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Geschichte Ehrung für Wulff

Wofür der Große Zapfenstreich in Wirklichkeit steht

Freier Autor Geschichte
Zapfenstreich Berlin 1872 / Lpz.Ill. Zapfenstreich Berlin 1872 / Lpz.Ill.
Seit den Befreiungskriegen entwickelte sich der Große Zapfenstreich als streng reglementierte Ehrung für hohe Repräsentanten des Staates und seine Gäste: Dreikaisertreffen von Wilh...elm I., Franz Joseph von Österreich und Alexander II. von Russland in Berlin 1872
Quelle: picture-alliance / akg-images
Über den Streit um den Großen Zapfenstreich für Christian Wulff geht verloren, wofür dieses Zeremoniell steht. Das Martialische spielt keine große Rolle.

Immer, wenn pazifistische oder andere Gruppen einen Vorstoß zur Abschaffung des Großen Zapfenstreichs der Bundeswehr machen, wird mit historischen Gründen argumentiert: Es handele sich um eine militärische Tradition aus der Epoche der Landsknechte und sei daher längst nicht mehr zeitgemäß und höchstens noch militaristische Folklore.

Dafür gibt es gute Gründe, die ebenfalls in der Geschichte liegen: Zwar ist nicht ganz klar, woher der Begriff stammt. Der Duden nennt den "Streich (Schlag) auf den Zapfen des Fasses als Zeichen dafür, dass der Ausschank beendet ist, dann: Begleitmusik dazu".

Historiker haben dagegen auf den Kreidestrich auf dem Bierfass verwiesen, mit dem der Quartiermeister im Feldlager das Ende des Ausschanks signalisierte. Beides jedoch verweist auf die überzeitliche, übermilitärische Bedeutung des Zapfenstreichs: die Disziplin. Zuwiderhandeln wurde "exemplariter abgestraffet werden", wie es in dem Buch "Der vollkommene deutsche Soldat" des sächsischen Majors Hans von Fleming von 1726 heißt.

Grundlagen des modernen Staates

Erst mit der Disziplinierung der frühneuzeitlichen Heere durch den Fürsten und ihre Unterwerfung unter die politischen Prärogative des Staates entstand das Fundament des modernen Gemeinwesens. Mehr noch, die derart disziplinierten Heere des Absolutismus ermöglichten es den Fürsten, auch die übrigen ständischen Privilegien innerhalb ihrer Herrschaften zu nivellieren. Dabei diente ihnen eine Beamtenschaft, die den militärischen Wertekanon übernahm: Disziplin, Treue an den Dienstherrn, Unbestechlichkeit, Effizienz.

Wenn heute noch die höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland zum Abschied mit einem Zapfenstreich von der Bundeswehr geehrt werden, hat das also durchaus noch einen tieferen Grund. Auch im aktuellen Fall von Christian Wulff steckt kein militärisches Säbelrasseln hinter dem abendlichen Aufzug von einem Musikzug samt zwei Zügen Begleitkommando und Fackelträgern, sondern die Akzeptanz einer Tradition, die zu den Grundlagen des modernen Staates gehört.

Auch wenn die Soldaten ihre Gewehre tragen, geht es auch weniger um die martialische Ausgestaltung des Zeremoniells, als vielmehr um einen Rahmen für Innerlichkeit und Demut. Nicht umsonst gipfelt der Große Zapfenstreich in dem Kommando "Helm ab zum Gebet", auf das eine Choralstrophe von Dmytro Bortnjanskyj folgt, der ein Text des Theologen Gerhard Tersteegen von 1729 unterlegt wurde: "Ich bete an die Macht der Liebe."

Den Weg dazu gewiesen hat der preußische König Friedrich Wilhelm III. Der hatte nach dem Sieg von Großgörschen 1813 über Napoleons Truppen im russischen Lager erlebt, wie die Soldaten nach dem Zapfenstreich noch einen Choral gesungen hatten. Mit Kabinettsordre vom 10. August 1813 befahl der König, dass von nun an auch in Preußen nach dem Ende des Ausschanks ein stilles Gebet gesprochen werden sollte, nach dem die "versammelten Trompeter oder Hoboisten … ein kurzes Abendlied blasen".

Auf der anderen Seite "Nun danket alle Gott"

Das Pikante daran: Bortnjanskyjs Melodie lag zunächst einem Freimaurer-Lied zugrunde, dessen Melodie in Russland bald so populär wurde, das ihm beinahe den Rang einer inoffiziellen Hymne zukam. Die Hohenzollern, mit den Romanows verschwägert und politisch eng verbunden, störten sich nicht daran.

Mit Friedrich Wilhelms Ordre begann der Aufstieg des Großen Zapfenstreichs in die künstlerische Sphäre mit eigenen Regeln. Natürlich war an den Lagerfeuern der preußischen Heere schon früher gesungen worden. Das berühmteste Lied ist "Nun danket alle Gott" von Martin Rinckart. Nach dem triumphalen Sieg Friedrichs des Großen über die Österreicher bei Leuthen 1757 sollen 25.000 überlebende Preußen das Lied angestimmt haben. Von da an wurde es geradezu zur Siegeshymne der preußischen Armeen.

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Der Choral erklang auf den Schlachtfeldern von Königgrätz und Sedan (und übrigens bei der Heimkehr der letzten deutschen Gefangenen 1955 im Lager von Friedland).

Ein hohes Maß an Körperbeherrschung

Während also Gott der Dank für seinen Beistand im Kriege mit Rinckarts Lied erwiesen wurde, entwickelte sich der Große Zapfenstreich zu einem repräsentativen, deutlich nach innen gerichteten Ritual. Gerade auch in seinen festen Spielregeln, die der Direktor des preußischen Musikkorps, Wilhelm Wieprecht, erstmals zusammenstellte und die, wie es der Sozialwissenschaftler Ulrich Steuten formulierte, "ein hohes Maß an Körperbeherrschung und Körperkontrolle unter dem Verzicht auf jegliche individuelle Äußerung abverlangt".

Gerade damit verweist der Große Zapfenstreich auf die von Max Weber formulierte "Rationalisierung aller Lebensbereiche" durch den modernen Staat. Es war daher durchaus folgerichtig, dass im NS-Regime die Regel galt, dass Parteiformationen das Zeremoniell nicht einsetzen durften. Nur die Waffen-SS, die sich als Konkurrenz zur Wehrmacht verstand, hielt sich nicht daran. Umgekehrt führte die DDR Anfang der Sechziger eine modifizierte Form des Großen Zapfenstreichs ein, was seine heutigen Kritiker aus Kreisen der Linken vermutlich verdrängt haben.

In dem Maße, wie die Zweifel an der Existenzberechtigung der Bundeswehr schwanden, stellten sich Repräsentanten der Bundesrepublik er traditionellen Ehrung. Zwar gab es immer wieder Debatten über Sinn und Unsinn der Veranstaltung, zum Beispiel 1995, als Bundeskanzler Helmut Kohl den Großen Zapfenstreich im Bonner Hofgarten ansetzte: zum 40. Jahrestag des Bestehens der Bundeswehr und kurz vor Entsendung von 2000 deutschen Soldaten als UN-Friedenstruppe nach Bosnien.

Die Diskussion über den damals größten Kampfeinsatz deutscher Truppen seit Ende des Zweiten Weltkriegs provozierte auch die Frage nach Traditionen, wie sie im Großen Zapfenstreich zum Ausdruck kämen. Damals scheiterten PDS und Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag mit ihrem Vorstoß, ihn abzuschaffen.

Seitdem haben sich Bundespräsidenten, Bundeskanzler und Verteidigungsminister die Ehrung nicht entgehen lassen. Helmut Kohl eröffnete gar den Reigen der Bundeskanzler, die sich mit einem Großen Zapfenstreich verabschieden ließen.

Im Rahmen des strengen Reglements gibt den zu Ehrenden nur die Musikauswahl die Möglichkeit, ein Zeichen zu setzen. Kohl stellte sich mit dem "Reitermarsch des Großen Kurfürsten", dem Choral "Nun danket alle Gott" und Beethovens "Ode an die Freude" in eine traditionelle Linie. Mit der inoffiziellen Europahymne zum Abschluss machte er aber deutlich, in welcher Perspektive er seine Kanzlerschaft verstanden wissen wollte. Bundespräsident Roman Herzog konnte sich mit dem "Bayerischen Militärgebet" einen Hinweis auf seine Landsmannschaft nicht verkneifen.

Zwischen Bekenntnis und Regenbogen

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Mit Gerhard Schröder begann die Öffnung zur populären Kultur: "Summertime" von Gershwin, Brechts "Moritat von Mackie Messer" und schließlich eine Trompetenversion von "My Way" soll Doris Schröder-Köpf für ihren Mann ausgesucht haben, heißt es. Verteidigungsminister Peter Struck verband mit dem "Reitermarsch des Großen Kurfürsten" und dem SPD-Lied "Wann wir schreiten Seit’ an Seit’" den Geist von Amt und Partei.

Bundespräsident Horst Köhler gab mit dem "St. Louis Blues" eine Ahnung von seiner inneren Befindlichkeit während Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg mit "Smoke on the Water" eher unfreiwillig einen Kommentar zu seinem Rücktrittsgrund blasen ließ. Schließlich gilt der Deep-Purple-Titel als meistgecoverter Rock-Song aller Zeiten.

Nun also Christian Wulff. Seine Kritiker werden in der historischen Herkunft des Großen Zapfenstreichs und ihren Vorwürfen an den ehemaligen Bundespräsidenten weitere Unpässlichkeiten entdecken. Sei’s drum: Wulffs Liedauswahl changiert zwischen einem klassischen Bekenntnis zu Europa ("Ode an die Freude") und Harold Arlens "Over The Rainbow" aus der Verfilmung des "Zauberers von Oz" (1939). In dem damals von Judy Garland gesungenen Lied mag etwas Melancholie mitschwingen. Einen Regenbogen gibt es schließlich nur, wenn es regnet. Im eitlen Sonnenschein verschwindet er.

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