»Ich habe gestandene Bauern weinen sehen«
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»Ich habe gestandene Bauern weinen sehen«

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Dr. Rainer Langner vor einem Werk der 3Steps. Das Gießener Künstlerkollektiv hat es anlässlich des Jubiläums in der Wilhelmstraße gefertigt. © Oliver Schepp

Dr. Rainer Langner, der Vorstandsvorsitzende der Vereinigten Hagelversicherung, geht Ende des Monats in den Ruhestand. Gleichzeitig feiert sein Unternehmen 200-jähriges Bestehen. Im Interview spricht Langner über die Folgen des Klimawandels, weinende Landwirte und einprägsame Erlebnisse.

Können Sie einen sonnigen trockenen Sommer genießen, ohne dabei gleich an Ihre Arbeit denken zu müssen?

Im Sommer während der Erntezeit denke ich immer an die Arbeit. Ich schaue ständig auf die Wettervorhersage. Das Wetter bestimmt im Wesentlichen das Ergebnis unseres Jahres. Viele Schäden bedeuten schlechte Ergebnisse, wenig Schäden gute Ergebnisse. Deswegen bin ich im Sommer immer ein wenig angespannt und kann die Sonne nicht in Ruhe genießen (lacht).

Sie sind seit 1985 im Unternehmen, seit 1991 im Vorstand und seit 1996 Vorstandsvorsitzender. Wie hat sich die Arbeit in all den Jahren verändert?

Zunächst einmal waren wir, als ich hier angefangen habe, nur in der alten BRD tätig. Dann kam die Wiedervereinigung, wodurch wir angefangen haben, die neuen Bundesländer zu bearbeiten. 1994 folgte dann die Öffnung der EU-Grenzen. Danach haben wir uns international aufgestellt. Heute sind wir in zehn Ländern tätig. Das hat die Kultur des Hauses sehr verändert. Es werden unterschiedliche Sprachen gesprochen, Einflüsse von verschiedenen Kulturen prägen das Unternehmen. Das ist eine riesige Herausforderung, es macht aber auch total viel Spaß.

Die Vereinigte Hagel versichert Landwirte gegen Unwetterschäden. Durch den Klimawandel nehmen solche Ereignisse zu. Profitieren Sie also vom Klimawandel?

Früher ging es bei uns, das sagt ja schon der Name, überwiegend um Hagel. Durch den Klimawandel nehmen Stürme, Starkregen und Dürre zu. Zuletzt haben die Winzer einen Schaden von rund 500 Millionen Euro durch Frost verkraften müssen. Nicht alle von ihnen waren versichert. Dadurch wird das Bewusstsein unserer Zielgruppe sensibilisiert, die Nachfrage steigt. So gesehen profitieren wir schon.

Aber?

Natürlich ist der Klimawandel auch eine Gefahr für uns Versicherer. Zum einen müssen wir mehr Entschädigungen zahlen. Zum anderen ist er aber auch mit einem immensen Aufwand verbunden. Allein durch die jüngsten Schäden im Weinbau müssen unsere Sachverständigen zu 25 000 Anbauflächen fahren und sie begutachten.

Der Klimawandel dürfte auch dazu beitragen, dass in Deutschland die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe zurückgeht. Ihr Kundenstamm schmilzt also. Wie reagieren Sie darauf?

Die verbleibende Zielgruppe wird immer professioneller. Wir haben es daher mit einer steigenden Zahl hochmoderner Betriebe zu tun. Darauf müssen wir auf Augenhöhe reagieren können. Wir haben bei uns im Unternehmen 80 bis 90 hochqualifizierte Agraringenieure beschäftigt. Wir treiben auch die Digitalisierung immer weiter voran. Wir müssen den modernen Landwirten passende Angebote machen. Das klappt: Heute sind 75 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen in Deutschland versichert, der Großteil davon bei uns.

Die Landwirte haben zuletzt durch ihre Proteste ihre Unzufriedenheit verdeutlicht. Würden Sie jungen Menschen raten, heute noch Landwirte zu werden?

Ich glaube, dass ein Praktiker, der die Landwirtschaft liebt, der Spaß und Ideen hat, weiterhin in die Landwirtschaft gehen sollte. Es gibt viele Optionen. Aber man muss Änderungsbereitschaft mitbringen. Der Strukturwandel geht weiter.

Sie sind selbst auf einem landwirtschaftlichen Betrieb aufgewachsen. Haben Sie es je bereut, einen anderen Weg eingeschlagen und so lange für die Vereinigte Hagel gearbeitet zu haben?

Nein. Ich werde häufig gefragt, warum ich es so lange hier ausgehalten habe und ob es nicht langweilig sei, so lange für ein und dasselbe Unternehmen zu arbeiten. Aber dem ist nicht so. Hier war immer etwas los, ich habe immer etwas Neues erlebt. Ich bin von einem tollen Team umgeben, das viele Ideen einbringt.

Wie legt die Vereinigte Hagel fest, ab wann ein Unwetter Anlass für eine Schadenszahlung ist?

Beim Hagel ist das vergleichsweise leicht. Die Früchte haben physische Schäden. Das ist sichtbar. Bei Starkregen, Sturm und Dürren können wir auf eigene Wetterstation zurückgreifen. Auf diesem Gebiet arbeiten wir eng mit der Kachelmann-Organisation zusammen.

Wie sieht das im Detail aus?

Wir bauen Wetterstationen auf, die unsere Landwirte dann für sich erwerben. Sie können die daraus gewonnenen Wetterdaten für ihren Betrieb nutzen. Die Daten werden aber auch von der Kachelmann-Gruppe genutzt und verfeinert. Diese Daten nutzen wir, um zu klären, wann und wo Wetterereignisse eingetreten sind. Natürlich gehen aber auch unsere Sachverständigen auf die Felder und begutachten die Schäden.

Kommt es vor, dass Landwirte anderer Meinung sind als Sie?

Ja. Alles andere wäre ja auch verwunderlich. Aber das kommt selten vor. Unsere Sachverständigen vor Ort kommen selbst aus der Landwirtschaft und werden von Kollegen gewählt. Sie werden also respektiert. Da sie die Solidargemeinschaft vertreten, müssen sie ehrlich und sachgerecht sein. Generell haben wir selten Diskussionen. Und der einzige Rechtsstreit, der derzeit anhängig ist, stammt aus dem Jahre 2016. Andere Versicherungen habe ganze Rechtsabteilungen, die sich den ganzen Tag mit nichts anderem beschäftigen.

In all den Jahren, in denen Sie für die Vereinigte Hagel im Einsatz sind: Welches Unwetterereignis hat Sie am meisten bewegt?

Da gab es mehrere. Aber am schwierigsten waren die Hagelzüge in Bayern vor 20 Jahren. Im Juli 2004 hatten wir an einem einzigen Tag über 10 000 Schadensmeldungen. Innerhalb von einer halben Stunde war bei vielen Landwirten die Arbeit eines ganzen Jahres zerstört. Wenn man da einmal dabei war und sieht, wie ein gestandener Landwirt vor dem Desaster steht und weint, ist das schon bewegend. Gleichzeitig weiß man auch, wofür man da ist.

Was sagen Sie einem Landwirt, dessen Felder und Ernten der Natur zum Opfer gefallen sind?

Neben der finanziellen Komponente gibt es dabei eine zutiefst menschliche. Die Menschen, oft sind es ja Familienunternehmen, haben ein ganzes Jahr lang viel Arbeit investiert und ihre Felder gepflegt. Da müssen unsere Sachverständigen viel Feingefühl an den Tag legen und zuhören können. Diese psychologische Komponente ist sehr wichtig. Aber es beruhigt die Betroffenen sehr, dass wir ihnen versichern können, dass zumindest der finanziellen Schaden gut ersetzt wird.

Von welchen Schadenshöhen sprechen wir dabei?

Die höchste Entschädigung, die wir letztes Jahr an einen Betrieb gezahlt haben, lag bei 2,4 Millionen Euro. Das war natürlich ein Großbetrieb. Aber dass wir 100 000 Euro auszahlen, ist nicht ungewöhnlich. Daran sieht man, wie wichtig eine Versicherung für Landwirte ist.

Nun steht für Sie der Ruhestand an. Blicken Sie mit Wehmut zurück?

Ja. Ich habe den Beruf sehr gerne gemacht. Ich habe die Welt kennengelernt und meinen Horizont erweitern dürfen. Auf der anderen Seite merkt man, dass neue Zeiten kommen. Die Digitalisierung und der zunehmende Klimawandel zum Beispiel sind große Herausforderungen, Ich werde im Sommer 68. Jetzt darf es gerne die nächste Generation richten.

Und auf was freuen Sie sich im Ruhestand?

Auf mehr private Zeit. Ich war viel unterwegs, around the world, auch abends und an den Wochenenden. Jetzt freue ich mich darauf, mehr Zeit mit meiner Frau und meinen Söhnen verbringen zu können. Ich werde mich weiterhin in einigen Gremien engagieren und möchte mich auch Dingen widmen, für die ich früher keine Zeit hatte. Mir wird nicht langweilig werden.

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