratet werden.“
Da überlegte Ilja Muromez:
„Zum Heiraten bin ich schon gar zu alt, und Reichtum brauche ich überhaupt nicht. Ich will dorthin reiten, wo man erschlagen werden soll, mir ist vom Schicksal der Tod nicht beschieden.“
Er wendete sein starkes Pferd und sprengte den rechten Weg entlang.
Er kommt auf eine breite Lichtung, und auf die-ser Lichtung stand eine mächtige Eiche. Unter dieser Eiche saßen vierzig Räuber. Als sie Ilja Mu-romez sahen, machten sie untereinander aus, ihn zu umringen und zu erschlagen.
Aber Ilja Muromez sagte zu ihnen:
„Und weswegen wollt ihr mich erschlagen? Reichtümer habe ich nicht bei mir. Mein Pferd ko-stet fünfhundert Rubel, das Zaumzeug am Pferd kostet hundert Rubel.“
Und er nimmt den straffen Bogen von der Schulter und holt einen stählernen Pfeil aus dem Köcher. Und er legt den Pfeil auf die Sehne. Und er schießt den Pfeil nach der grünen Eiche. Und der Pfeil traf die grüne Eiche, und die Eiche flog splitternd auseinander. Sehr viele Räuber wurden da verwundet. Die übrigen Räuber stürzten nach allen Seiten davon, so daß Ilja Muromez nieman-den mehr fand, den er erschlagen konnte.
Ilja Muromez kehrte wieder zu dem weißen Stein zurück und löschte hier die alte Aufschrift.
Er schrieb eine neue Aufschrift: „Ilja Muromez ist den rechten Weg geritten, aber nicht erschlagen worden.“
Jetzt denkt Ilja Muromez: „Ich muß den Weg reiten, wo man verheiratet wird, denn Reichtum brauche ich nicht.“ Und er ritt den Weg gerade-aus.
Er kommt zu einem großen Schloß, und in die-sem Schloß lebte eine Zarentochter, die lockte immer Freier zu sich. Sie lud sie ein in ihr neues Schlafzimmer und legte die Freier auf ein gefeder-tes Bett.
Ilja Muromez ging in das neue Gemach, und die Zarentochter faßte ihn an seinen weißen Händen und forderte ihn auf, sich auf das gefederte Bett zu legen. Aber Ilja Muromez packte die Zaren-tochter und legte sie auf das gefederte Bett. Und wie er sie hingelegt hatte – da brach das gefeder-te Bett durch den Fußboden. Ilja Muromez sah nach unten und sieht – da sind tiefe Keller, und in den Kellern waren viele Menschen. Ilja Muromez lief auf den weiten Hof, suchte die Tür zu den tie-fen Kellern, schlug die Tür schnell ab und ließ die Menschen aus den dunklen Kellern. Da bedankten sich alle demütig bei Ilja:
„Du unser Retter, Ilja Muromez! Du hast uns vor einem schrecklichen Tode bewahrt!“
Da packte Ilja Muromez die Zarentochter am Zopf und zog sie auf den weiten Hof hinaus; er befahl, auf der Stelle einen Scheiterhaufen anzuzünden, die Zarentochter ins Feuer zu werfen und zu verbrennen.
Ilja Muromez ritt wieder zu dem gleichen wei-ßen Stein. Er löscht hier die alte Aufschrift und schreibt eine neue Aufschrift:
„Ilja Muromez ist jenen Weg geritten, aber nicht verheiratet worden.“
Jetzt bekam Ilja Muromez Spaß an der Sache: sollte er nicht den dritten Weg reiten? Wird es dort nicht irgendeinen Betrug geben?
Und Ilja Muromez ritt den dritten Weg entlang.
Ilja Muromez erblickte riesige Keller. Und an diesen Kellern hingen Glocken. Wer Reichtum braucht, der muß am Strick ziehen. Ilja schlug kurzerhand an eine Glocke. Irgendwoher kommt ein Mann mit einem goldenen Stab. Der Mann sperrt die tiefen Keller auf und sagt die folgenden Worte:
„Nimm Reichtum, wackerer Held, soviel du brauchst!“
Da ging Ilja in die tiefen Keller, sah sich um und wunderte sich: überall liegt in Unordnung Gold herum. Ilja Muromez hatte sich nie von Gold ver-locken lassen. Er nahm auch kein bißchen Gold und ritt wieder zu dem weißen Stein. Er löschte hier die alte Aufschrift und schrieb eine neue Auf-schrift:
„Ilja Muromez ist hier geritten, aber nicht reich geworden.“
Damit endeten die Taten Ilja Muromez’.
Und insgesamt hat Ilja Muromez einhundertfünfzig Jahre gelebt.

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