Von „Barium-Phantasien“ zur Kernspaltung • pro-physik.de - Das Physikportal
17.12.2013

Von „Barium-Phantasien“ zur Kernspaltung

Vor 75 Jahren entdeckten Otto Hahn, Lise Meitner und Fritz Straßmann die Kernspaltung.

Es ist kurz vor Weihnachten im Jahr 1938. Im sechsten Jahr der nationalsozialistischen Diktatur liegen die Nerven Otto Hahns blank. Im Juli hat er seiner langjährigen Kollegin Lise Meitner in letzter Minute zur illegalen Flucht nach Stockholm verholfen. Die gemeinsam begonnen Versuche zu „Transuranen“ führt Hahn mit dem Chemiker Fritz Straßmann fort. Denn auch die Konkurrenz in Paris, Irène Joliot-Curie und Paul Savitch, arbeitet unbeirrt fort.

Beide Teams beschießen Uran mit Neutronen. Sie nehmen an, dass diese im Kern durch einen Betazerfall in ein Proton übergehen. Das bedeutet: Es entstehen künstliche Elemente schwerer als das Uran. So jedenfalls die Theorie des italienischen Physikers Enrico Fermi, der 1933, kurz nach der Entdeckung des Neutrons, alle chemischen Elemente systematisch bestrahlte. Als Lise Meitner von diesen Versuchen erfuhr, überredete sie Otto Hahn, die frühere Zusammenarbeit wieder aufzunehmen. Hahn war Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie. Meitner war 1933 wegen ihrer jüdischen Abstammung die Leitung der physikalisch-radioaktiven Abteilung und ihre Lehrerlaubnis entzogen worden.

Mit den Gerätschaften auf diesem Holztisch gelang Otto Hahn und Fritz Straßmann vor 75 Jahren zum ersten Mal nachweislich eine Spaltung von Atomkernen. (Foto: Deutsches Museum)

Hahn und Meitner bestätigten zunächst die Fermischen Transurane. Zwar äußerte die Chemikerin Ida Noddack von der benachbarten Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, der Urankern könne durch den Beschuss mit Neutronen auch „in mehrere große Bruchstücke zerfallen“. Aber das widersprach der Lehrmeinung der Physiker. Nach dem Flüssigkeitströpfchen-Modell des russischen Physikers George Gamow verhielt sich der Atomkern wie eine extrem dichte Flüssigkeit, die durch die Oberflächenspannung zusammen gehalten wird. Da Noddack keine Experimente machte, um Bruchstücke einer Spaltung nachzuweisen, wurde ihr Einwand ignoriert.

Allerdings berichtete die Pariser Arbeitsgruppe im Oktober 1938, sie habe Lanthan in ihren Proben nachgewiesen. Das widersprach der „Transuran-Hypothese“, denn Lanthan kommt in der radioaktiven Zerfallsreihe des Urans nicht vor. Hahn glaubte an einen Irrtum der französischen Kollegin; das Lanthan sei in Wirklichkeit Radium. Doch als er wenig später Gelegenheit hatte, in Kopenhagen mit Niels Bohr, Lise Meitner und deren Neffen Otto Robert Frisch darüber zu diskutieren, zeigten die Physiker sich skeptisch.

Hahn bleibt hartnäckig
Zurück in Berlin versuchten Hahn und Straßmann, das Radium durch eine Fällung mit Barium-Chlorid zu isolieren. Dabei machten sie eine verblüffende Entdeckung: „Aus irgend einem Grund wollten wir […] einen Teil des zugesetzten Bariums abtrennen. Das ging nun offenbar nicht recht“, erinnert er sich. Die beiden Berliner Chemiker setzten nun allen ihren Ehrgeiz daran, das Rätsel zu entschlüsseln. Am 19. Dezember schreibt Hahn an Meitner: „Liebe Lise, Es ist gleich 11 Uhr abends; um 11:30 Uhr will Straßmann wieder kommen, so daß ich nach Hause kann allmählich. Es ist nämlich etwas mit den Radiumisotopen, das wir vorerst nur Dir sagen. […] Es könnte noch ein merkwürdiger Zufall vorliegen. Aber immer mehr kommen wir zu dem schrecklichen Schluß: Unsere Ra-Isotope verhalten sich nicht wie Ra, sondern wie Ba. […] Vielleicht kannst Du dafür irgendeine phantastische Erklärung vorschlagen. Wir wissen dabei selbst, daß es eigentlich nicht in Ba zerplatzen kann.“

Zwei Tage später ist Hahn sicher, „daß die drei genau studierten Isotope kein Ra sind, sondern vom Standpunkt des Chemikers Ba“. Er setzt hinzu: „Wir können unsere Ergebnisse nicht totschweigen, auch wenn sie physikalisch vielleicht absurd sind. Du siehst, Du tust ein gutes Werk, wenn Du einen Ausweg findest.“ Lise Meitner ist beim Lesen dieses Briefes zugleich aufgeregt und beunruhigt: „Ich kannte zu genau Hahns und Straßmanns chemisches Wissen und Können, um auch nur eine Sekunde an der Richtigkeit ihrer überraschenden Ergebnisse zu zweifeln. Ich begriff, daß diese Resultate einen ganz neuen wissenschaftlichen Weg eröffneten – aber wie sehr waren wir in den früheren Arbeiten in die Irre gegangen.“

Ein physikalische Erklärung findet Lise Meitner an Heilig Abend 1938 bei einem Spaziergang mit Otto Robert Frisch durch das verschneite schwedische Kungälv: Große, instabile Kerne wie das Uran könnten eine Art „Taille“ bilden, so dass zwei etwa gleich große, leichtere Kerne entstehen, die wegen der gegenseitigen elektrischen Abstoßung mit großer Heftigkeit auseinander fliegen. Tante und Neffe setzten sich aufgeregt auf einen Baumstamm, um auf kleinen Zetteln die frei werdende Energie zu berechnen. Sie reicht nicht nur aus, die Oberflächenspannung des „Flüssigkeitstropfens“ zu überwinden, sondern ist viele tausend Mal größer als die bei einer chemischen Reaktion freigesetzte Energie.

Ein folgenreicher Winterspaziergang
Damit ist die experimentelle Beobachtung der Kernspaltung auch theoretisch bestätigt. Während Hahn noch auf die Erklärung seiner „Barium-Phantasien“ wartet, kehrt Frisch Anfang Januar „in aufgeregter Stimmung“ nach Kopenhagen zurück und berichtet Bohr über die Neuigkeiten. Von da an geht alles sehr schnell. Bohr ist nach fünf Minuten überzeugt. Er wundert sich lediglich, dass er nicht früher auf diese Möglichkeit gekommen ist. Am 26. Januar 1939 berichtet Bohr auf einer Tagung der American Physical Society in Washington über die bereits publizierte Arbeit von Hahn und Straßmann und die theoretische Deutung durch Meitner und Frisch. Einige Physiker stürzen in ihre Labors und können binnen kurzer Zeit die Kernspaltung mit physikalischen Methoden nachweisen.

Im März 1939 weisen Joliot-Curie und Savitch in Paris sowie Leo Szilard in New York nach, dass bei einer Kernspaltung genügend Neutronen für eine Kettenreaktion frei werden. Im Juni weist ein ehemaliger Kollege Meitners in Berlin, der Theoretiker Siegfried Flügge, als Erster auf die Möglichkeit hin, die kontrollierte Kernspaltung zur Energiegewinnung zu nutzen. Den ersten Reaktor, in dem eine kontrollierte Kettenreaktion abläuft, konstruiert Enrico Fermi 1942 in Chicago. Otto Hahn erhält 1944 den Chemie-Nobelpreis.

Anne Hardy 

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