1 Wandel der politischen Kultur

1.1 Die Ankunft im neuen Deutschland: Zur „Entstehung der Berliner Republik“

Am 20. Juni 1991 traf der Deutsche Bundestag eine Entscheidung von historischer Tragweite, als seine Mitglieder mit einer knappen, aber deutlichen Mehrheit dafür votierten, dass das Parlament und die Bundesregierung des wiedervereinigten Deutschlands künftig ihren Sitz in Berlin haben würden.Footnote 1 Obwohl Bonn im Vorfeld als klarer Favorit galt, konnte sich Berlin aufgrund großer Zugeständnisse schlussendlich doch noch durchsetzen. In der Debatte wurde die historische Dimension Berlins in den Vordergrund gestellt.Footnote 2 Nach Wolfgang Schäuble käme Berlin in einem Deutschland, welches seine innere Einheit noch finden und in einem Europa, das seine Einheit noch verwirklichen müsse, eine zentrale Bedeutung zu.Footnote 3

In diesem Kontext wurden sowohl von den Befürwortern als auch den Gegnern eines Regierungsumzugs Bonn und Berlin zu Symbolen erklärt, welche für unterschiedliche Konzepte des zukünftigen Charakters der Bundesrepublik Deutschland standen. Die Umzugsgegner sahen in Bonn den Inbegriff einer genügsamen und friedliebenden, fest in Europa integrierten und nach Westen ausgerichteten Republik, wohingegen ihnen Berlin als Sinnbild der dunklen Seiten der deutschen Geschichte galt: als Verkörperung des preußischen Militarismus, von Hybris, Wankelmut und Großmachtstreben, welches zu zwei Weltkriegen und zwei deutschen Diktaturen geführt hatte.Footnote 4 Die Umzugsbefürworter erinnerten dagegen an die demokratischen Traditionen, welche sich auch mit der ehemaligen Reichshauptstadt verbanden.Footnote 5 Außerdem, so führten sie an, habe es sich bei Bonn nicht umsonst nur um einen provisorischen Regierungssitz gehandelt und Berlin habe nach der Epochenwende des Jahres 1989 die einstige Randlage abgelegt und sei in die Mitte eines neuen demokratischen Europas gerückt.Footnote 6 Die Abstimmung über den Regierungssitz und die damit verbundene Diskussion waren auch Ausdruck eines Selbstverständnisses, welches das wiedervereinigte Deutschland in der Folge pflegen sollte.

Mit der Hauptstadtdebatte wurde auch der Begriff der „Berliner Republik“ in den Diskurs eingebracht.Footnote 7 Dennoch war der Ausdruck umstritten – und das auch unter Befürwortern eines Umzuges – weil er zwangsläufig mit einem Kontinuitätsbruch verknüpft war, dessen Eindruck man vermeiden wollte,Footnote 8 sodass Bundeskanzler Kohl von einem „ausgemachten Unsinn“ sprach.Footnote 9 Für Schäuble gab es weder eine „Bonner Republik“ noch würde es eine „Berliner Republik“ geben, von solchen „Wortungetümern“ halte er wenig.Footnote 10 Ebenfalls in der Wissenschaft mehrten sich die Stimmen, die bezweifelten, ob ein Regierungsumzug allein wirklich eine historische Zäsur darstelle. So brachte der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse den Einwand ein, dass ein Regierungsumzug nicht gleichzeitig auch für die Entstehung einer „neuen Republik“ sorgen würde, gehörten zu den Grundfesten der Bundesrepublik Deutschland doch weiterhin ihre innere Stabilität und äußerliche Verlässlichkeit, weshalb es sich allenfalls um eine um die neuen Bundesländer erweiterte Republik handeln würde.Footnote 11 Auch bei dem Historiker Fritz Stern löste die Sprache von einer Berliner Republik Unbehagen aus, da der Begriff eine Diskontinuität unterstreiche, welche seiner Auffassung nach gar nicht bestehe.Footnote 12 Stichhaltig waren ohne Zweifel die Argumente, dass sich die Republik verfassungsrechtlich nicht geändert habe und dass der Begriff zunächst noch ziemlich unklar wirkte.Footnote 13

Es waren aber in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung zunächst insbesondere ausländische Beobachter, welche von einer neuen Berliner Republik sprachen.Footnote 14 Neben den realen Veränderungen wiesen sie auf eine veränderte Rollenerwartung an das vereinigte Deutschland hin. Schneller als in Deutschland wurde die Berliner Republik im Ausland zu einem geläufigen Begriff.Footnote 15 Für die meisten ausländischen Beobachter war offenkundig, dass Bonn nicht Weimar war und Berlin auch nicht Bonn sein würde. Aus der Außenperspektive musste die veränderte internationale Umwelt auch zwangsläufig zu einer veränderten deutschen Außenpolitik führen.Footnote 16 Dabei wurde auch die Verlagerung des politischen Gravitationszentrums in die mit Abstand größte Stadt Deutschlands insbesondere von den europäischen Nachbarn als eine vollkommen neue Dimension bundesdeutscher Selbstdarstellung, als deutlicher Fingerzeig auf die zurückgewonnene volle Souveränität, den nicht unerheblichen politischen Machtzuwachs und das entsprechende Selbstbewusstsein der Bundesrepublik gewertet. Während Bonn als Regierungssitz politisches Understatement signalisiert hatte, wurde die Rückkehr nach Berlin als Anspruch wahrgenommen, auf der internationalen politischen Bühne fortan auf Augenhöhe mit Paris oder London agieren zu wollen.Footnote 17

Geprägt wurde der Begriff in Deutschland zunächst durch den konservativen Publizisten Johannes Gross und seinen Essay „Begründung der Berliner Republik“ aus dem Jahre 1995.Footnote 18 Hierbei brachte er den Terminus im historischen Vergleich zur Bonner oder Weimarer Republik nicht aus wertenden oder herabsetzenden Motiven in die Debatte ein, sondern lediglich zum Zweck der Beschreibung:Footnote 19 „Die Bundesrepublik ist durch die Wiedervereinigung nicht nur größer, sondern dank auch der sie begleitenden Veränderungen der internationalen Politik von Grund auf anders geworden.“ Auch wenn das Gesicht der Berliner Republik noch nicht in allen Zügen erkennbar sei, hätten sich doch schon schnell die Unterschiede zum Alten herausgezeichnet: „Die Berliner Republik ist mit der Bonner Republik staatsrechtlich identisch: Gesellschaftlich, politisch, kulturell ist sie es nicht.“ Außerdem ende mit dem Umzug nach Berlin die Kommunikationsschwäche unter den alten Eliten, da Berlin an die Stelle einer Vielzahl von Zentren treten werde und die Stadt „nicht nur Hauptquartier der Bundespolitik sein, sondern auch Lebensmittelpunkt der sie gestaltenden Personen“ würde.Footnote 20

Für den Historiker Manfred Görtemaker liegt der Unterschied zwischen „Bonner“ und „Berliner Republik“ weniger im Regierungsumzug – welcher erst 1999 erfolgte – sondern vielmehr in der Neuartigkeit des politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umfeldes, in welchem die Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung agiert: „Es hängt vor allem damit zusammen, dass sich die Rahmenbedingungen des Regierens und auch die der deutschen Position in der Welt geändert haben.“ Deshalb ist nach seiner Auffassung die Entstehung der Berliner Republik auf den 3. Oktober 1990 zu datieren, wobei von einem Kontinuitätsbruch nicht die Rede sein könne:Footnote 21 „Mit der Wiedervereinigung 1990 hat sich in erster Linie nicht der Ort, sondern die Bedingungen des Regierens fundamental verändert. Diese Entwicklung lässt sich im Jahr 2020 noch sehr viel deutlicher als damals erkennen.“ Auch habe sich innenpolitisch das Parteiensystem mit dem Aufkommen von Linkspartei und AfD gewandelt, womit sich auch die Struktur des Regierens innerhalb der Bundesrepublik grundlegend verändert habe. Außenpolitisch habe Deutschland dagegen eine wesentlich aktivere Rolle eingenommen: „Wir sind aus unserer Randlage im Ost-West-Konflikt in die Mitte des europäischen Kontinents gerückt. Dadurch haben wir im Grunde unsere alte geostrategische Mittellage gegenüber Russland und den osteuropäischen Staaten wiedergewonnen.“Footnote 22

Dagegen sieht Edgar Wolfrum im rot-grünen Wahlsieg 1998 und dem damit verbundenen Aufstieg der Nachkriegsgeneration in die höchsten Staatsämter das Ende der alten Bonner Republik.Footnote 23 Eine Deutung, an welcher auch die Protagonisten der Regierung Schröder ein Interesse besaßen, welche sich selbst als die Hauptrepräsentanten einer neuen politischen Ära zu profilieren und sich dadurch vom „System Kohl“ abzugrenzen versuchten.Footnote 24 Für Rödder ist der Hauptstadtumzug eine Folge der Wiedervereinigung und da dieser mit dem Ende der „Ära Kohl“ zusammenfalle, sei diese „das verbindende Element zwischen der alten Bundesrepublik und dem wiedervereinigten Deutschland. Schließlich kam das Mindset Kohls und der Regierung ganz aus der alten Bundesrepublik heraus.“Footnote 25 Auf die Zunahme sozialer und politischer Konflikte und das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Mentalitäten als Ausdruck einer „heterogener“ gewordenen Gesellschaft hat Gerhard A. Ritter hingewiesen.Footnote 26 Dass es sich bei dem wiedervereinigten Deutschland um eine „veränderte Republik“ handelt, unterstreicht zutreffend Klaus Schroeder in seiner Studie.Footnote 27 Stärker als prognostiziert habe sich die Welt und somit auch die Bundesrepublik gewandelt.Footnote 28

Damit verbunden war auch ein anderer Umgang mit dem schwierigen historischen Erbe der deutschen Geschichte, welches so maßgeblich für die Geschichtspolitik der alten Bundesrepublik gewesen war. So rief der Soziologe Heinz Bude die „Generation Berlin“ aus und erklärte somit die Bonner Republik zu einem abgeschlossenem Stück Geschichte.Footnote 29 Diese Generation habe für ihn die Aufgabe, die Berliner Republik jenseits „vergangenheitspolitischer Alarmreflexe“ zu begründen.Footnote 30 Deutschland sei damit nicht von seiner nationalsozialistischen Vergangenheit befreit, doch tauge „das Bewusstsein des Erbes nicht zur Rechtfertigung notwendiger außen-, wirtschafts- oder sozialpolitischer Richtungsentscheidungen.“Footnote 31 Die US-Amerikaner Andrei S. Markovits und Simon Reich drückten es dagegen sehr drastisch aus, dass der „Auschwitz-Bonus“ in der Berliner Republik allmählich schwinden würde und Deutschland mehr außenpolitische Verantwortung übernehmen müsse.Footnote 32

Dennoch erkennt Simms trotz des Aufkommens von Linkspartei und AfD eine „erstaunliche Stabilität der politischen Kultur, was zum Beispiel die Aufarbeitungskultur betrifft.“ Andererseits sei das Leben „kulturell hektischer geworden. Deutschland ist ja Durchreiseland in einem Maße, welche es vorhin nicht war. Das ganze Hinter- und Unterland, das ist alles neu.“ Trotzdem seien „die Deutschen hinsichtlich der Europapolitik weniger aktiv und positiv geprägt.“ Jedoch sei die Generation um Kohl, Fischer und Schäuble abgetreten oder kurz vor dem Abgang, was sich auch an den ausbleibenden europapolitischen Initiativen der Berliner Republik zudem erkennen lasse: „Ich glaube nicht, dass sich Deutschland mehr als Vorreiter einer immer vertiefenden europäischen Integration begreift, welche als Ziel einen europäischen Bundesstaat ausgibt.“Footnote 33

So hat sich laut Rinke mit dem Umzug von Bonn nach Berlin auch das „Selbstverständnis geändert, was aber jetzt weniger auf einen florierenden Nationalismus in Berlin zurückgeht.“ Insgesamt habe in Berlin die Anzahl politischer Gäste aus dem Ausland zugenommen, wodurch der Regierungsumzug auch große Veränderungen psychologischer Art ausgelöst habe: „Dies liegt auch am Standort Berlin, der attraktiv für Reisende ist und der aus dem Selbstverständnis meist nicht multilateral denkender Länder einen anderen Führungsanspruch als Bonn symbolisiert.“ Allerdings würden große Metropolen – dies könne man auch in London und Paris beobachten – dazu neigen, eine gewisse Selbstbezogenheit an den Tag zu legen.Footnote 34

Auch wenn die Bundesrepublik sich staatsrechtlich und institutionell seit der deutschen Einheit nicht groß verändert haben mag, wurde sie seitdem einem erheblichen Wandel unterzogen. Innenpolitisch wurde sie mit den Herausforderungen der Wiedervereinigung konfrontiert und auch die politische Kultur Deutschlands hat sich seitdem maßgeblich gewandelt, auch wenn alle Veränderungen bis heute noch nicht erfassbar sind. Ein Bruch mit der Bonner Republik hat jedoch nicht stattgefunden, vielmehr knüpfte das vereinigte Deutschland größtenteils an dessen – als positiv empfundene – Traditionen an. Daneben war es entscheidend, dass sich die weltpolitische Situation mit der Jahreswende 1989/90 radikal änderte und sich dies unweigerlich auch auf die deutsche Europa- und Außenpolitik auswirkte, wobei sich allmählich angesichts der Fülle der Aufgaben und Herausforderungen auch die deutsche Rolle verändern musste, sodass die Zeit der alten Bundesrepublik ein Ende fand.

Dieser Wandel, welcher nach Mauerfall und Wiedervereinigung die deutsche Innen- und Außenpolitik bestimmte und sich am besten terminologisch mit dem Übergang von der alten Bonner zu einer Berliner Republik darstellen lässt, umfasst einen längeren Zeitraum. Dieser erstreckt sich über verschiedene Daten und Ereignisse von der Wiedervereinigung, den ersten Bundewehreinsätzen, dem Regierungs- und Generationenwechsel 1998 bis hin zum Umzug der Regierung ein Jahr später. Entscheidend für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist aber die Stellung und Wahrnehmung Deutschlands in Europa, und die Tatsache, dass die vielen Veränderungen im wiedervereinigten Deutschland außerhalb oft früher und deutlicher registriert wurden und somit gerade unter ausländischen Deutschlandexperten viel unbefangener von einer Berliner Republik die Rede war. Aus dieser Perspektive ist der abgeschlossene Wiedervereinigungsprozess, welcher am 3. Oktober 1990 seinen Endpunkt fand, der – wenn auch nicht einzige – zentrale Punkt, an welchem es sich in der Folge zu orientieren gilt, wenn von der Entstehung der Berliner Republik die Rede ist.

Die größten Befürchtungen, welche in der Hauptstadtdebatte vorgetragen wurden, sollten sich aber nicht bewahrheiten. Trotz vermehrter Provokationen von populistischer Seite nimmt die Erinnerungskultur zu den Verbrechen des Nationalsozialismus auch in der Berliner Republik einen zentralen Platz ein. Vielmehr hat der Umzug nach Berlin die Selbst- und Fremdwahrnehmung des wiedervereinigten Deutschlands beeinflusst. So lockte Berlin im Gegensatz zu Bonn vermehrt Gäste aus anderen Staaten an und konnte dadurch als Hauptstadt in einem Atemzug mit London oder Paris genannt werden. Andererseits führte dies auch dazu, dass die „Berliner Blase“ noch hermetischer wurde als die „Bonner Blase“, in welcher sich die politischen Verantwortungsträger bewegen. Die damit einhergehende gestiegene Selbstbezogenheit birgt aber die Gefahr in sich, dass Impulse von außen verlorengehen und dadurch auch der europapolitische Diskurs zunehmend eingeengt wird. Gleichzeitig verbreitete sich sowohl im politischen Berlin als auch in der – zunehmend dem europäischen Projekt skeptischer eingestellten – öffentlichen Meinung der BundesrepublikFootnote 35 zunehmend der Eindruck, ein verstärktes politisches Gewicht innerhalb Europas auf die Waage zu bringen, ohne jedoch eine in Breite und Tiefe angelegte Debatte darüber zu führen, wie hiermit möglichst effektiv umgegangen werden kann.

1.2 Orientierungssuche in einer veränderten Welt

Der Fall des Eisernen Vorhangs veränderte die Bedingungen für die deutsche Außenpolitik nachhaltig, welche sich bis dato vor allem an den Strukturbedingungen des Kalten Krieges und der europäischen Integration orientiert hatte.Footnote 36 Auch wenn der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama seine These vom „Ende der Geschichte“, das heißt der weltweiten Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechte, propagierte,Footnote 37 offenbarten sich nach dem rapiden Verfall der kommunistischen Ordnung vielerorts neue Spannungen, welche wie auf dem Balkan zu Konflikten eskalierten.Footnote 38 Dabei zeigte sich schnell, dass sich die außenpolitische Agenda der Bundesrepublik nach dem Kalten Krieg nicht mehr auf die unmittelbare Nachbarschaft beschränken ließ und auch neue Instrumente erforderte.Footnote 39 Dennoch habe sich nach dem Ende des Kalten Krieges für Deutschland tatsächlich das „Ende der Geschichte“ eingestellt, so Maximilian Terhalle, da größere sicherheitspolitische Verwerfungen oder die Gefahr eines Krieges beiseite gekehrt wurden: „Deutschland ist ein von der wirtschaftlichen Globalisierung höchst profitierender Staat geworden, dessen Eliten in ganz großer Breite die Wohlstandsvermehrung Deutschlands an erster Stelle gesetzt haben.“ Gleichzeitig seien in den 1990er Jahren „sämtliche geo- und sicherheitspolitischen Voraussetzungen, dass dies überhaupt möglich ist, völlig außer Acht gelassen“ worden.Footnote 40

Nichtsdestotrotz wurde das wiedervereinigte Deutschland aus einer gewissen Beschaulichkeit gerissen, in welcher man sich aufgrund kalkulierbarer Bedrohungen zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes hatte einrichten können.Footnote 41 So erklärte auch Bundeskanzler Kohl am 4. Oktober, am Tag nach der Wiedervereinigung: „Dem vereinten Deutschland wächst eine größere Verantwortung in der Völkergemeinschaft zu, nicht zuletzt für die Wahrung des Weltfriedens. (…) Wir wollen dafür bald klare verfassungsrechtliche Voraussetzungen schaffen.“Footnote 42 Indes sah sich Deutschland nach der Wiedervereinigung sogar in besonderer Weise veranlasst, Vorsicht walten zu lassen, um nicht gar den Eindruck zu erwecken, man kehre zu nationalistischer Politik früherer Zeiten zurück.Footnote 43 So verwundert es auch nicht, dass Kohl nicht das schon im Mai 1989 unterbreitete Angebot des Präsidenten George H. W. Bush einer Führungspartnerschaft („partners in leadership“) aufgriff, gemeinsam mehr Verantwortung in einer neuen Ära zu übernehmen.Footnote 44

Hieraus ergab sich jedoch ein Dilemma, als im August 1990 irakische Truppen Kuwait überfielen, woraufhin einige Monate später eine alliierte Kriegskoalition unter Führung der USA gegen diese Verletzung des Völkerrechts eine Offensive gegen den Irak startete.Footnote 45 Mit der Zuspitzung der Golfkrise und dem Eingreifen der Vereinten Nationen war auch das vereinte Deutschland – seine Öffentlichkeit, seine Medien und insbesondere seine politischen Repräsentanten – aufgefordert, Stellung zu beziehen.Footnote 46 Hierbei stand aber eine Entsendung deutscher Truppen in die Kampfzone im Jahr 1991 nicht ernsthaft zur Debatte. Auf der politischen Linken, bei den Grünen und Teilen der SPD wurde jedwede Beteilung am Golfkrieg abgelehnt – häufig unter dem Hinweis auf die besondere Friedenspflicht Deutschlands, welche sich aus den nationalsozialistischen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, insbesondere der Judenvernichtung, ergab. Wieder spielte die deutsche Friedensbewegung eine gewichtige Rolle, deren Forderungen maßgeblich auch die öffentliche Meinung bestimmte.Footnote 47 Obwohl das Land nun außenpolitisch wieder souverän agieren konnte, blieben die Entscheidungsträger in Bonn dem Selbstverständnis einer Zivilmacht verbunden und scheuten – im Kontrast zu den westlichen Verbündeten – den Einsatz der eigenen militärischen Ressourcen.

Hätte sich die Bundesrepublik vollständig aus dem militärischen Geschehen im Mittleren Osten herausgehalten, hätte dies wohl zu einer dauerhaften Isolierung bei den eigenen Verbündeten geführt. Angesichts der Tatsache, dass diese sich teilweise immer noch mit dem wiedervereinigten Deutschland schwertaten, war dies eine Entwicklung, welche es aus Sicht der ersten gesamtdeutschen Bundesregierung zu vermeiden galt. Dennoch erwies sich der Handlungsspielraum für das Kabinett als relativ gering, da immer noch sowjetische Soldaten auf deutschem Territorium standen und die Frage noch nicht abschließend geklärt war, ob das Grundgesetz überhaupt solche Einsätze zuließ.Footnote 48 Letztendlich leistete die Bundesrepublik den Koalitionären beträchtliche Unterstützung – von der Zahlung erheblicher Geldbeträge über die Bereitstellung ihres Territoriums als Drehscheibe für den Nachschub bis hin zu umfangreichen Material- und Waffenlieferungen und einer Beteiligung an vorsorglichen militärischen Maßnahmen der NATO zur Verhinderung eines Angriffs auf den Bündnispartner Türkei.Footnote 49

Trotz dieser Anstrengungen sah sich die Bundesrepublik bei ihren Verbündeten und auch in der internationalen Presse mit dem Vorwurf konfrontiert, sie trage nicht im gleichen Maße wie die anderen die sicherheitspolitischen Lasten und betreibe eine Art „Scheckbuch-Diplomatie“.Footnote 50 Auch wenn die Bundesregierung aufgrund ihrer militärischen Enthaltsamkeit negative Konnotationen bezüglich der deutschen Geschichte vermeiden konnte und somit der deutschen Öffentlichkeit entgegenkam, welche sich noch in einem sehr unzureichenden Maße mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen vertraut gemacht hatte, führte diese mangelnde Übernahme von Verantwortung doch dazu, dass man gegenüber den eigenen Verbündeten nicht auf Augenhöhe auftreten konnte.

Aufgrund dieser Reaktionen erkannte die Bundesregierung, dass sie sich kein zweites Mal den Wünschen der Verbündeten oder der Vereinten Nationen nach militärischer Unterstützung entziehen können würde, ohne ihre Reputation als verlässlicher Partner aufs Spiel zu setzen.Footnote 51 Kurz nach Beendigung des Golfkrieges eskalierte die Situation in Jugoslawien, als die einzelnen Teilrepubliken ihre Unabhängigkeit von Belgrad forderten. Deutschland war von den anschließenden Kriegen unmittelbar betroffen, schon weil Hunderttausende Flüchtlinge und Vertriebene hier Zuflucht suchten.Footnote 52 Dabei handelte die Bundesrepublik Zeit ihres Bestehens in einer brisanten außenpolitischen Frage erstmals unilateral, als sie im Dezember 1991 die staatliche Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens anerkannte.Footnote 53 Mehrere westeuropäische Staaten – unter anderem Frankreich und Großbritannien –, die im eigenen Land ebenfalls Probleme mit Separatisten hatten, kritisierten scharf das unilaterale Vorgehen Bonns.Footnote 54 Daneben kamen auch Vorwürfe auf, die Bundesrepublik wolle sich in Südosteuropa eine neue Einflusssphäre schaffen.Footnote 55 Nichtsdestotrotz wirkte die Bundesrepublik in der Folge passiv, da sie sich immer noch vor Militäreinsätzen scheute und erst recht dort, wo einst die Wehrmacht als Besatzungsmacht aufgetreten war.Footnote 56 Angesicht der Kriegsgräuel, welche in der Folge auf dem Balkan stattfanden, wirkte das Vorhaben der Bundesregierung, zu einer diplomatischen Lösung des Konfliktes zu kommen, wie ein stumpfes Schwert.

Während sich die Konflikte auf dem Balkan verschärften, fällte das Bundesverfassungsgericht am 12. Juli 1994 ein schwerwiegendes Urteil, welches eine Zäsur darstellte: Das Grundgesetz autorisiere den Bund „nicht nur zum Eintritt in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und zur Einwilligung in damit verbundene Beschränkungen seiner Hoheitsrechte“, sondern biete auch die verfassungsrechtliche Grundlage „für die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System typischerweise verbundenen Aufgaben“.Footnote 57 Dies kam der Aufforderung zum Handeln gleich, da sowohl die NATO als auch die Vereinten Nationen als System kollektiver Sicherheit zu verstehen sind. Indes waren Einsätze der Bundeswehr weiterhin an das Votum des Bundestags gebunden, welcher den Einsatz von Aufklärungsflugzeugen auch autorisierte.Footnote 58 Im November 1995 wurde der Bosnienkrieg durch den Vertrag von Dayton beendet.Footnote 59 Unter dem Deckmantel der Vereinten Nationen nahm Deutschland schon Anfang der 1990er Jahren rund um den Globus an humanitären Aktionen teil.Footnote 60 Da nun die verfassungsrechtliche Grundlage geklärt worden war, konnte sich Deutschland seiner Verantwortung nicht mehr entziehen, wenn es sich international nicht isolieren wollte.

Die Tatsache, dass sich Deutschland nicht immer weiter den sicherheitspolitischen Herausforderungen entziehen konnte, wurde in den 1990er Jahren immer offensichtlicher. Als einer der ersten führenden Politiker des wiedervereinigten Deutschlands sprach dies Bundespräsident Roman Herzog im März 1995 vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik an:

„Das Ende des Trittbrettfahrens ist erreicht. Deutschland gehört zum Konzert der großen Demokratien, ob es will oder nicht, und wenn eine dieser Demokratien beiseite steht, schadet sie unweigerlich nicht nur den anderensondern letztlich auch sich selbst. (…) Immer deutlicher sehen wir, dass risikoscheues Nichthandeln auf die Dauer risikoreicher sein kann als risikobereites Handeln. Und ebenso richtig ist: Wenn wir den Risiken nicht vor Ort begegnen, kommen sie zu uns.“Footnote 61

In der gleichen Rede sprach Herzog einen weiteren sensiblen Punk an, wie Deutschland analog zu den anderen westlichen Demokratien seine Interessen artikulieren sollte. Ein Thema, welches bis dato von den meisten politischen Entscheidungsträgern tabuisiert und größtenteils nur in Fachkreisen bzw. in der Wissenschaft thematisiert worden warFootnote 62:

„Deutsche Interessen, das sind zunächst unsere unmittelbaren nationalen Interessen wie Sicherheit und Bewahrung von Wohlstand. Es hat keinen Sinn, das verschweigen zu wollen. Unsere Partner würden uns ohnehin nicht glauben, dass wir nur internationalen Altruismus im Schilde führen. Ganz besonders verlangt es die Wahrhaftigkeit zuzugeben, dass wir auch deshalb für weltweite Freiheit des Handels eintreten, weil das in unserem eigenen Interesse liegt.“Footnote 63

Diese Aussage verdeutlicht, dass seit Wiedervereinigung allmählich wieder unbefangener über nationale deutsche Interessen debattiert wurde. Zu Beginn der 1990er Jahre wurden die von deutschen Spitzenpolitikern artikulierten deutschen Interessen meist mit europäischen Interessen gleichgesetzt.Footnote 64 Bis dato wurde die Debatte vermieden, dass es genuin deutsche Interessen gab, welche sich von jenen der anderen (west-)europäischen Nationen unterschieden. Hier lässt sich eine Entwicklung von der Bonner hin zur Berliner Republik feststellen, auch wenn die Debatte hierüber den öffentlichen Diskurs zunächst nur indirekt berührte.

So vertrat Hans-Peter Schwarz als einer der Ersten in der Bundesrepublik die These, dass Deutschland genau wie Frankreich oder Großbritannien wieder eine europäische Großmacht sei. Es sei seiner Auffassung nach nicht zu leugnen, dass man sich nach der Wiedervereinigung durch seine geographische Lage und wirtschaftliche Potenz wieder in die Rolle der „Zentralmacht Europas“ begeben habe.Footnote 65 Aus dieser Tatsache könnten sich nicht erneut bestimmte Ansprüche ableiten, da dies innerhalb und außerhalb der Europäischen Union antideutsche Koalitionen hervorrufen könnte. Gespeist aus diesem Dilemma müsse das wiedervereinigte Deutschland prüfen, inwiefern es eine klarere und präzisere Definition der eigenen Interessen wahrnehme und diese umsichtig vertrete.Footnote 66 Hacke forderte ebenfalls eine stärkere Debatte über deutsche Interessen, welche zugleich eine außenpolitische Kultur in der Öffentlichkeit fördern müsse.Footnote 67

Egon Bahr sah sogar die Zeit gekommen, in der deutsche Macht sich normalisiert habe, da es keinen Grund mehr zur Furcht gebe: „Die Deutschem liegen an der Leine. (…) Die NATO hat neben allen anderen Aufgaben die der Kontrolle über Deutschland behalten. Deutschland kann keinen Staat mehr militärisch bedrohen.“ Nach Bahr lag hierin die Voraussetzung dafür, dass sich sowohl die Deutschen als auch ihre Nachbarn daran gewöhnen, dass „Deutschland normal wie jeder Staat, Macht und Einfluss ausübt“ und folgerichtig auch eine Definition der eigenen Interessen wahrnehmen könne.Footnote 68 Bahr sah auch eine weite Deckungsgleichheit zwischen europäischen und deutschen Interessen,Footnote 69 wobei diese Argumentation bis zur Wiedervereinigung noch in großen Teilen aufgehen mag, insofern sich die alte Bundesrepublik in politischer Zurückhaltung geübt hatte. Festzuhalten ist jedoch, dass er die wirtschaftliche Stärke, welche ein vereintes Deutschland entfalten kann, als harte Machtressource in seinen Ausführungen weitestgehend außen vorließ.

Dahingehend widmete sich Lothar Rühl Mitte der 1990er Jahre der Frage, wie das vereinte Deutschland als Mittelmacht Europas seine Interessen künftig so definieren könnte, dass es dadurch weiterhin ein tragender Pfeiler der Europäischen Union und der gesamten westlichen Allianz bliebe. Deshalb müssten deutsche nationale Interessen – deren Definition legitim sei – zwangsläufig auch mit einem europäischen und einem atlantischen Vorzeichen ausgerichtet sein, um in der Sicherheitspolitik für Stabilität zu sorgen und die europäische Einigung voranzutreiben. Da europäische und deutsche Interessen nicht zwangsläufig deckungsgleich seien, sah er hierin durchaus einen Spagat, welchen es durch geschicktes Austarieren der Interessen Deutschlands und dessen Partner zu meistern gelte.Footnote 70 Ebenso sahen Wilfried von Bedrow, Thomas Jäger und Michael Stürmer es als Aufgabe deutscher Außenpolitik an, eigene Interessen zu formulieren, ihre Durchsetzung aber multilateral zu betreiben und in den Dienst der internationalen Ordnung zu stellen.Footnote 71

Anfang der 1990er Jahr wirkten sowohl die deutsche Öffentlichkeit als auch die politischen Entscheidungsträger verunsichert in der Frage, wie man nach der wiedergewonnenen vollständigen Souveränität des Landes auf die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen eine Antwort finden sollte bzw. wie über die neue Weltlage und die Stellung der Bundesrepublik in dieser die notwendige Debatte geführt werden sollte. Nachdem es sich die Bonner Republik in ihrem Selbstverständnis als Zivilmacht gemütlich gemacht hatte, wurde nun allzu häufig ausgeklammert, dass auch Nichthandeln gravierende Konsequenzen mit sich bringen konnte. Wollte das wiedervereinigte Deutschland nicht nur formell, sondern auch de facto gleichberechtigt gegenüber Paris oder London auftreten, musste es sich genauso, wie es etwa diese beiden Staaten bereits taten, den Verpflichtungen innerhalb der westlichen Allianz stellen.

Wenn die Bundesrepublik dauerhaft eine solche verantwortungsvolle Position einnehmen wollte, musste sie – analog zu anderen Staaten – sich darüber klarwerden, wie eine präzisere Definition der eigenen Interessen aussehen könnte. Als diese Debatte nach der Wiedervereinigung etwa von Schwarz oder Rühl angestoßen wurde, kam richtigerweise auch immer der Hinweis mit ins Spiel, dass ebenfalls weiterhin das alte Diktum der Bonner Republik gelten müsse, dass Deutschland als Lehre aus der Vergangenheit – wenn es sich nicht isolieren wollte – „niemals allein“ in Europa agieren dürfe. So kann die Verlautbarung der eigenen Interessen auch bei den eigenen Partnern Verlässlichkeit vermitteln, allerdings nur unter der Prämisse, dass auch deren Interessen und Perspektiven einbezogen werden und gleichzeitig kompatibel mit den eigenen Zielen sind.

In den Jahren unmittelbar nach der Wiedervereinigung übte sich die Bundesregierung meist in Vorsicht, aus der Sorge heraus, im europäischen Ausland wieder als Großmacht auf dem Kontinent wahrgenommen werden zu können. Obwohl diese Sorgen berechtigt waren, führte dieses kleinlaute Verhalten – welches sich am eindrucksvollsten an der „Scheckbuch-Diplomatie“ abzeichnete – zu der nicht ganz unberechtigten Frage, ob die Bundesregierung angesichts steigender sicherheitspolitischer Herausforderungen auch ein zuverlässiger Bündnispartner sei. So wurden tiefgreifendere Debatten über Deutschlands neue Verantwortung in den 1990er Jahren vermieden, da die Entscheidungsträger häufig noch dem Selbstverständnis einer Zivilmacht verhaftet waren, welche den geopolitischen Herausforderungen weiterhin mit diplomatischen Mitteln und finanziellen Beiträgen begegnen könne.

1.3 Das Selbstverständnis der Regierung Schröder zwischen nationalen Interessen und Zukunftsvisionen

Angesichts der Skepsis, welcher der rot-grünen Bundesregierung im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 entgegenkam,Footnote 72 bemühte sich die neue Administration nach ihrem Wahlsieg zumindest rhetorisch um eine Demonstration von Kontinuität in der Außen- und Europapolitik.Footnote 73 Dennoch schlug Gerhard Schröder im Gegensatz zu seinem Vorgänger Kohl eine neue Tonart gegenüber Europa an. Während seiner Kanzlerkandidatur plädierte er zeitweilig dafür, die Einführung des Euros zu verschieben,Footnote 74 da es sich um eine „kränkelnde Frühgeburt“ handeln würde.Footnote 75 Schröder war bis dato ein äußerst pragmatisch denkender Landespolitiker gewesen, der zumindest rhetorisch spezifisch deutsche Interessen gerade bei der Diskussion um die EU-Beiträge hervorhob.Footnote 76 Hier sprach er sogar von deutschem Geld, „das in Brüssel verbraten“ würde.Footnote 77 Anders als sein Vorgänger hatte Schröder, Jahrgang 1944, den Nationalsozialismus nicht mehr bewusst miterlebtFootnote 78 und verstand Europa nicht wie Kohl als Verpflichtung, sondern als Option.Footnote 79

Als aufschlussreich für das Selbstverständnis des neuen Kanzlers Schröders erwies sich dessen erste Regierungserklärung am 10. November 1998, worin er sich sowohl zur Freundschaft mit den USA und Frankreich, zur NATO, EU und den Vereinten Nationen als auch zur Osterweiterung (siehe Abschnitt 6.2.3., S. 153–164) bekannte.Footnote 80 Obwohl sich die deutsche Außenpolitik weiter auf einem Pfad der Kontinuität befand, stellte der Kanzler gleichzeitig klar, dass mit dem Regierungswechsel auch ein Generationenwechsel stattgefunden habe:

„Dieser Regierungswechsel ist auch ein Generationswechsel im Leben unserer Nation. Mehr und mehr wird unser Land heute gestaltet von einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr unmittelbar erlebt hat. (…) Schon ein Blick auf die Regierungsbank oder auch in dieses Parlament zeigt, was die große Mehrheit unter uns politisch geprägt hat. Es sind die Biographien gelebter Demokratie.“Footnote 81

So müsse die jetzige Generation nicht ständig ihre demokratische Gesinnung unter Beweis stellen. Weiter implizierte Schröder, dass es sich bei Deutschland wieder um ein normales europäisches Land handle, das in Zukunft selbstbestimmt seine Interessen wahrnehme, da es zwar immer noch Verantwortung für die deutsche Geschichte trage, diese allerdings nicht mehr wie zuvor eine Bürde für das außenpolitische Handeln des Landes darstelle:Footnote 82

„Was ich hier formuliere, ist das Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch niemandem unterlegen fühlen muss, die sich der Geschichte und ihrer Verantwortung stellt, aber bei aller Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen, doch nach vorne blickt. (…) Auch unsere Nachbarn in Europa wissen, dass sie uns als Deutschen umso besser vertrauen können, je mehr wir Deutschen selbst unserer eigenen Kraft vertrauen.Footnote 83

Hier deutete sich an, was Schröder später direkter als Kern seiner außenpolitischen Philosophie formulieren sollteFootnote 84: „Dass auch die Deutschen ein Recht auf die Vertretung ihrer Interessen haben“, und es Inhalt seiner Politik sei, den Partnern „klarzumachen, dass die Deutschen selbstbewusst ihre Interessen vertreten.“Footnote 85 Bis dato hatte sich kein Bundeskanzler so forsch bezüglich der eigenen deutschen Interessen geäußert. Schröders Aussagen standen exemplarisch für das neue Selbstverständnis, welches nun in der Berliner Republik vorherrschte, sich nicht mehr hinter Paris oder auch London verstecken zu müssen und diesen beiden großen Nationen wieder auf Augenhöhe begegnen zu können.

Dagegen besaß Schröders grüner Außenminister Joschka Fischer ein deutlich emotionaleres, in vielem an Helmut Kohl anknüpfendes Verständnis von Europa und seiner Integration.Footnote 86 Fischer, dieses „grüne Findelkind Kohls und Genschers“,Footnote 87 verstand europapolitisches Engagement als historische Verpflichtung.Footnote 88 Wer vergesse, dass Europa auch die positive Antwort auf das Scheitern der deutschen Hegemonialpolitik gewesen sei, realisiere nach der Auffassung Fischers nicht, wie Deutschland von außen gesehen werde.Footnote 89 Einzig im Europa der Integration erblicke er eine erkennbare Zukunft,Footnote 90 weshalb die „Selbstbeschränkung der Macht weiter fortbestehen“ müsseFootnote 91: „Die Berechenbarkeit der Grundlagen deutscher Außenpolitik ist aber ein sehr, sehr hohes Gut, das wir von der Bonner Republik in die Berliner Republik nicht nur mitnehmen sollten, sondern mitnehmen müssen.“Footnote 92 Schon vor dem Regierungswechsel 1998 warnte Fischer vor einer Neuausrichtung der deutschen Europapolitik hin zu einer allzu offensiven Artikulation deutscher Interessen. Mit Blick auf die Geschichte sah er in der – Ende der 1990er Jahre in der Bundesrepublik kaum artikulierten – Problematik der kritischen deutschen Größenordnung die Gefahr einer erneuten Isolation Berlins auf dem Kontinent. Hierbei sparte er auch indirekt nicht an Kritik gegenüber seinem späteren Regierungspartner Schröder:

„Was ich nun mit großer Sorge und mit spitzen Ohren gegenwärtig im Bundestag höre, ist, dass mit einer fast schon wilhelminisch anmutenden Sorglosigkeit der Begriff des ‚nationalen Interesses‘, der Begriff des ‚wir müssen wieder stärker deutsche Interessen in Europa vertreten‘ und ähnliche Töne mehr in den Vordergrund der Rhetorik treten. (…) Denn wenn jüngere Vertreter deutscher Volksparteien, die heute bereits in wichtiger Position sind, glauben, dass man verstärkt das nationale Interesse zum Maßstab deutscher Europapolitik machen sollte, dann werden wir in Europa unser blaues Wunder erleben. Wir werden nämlich sehr schnell auf eine ziemlich geschlossene Abwehrfront unserer Nachbarn treffen, und wir werden dann erneut feststellen, dass das europäische Gleichgewichtssystem auch unter der Decke der europäischen Integration und auch in der europäischen Hülle mit seinen Imperativen fortexistiert. Wir werden das ganze Elend von De-facto-Koalitionen gegen diese deutsche ‚Interessenpolitik‘ erleben.“Footnote 93

Zwischen dem Kanzler und seinem Außenminister herrschten teilweise konträre Ansichten darüber, wie sich die deutsche Europapolitik ausrichten sollte. Für Schröder stand im Gegensatz zu seinen Vorgängern nicht mehr die schwierige deutsche Geschichte im Vordergrund, was er daran verdeutlichte, einer Generation anzugehören, welche nicht mehr von den Gräueln der Nationalsozialisten befangen war. Für Fischer bestimmte die Vergangenheit maßgeblich immer noch die Gegenwart: Eine gefühlte deutsche Dominanz war für ihn ein wiederkehrendes Muster, welches in vielen anderen europäischen Hauptstädten vorherrschte. Es wäre daher auch falsch, Fischer verkürzt als reinen Idealisten darzustellen, der versuchte, gegen die Wahrnehmung eigener nationaler Interessen Barrikaden zu errichten. Vielmehr war ihm bewusst, dass sich als Lehre aus der Geschichte die Fremd- und Selbstwahrnehmung der Deutschen doch wesentlich unterschieden und dass der Vorwurf nach deutscher Dominanz – bei ungeschicktem Agieren seitens Berlins – in Europa wieder schnell ertönen könnte.

Aufgrund dieser teils divergierenden Auffassungen zur Europapolitik kam es zwischen Kanzler und Außenminister häufiger zu Spannungen.Footnote 94 Schon vor der Regierungsbildung ließ Schröder seinen späteren Minister wissen: „Der Größere ist Koch, der Kleinere ist Kellner.“Footnote 95 Im Laufe seiner Kanzlerschaft nahm Schröder die Richtlinienkompetenz in diesem Politikfeld immer stärker warFootnote 96 und setzte nach der Bundestagswahl 2002 auch durch, dass im Bundeskanzleramt eine eigene Europaabteilung eingerichtet wurdeFootnote 97 und er somit seinen Einfluss noch effektiver geltend machen konnte. Dennoch konnte Fischer den Spielraum seines Amtes nutzen, um erhebliche Akzente, vor allem bei der konstitutionellen Weiterentwicklung der EU, zu setzen. Allerdings sollte es zu einem stückweisen Wandel in der deutschen Europapolitik kommen, so dass diese von nun wesentlich stärker von innenpolitischen Stimmungen geprägt war. Letztendlich war auch in der Bundesrepublik die Bereitschaft zu einem schnelleren Tempo der europäischen Integration massiv gesunken: Hatten sich dies Ende der 1980er Jahre noch mehr als 50 %der Bundesbürger gewünscht, waren es zehn Jahre später nur noch gut 10 %.Footnote 98

Diese Haltung offenbarte sich allerspätestens auf dem EU-Gipfeltreffen von Nizza im Dezember 2000, welcher fast in einem Fiasko endete. Zwischen Berlin und Paris eskalierte der Streit über das EU-Budget und bei der Frage, wie die Stimmen im Ministerrat neu zu gewichten seien, da Deutschland deutlich mehr Einwohner besaß als Frankreich.Footnote 99 Dabei kam bei dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac auch die Sorge vor einem nicht mehr kontrollierbaren Übergewicht des östlichen Nachbarn hoch:Footnote 100 „Deutschland, seit der Wiedervereinigung mit einem erhöhten politischen, ökonomischen und demographischen Gewicht ausgestattet, erwartete, dass sich in den gemeinsamen Institutionen das durchsetzte, was es als Vorteil oder Vorrang betrachtete.“Footnote 101 Frankreich wollte es nicht tolerieren, in europäischen Gremien weniger Stimmen als Deutschland zu besitzen,Footnote 102 wobei hier besonders die südeuropäischen Staaten eine ähnliche Haltung einnahmen.Footnote 103 Zudem verlor die französische Atomstreitmach zunehmend an Bedeutung hinsichtlich einer politischen Führungsrolle.Footnote 104 Dies resultierte auch aus der Angst Paris und anderer Länder heraus, in einem erweiterten Europa künftig deutlich Macht zugunsten Berlins abgeben zu müssen (siehe Abschnitt 6.2.3., S. 158–159).Footnote 105 Mit zehnjähriger Verzögerung, so der französische Vorwurf, zeigte sich beim sehr viel selbstbewusster handelnden Deutschland nun doch das während des deutschen Einigungsprozesses befürchtete dominante Auftreten als größtem EU-Mitglied.Footnote 106

Letzten Endes war die Abwehrfront gegen ein größeres institutionelles Gewicht Deutschlands so groß, dass Schröder einlenkte, damit bei der institutionellen Reform der Union Fortschritte erzielt werden konnten. So akzeptierte er, dass Deutschland mit 29 weiterhin nicht mehr Stimmen im Ministerrat als Frankreich, Italien oder Großbritannien haben würde und ließ sich dagegen eine höhere deutsche Stimmenzahl im Europaparlament und die Ausweitung des qualifizierten Mehrheitsentscheids im Rat zusichern,Footnote 107 weshalb Schröder nach dem Gipfel auch verkündete: „Das Gewicht Deutschlands ist gewachsen.“Footnote 108 Aber auch die finanziellen Zugeständnisse, welche der Kanzler in seiner ersten Amtsperiode herausschlagen konnte, blieben marginal, da die anderen Staaten hier kaum Zugeständnisse machen wollten.Footnote 109

Eher unfreiwillig musste Schröder das Diktum seines Amtsvorgängers akzeptieren, welcher im Dezember 1996 noch hervorgehoben hatte, dass es Deutschland als größtem EU-Mitglied fernliege „einen hegemonialen Einfluss auszuüben“, und versicherte: „Um es ganz deutlich zu sagen: Wir wollen nicht mehr Gewicht bekommen als andere große Mitgliedstaaten.“Footnote 110 Der Gipfel von Nizza, welcher durch den deutschen-französischen Streit geprägt war, stellte nicht nur einen Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen beiden Staaten dar, sondern führte auch zu einer Lähmung der Union, da die dortigen Verhandlungen stark von innenpolitischen Überlegungen geprägt waren. Angesichts der verheerenden Folgen, welche einen Ausfall des deutsch-französischen Tandems bedeuteten, sollten beide Regierungen kurz danach wieder ihre Zusammenarbeit intensivieren.

So sollten Berlin und Paris an einem Strang ziehen und ihre kurzfristigen Interessen den Vereinbarungen des Maastrichter Regelwerks vorziehen, als der zuständige EU-Währungskommissar im Frühjahr 2002 aufgrund der Verletzungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ein Defizitverfahren gegen beide Staaten anregte.Footnote 111 Besonders pikant war, dass der Bundesrepublik aufgrund einer überhöhten Neuverschuldung ein Defizitverfahren drohte, weil sie selbst maßgeblich den Stabilitätspakt zur Vermeidung einer laxen Haushaltspolitik in den anderen Mitgliedstaaten der Währungsunion initiiert hatte. Kurz vor der anstehenden Bundestagswahl fürchtete sich die deutsche Bundesregierung vor verheerenden innenpolitischen Konsequenzen, würde es zu einem „Blauen Brief“ der EU-Kommission kommen, welcher eine Verwarnung aufgrund dieser Verletzung darstellen würde.Footnote 112 Dieser Schritt hätte für einen betroffenen Mitgliedsstaat nicht nur eine hohe symbolische Bedeutung gehabt, sondern auch eine bedeutende Einschränkung der politischen Handlungsfähigkeit bedeutet, da er die Mitgliedstaaten bindet, die vorgeschlagenen Maßnahmen zu ergreifen, und die letzte Stufe vor der Einleitung eines Sanktionsverfahrens darstellt.Footnote 113

Als sich offenbarte, dass im gleichen Jahr möglicherweise Frankreich ebenfalls die Kriterien nicht einhalten würde, konnte die Bundesregierung im Zusammenspiel mit Paris dafür sorgen, dass die fällige Rüge ausblieb.Footnote 114 Bei der Abstimmung im Rat im November 2003 blockierten die großen Mitgliedstaaten, an ihrer Spitze Deutschland, – in der Mehrzahl von Frühwarn- oder Defizitverfahren betroffen – die Kommissionsempfehlung mit der Begründung, dass diese mit den ökonomischen Realitäten nicht mehr kompatibel sei.Footnote 115 Somit weichte die Bundesrepublik die Kriterien der Gemeinschaftswährung auf, welche sie noch einige Jahre zuvor auf die restlichen Teilnehmerländer hatte übertragen können und löste eine Spirale aus, welche im Gegensatz zu den eigenen Interessen in der Geld- und Wirtschaftspolitik lagen.

Einen gestalterischen Beitrag zur Zukunft Europas dagegen lieferte das deutsch-französische Tandem bei der Konzipierung des europäischen Verfassungsvertrags. Ein gewichtiger Impuls zum Anstoß der Debatte kam hierbei von Fischer durch seine als Privatmann gehaltene Humboldt-Rede im Mai 2000, in welcher er versuchte, eine Antwort auf die „Finalität Europas“ zu finden. Darin plädierte er für eine Föderation mit einem Zwei-Kammern-Parlament und einer gemeinsamen Regierung. Diese Föderation sollte zunächst eine „Avantgarde“ besonders integrationswilliger Länder umfassen, die als „Gravitationszentrum“ auf die anderen Mitglieder wirken würden, und auf einem Verfassungsvertrag beruhen.Footnote 116 Angelehnt waren diese Gedanken an ein ähnliches Modell, welches Schäuble und Karl Lamers entworfen hatten: Beide hatten die Idee eines Europas der konzentrischen Kreise, dessen Kern Deutschland und Frankreich bilden sollten. Dadurch würde auch Deutschland sämtlichen hegemonialen Bestrebungen entsagen und als „ruhige Mitte Europas“ wirken.Footnote 117 Auch wenn die Rede vor allem in Frankreich und Großbritannien auf eine höfliche Ablehnung stieß, da die dortigen politischen maßgeblichen Kräfte kaum daran dachten, das eigene Land in eine europäische Föderation einzugliedern, die einem Bundesstaat nach der Art der Bundesrepublik Deutschland zum Verwechseln ähnlich gesehen hätte,Footnote 118 entfachte der Vorstoß doch eine innereuropäische Debatte und wurde von mehreren europäischen Spitzenpolitikern aufgenommen.Footnote 119

In der Folge beschloss der Europäische Rat beim Gipfel von Laeken im Dezember 2001 einen Konvent einzuberufen, an dem auch die Vertreter der Beitrittskandidaten mit beratender Stimme teilnehmen konnten und die Zielsetzung hatte, „die Union demokratischer, transparenter und effizienter“ zu machen.Footnote 120 Die Beratungen wurden von deutsch-französischen Initiativen begleitet, welche in erster Linie von Fischer und seinem französischem Amtskollegen Dominique de Villepin angestoßen wurden. Tenor zwischen beiden Staaten war, die europäische Zusammenarbeit auf möglichst vielen Gebieten zu stärken. Außerdem sollte die institutionelle Architektur der Union umgeschaltet und unter anderem das Amt eines europäischen „Außenministers“ geschaffen werden. Auch das Gewicht des Europäischen Parlaments wollten die beiden stärken. Schließlich votierten sie ebenfalls für einen hauptamtlichen, mehrjährig amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates.Footnote 121 Das Zusammenspiel zwischen beiden Administrationen prägte auch den Entwurf des Verfassungsvertrags, welcher im Juli 2003 vom Konvent verabschiedet wurde.Footnote 122

Nach zähen Verhandlungen der Staats- und Regierungschefs wurde der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet. Unbestreitbar stellte der Vertrag einen Zuwachs an Transparenz und Effizienz dar. Die EU avancierte zu einer Rechtspersönlichkeit, die nunmehr auch nach außen als Völkerrechtssubjekt würde auftreten können. Die Mehrheitsbeschlüsse im Europäischen Rat sollten vereinfacht werden. Die Handlungsfähigkeit der Union sollte durch die Stärkung des Kommissionspräsidenten, des Europäischen Parlaments sowie der Schaffung des Postens eines Präsidenten des Europäischen Rates und eines eigenen Außenministers gestärkt werden.Footnote 123 Der Vertrag wurde im Mai 2005 mit überwältigender Mehrheit durch Bundestag und Bundesrat beschlossen.Footnote 124 Kurz darauf votierten allerdings die Franzosen und die Niederländer in Volksabstimmungen gegen die Annahme des Vertrages.Footnote 125

Hinsichtlich der Russlandpolitik nahm Schröder wiederum selbst die Zügel in die Hand, wobei sich zwischen ihm und dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin schnell ein enges persönliches Verhältnis entwickelte.Footnote 126 Aufgrund der wieder gewachsenen globalen Bedeutung des Landes und der gewandelten Interessen Deutschlands wurde Russlandpolitik spätestens seit 2002 zur „Chefsache“ des Kanzlers.Footnote 127 Nach seiner „sentimentalen Hinwendung zu Russland“Footnote 128 bilanzierte Schröder am Ende seiner Amtszeit: „Heute sind Deutsche und Russen einander so eng verbunden wie nie zuvor. Uns eint eine strategische Partnerschaft für ein friedliches, prosperierendes Europa und eine stabile Weltordnung.“Footnote 129 Die Opposition im Bundestag forderte angesichts autoritärer Tendenzen in „Putins Russland“ eine Politik der „klaren Worte“, die Berücksichtigung der kleineren mittelosteuropäischen Staaten und eine klare Absage an Achsenbindungen mit Russland.Footnote 130 Im Fokus der bilateralen Beziehungen standen vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen, wobei Russland einerseits als Absatzmarkt für deutsche Produkte und andererseits als Energielieferant für Öl und Gas diente, was das Land zum wichtigsten Versorger Deutschlands machte. In der Folge kam es zu dem durch Putin und Schröder 2005 initiierten Projekt des Baus einer Nord-Stream-Pipeline (siehe Abschnitt 8.1., S. 249–263) durch die Ostsee.Footnote 131 Dieses Vorhaben stieß bei den mittelosteuropäischen EU- und NATO-Mitgliedern auf scharfe Kritik, da man sie nicht einbezogen hatte.Footnote 132

Auch die beiden rot-grünen Bundeskabinette ließen während ihrer Amtszeit keinen Zweifel an ihrer multilateralen Ausrichtung aufkommen. Dennoch kam es insofern zu einem Wandel, dass die Bundesrepublik – verkörpert in erster Linie durch den Kanzler – sich nicht mehr als europäischer Musterschüler verstand, welcher seine Hausaufgaben gewissenhafter als Paris oder London erledigen musste und hierfür im Zweifel auch größere finanzielle Lasten tragen musste. Das Diktum, dass die Zeit der Zurückhaltung und Selbstbeschränkung Deutschlands vorbei war, sorgte aber in Frankreich und in anderen Ländern für Unbehagen, da diese befürchteten, dass sich die Bundesrepublik allmählich durch ihren Ruf nach vergrößertem institutionellem Gewicht aufmachen würde, wieder zur dominierenden Kraft in Europa zu werden. Die daraus resultierende Blockadehaltung beim Gipfel von Nizza führte zu einer Lähmung der Union, auch weil die unterschiedlichen Zielvorstellungen zwischen den einzelnen Staaten zuvor nur unzureichend aufeinander abgestimmt wurden. Diese Entwicklung wurde auch dadurch herbeigeführt, dass in Deutschland die jeweiligen Bundesregierungen mit einer öffentlichen Meinung konfrontiert waren, welche nicht mehr die Euphorie vergangener Tage gegenüber der europäischen Integration teilte und sich so ein Trend manifestierte, dass die deutsche Europapolitik zunehmend von innenpolitischen Überlegungen geprägt wurde.

Als besonders problematisch erwies sich die offensive Artikulation deutscher Interessen, ohne diese mit der Kompatibilität der Interessen der eigenen Nachbarn und Verbündeten hinreichend zu prüfen. Dies zeigte sich eindrucksvoll bei dem zwischen Moskau und Berlin abgeschlossenen Nord-Stream-Projekt, bei welchem die geopolitischen Befürchtungen der Länder Mittel- und Osteuropas nur unzureichend berücksichtigt wurden. Einen gestalterischen Beitrag konnte das vereinigte Deutschland dagegen dort leisten, wo es die Initiative übernahm, ohne jedoch auf das Zusammenspiel mit den eigenen Partnern zu verzichten, wie dies bei der Ausarbeitung des europäischen Verfassungsvertrages besonders mit Frankreich der Fall war. So offenbarte sich schon Anfang der 2000er Jahre, dass der Weg, welchen Europa einschlug – noch nicht so stark, wie ein Jahrzehnt später –, maßgeblich von Berlin beeinflusst wurde. Dadurch führte die Inanspruchnahme des kurzfristigen deutschen Interesses, das fällige Defizitverfahren aufgrund der zu hohen Neuverschuldung zu verhindern, zu einer nachhaltigen Unterminierung des Maastrichter Vertragswerks.

2 Deutschlands neue Mittellage und die Rückkehr der Geopolitik

2.1 Zur Konzeption der Geopolitik

2.1.1 Geopolitik

Der Terminus „Geopolitik“ wird oft unscharf verwendet und ist meist nur unzureichend definiert worden.Footnote 133 Eine gründliche Auswertung der umfangreichen Literatur zu den Begriffen „Politische Geographie“ und „Geopolitik“ macht deutlich, dass es eine Vielzahl unterschiedlicher definitorischer Interpretationsansätze gibt, doch lassen sich beinahe alle in drei generelle Kategorien verorten:Footnote 134 So verwenden einige Autoren Geopolitik synonym zum Begriff Politische Geographie;Footnote 135 das Verhältnis von Politischer Geographie und Geopolitik erscheint somit als notwendige dialektische Zuordnung. Andere vertreten die gegenteilige These und halten eine Trennung der Politischen Geographie als „reine Wissenschaft“ von der angewandten Wissenschaft Geopolitik für sinnvoll.Footnote 136

Insofern man Geopolitik nicht als eigenständige Disziplin, sondern als Derivat der Politischen Geographie begreift, suggeriert die Nutzbarmachung geographischer Informationen und Perspektiven in Verbindung mit verschiedenen anderen Faktoren durch die Außenpolitik eines Staates danach die Definition von Geopolitik als eine Art „angewandte Politische Geographie“, welche aus der Notwendigkeit einer Differenzierung beider Begriffe keine allgemeingültige Regel einer möglichen Abgrenzung zulässt.Footnote 137 In dieser vorliegenden Arbeit soll der Definition von Heinz Brill gefolgt werden, welche das Wesentliche wiedergibt.Footnote 138 Demnach meint:

„Geopolitik die Untersuchung des Einflusses von Faktoren wie Geographie, Ökonomie und Bevölkerungszahl auf die Politik, insbesondere die Außenpolitik eines Staates. (…) Geopolitik ist die Lehre vom Einfluss des geographischen Raumes auf die Politik eines Staates.“Footnote 139

Geopolitik setzt sich aus den Begriffen Geographie und Politik zusammen. Die Abhandlungen geopolitisch-ähnlicher Vorstellungen lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Die Erforschung fremder Kontinente, Merkantilismus, Sozialdarwinismus, Demographie, Einflussräume, die Versorgung mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln, die Migration nach Übersee zur „Zivilisierung“ bzw. Inbesitznahme fremder Länder waren Elemente dieser frühen, auf den jeweiligen nationalen Expansionismus ausgerichteten Betrachtungen.Footnote 140 Die Grundlage für die Verbindung von Politischer Wissenschaft und Geographie wurde Ende des 19. Jahrhunderts gelegt.Footnote 141 Bis in das Jahr 1875 verstand die gelehrte Welt der Länder- und Staatskundler unter „Politischer Geographie“ nichts weiter als die Sammlung von statistischen Daten der Ökonomie, Demographie oder Politik bezogen auf ein Staatsgebiet.Footnote 142

Dabei legte der Zoologe Friedrich Ratzel die Grundlage einer Politischen Geographie, indem er als Erster sozialdarwinistische Konzepte mit der Entwicklung von Staaten verknüpfte, wobei er den Staat als einen erdgebundenen Organismus im Wettstreit um Raum mit anderen Staaten verstand.Footnote 143 Die Lage meint nach Ratzel in der Politischen Geographie wesentlich mehr als nur eine Angabe der Länge und Breite eines Staates. Die Lage bezeichnet die Situierung einer politischen Lebensform in einer physikalisch und biologisch bestimmten ökologischen Nische,Footnote 144 denn aus Sicht der Politischen Geographie wird „der Kampf ums Dasein im Grunde immer um Raum geführt.“Footnote 145 Kriege sind nach diesem Verständnis „anthropogeographisch“ ein von Staaten und Völkern gegeneinander geführter „Kampf um Raum“. Hierbei gibt es immer nur vorläufige Gewinner dieser Räume für das eigene Wachstum, welche diese besser zu nutzen wussten als die Verlierer, die dementsprechend Einbußen hinnehmen mussten.Footnote 146 Die in Ratzels Denken vorherrschende raumbezogene Dynamik von Staaten hat viel mit der „verspäteten“ deutschen Nationalstaatsgründung und der deutschen Sehnsucht nach Kolonien und Weltgeltung in Konkurrenz zu Großbritannien, Frankreich und anderen großen Mächten zu tun.Footnote 147 Sie ist für Ratzel einer der Hauptfaktoren, welche das Leben des Staates als Organismus betreffen, also Einfluss auf seine „geschichtliche Bewegung“ besitzen, das heißt auf sein Wachstum und seine Regeneration.Footnote 148 Wenn ein Staat seine Lage nicht begreife, sterbe er früher oder später ab.Footnote 149

Der deutsche Ausdruck „Geopolitik“ wurde 1899 erstmals von dem schwedischen Staatswissenschaftler und Politiker Rudolf Kjellén geprägt, welcher den Terminus wie folgt definierte: als „die Lehre vom Staat als geographischen Organismus oder Erscheinung im Raume: also der Staat als Land, Territorium, Gebiet oder (…) Reich“.Footnote 150 Wie Ratzel ging auch Kjellén von einer organischen Sicht des Staates als Lebewesen aus.Footnote 151 Bei beiden war der „Raum“ staatsbezogen, definiert als „Lebensraum“, welcher mit der Bevölkerung wachsen müsse und dessen Grenzen daher stets im Fluss seien: ein Spiegelbild der Stärke des Staates und der Bedürfnisse der Bevölkerung, die bis zur Aneignung „peripherer Gebiete“ reichen konnten, wie das Beispiel USA zeigte.Footnote 152 Lage, Ressourcenausstattung und Größe des Raumes, nicht aber die inneren gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse bestimmen die Definition von Bedingungen staatlicher Entwicklung und „Lebensfähigkeit“. Dieser funktionale Zusammenhang zwischen Staat und Raum wurde bei Ratzel wie Kjellén in Form von „Gesetzen“ formuliert und damit zum „Geodeterminismus“ erhoben. Bei beiden determinieren der Raum und die Lage keineswegs die Geschichte eines Volkes, jedoch stellen sie die „natürlichen Grundlagen“ der Evolution eines „Staates als Organismus“ dar. Entweder können die daraus resultierenden Optionen genutzt werden oder die sich hieraus ergebenden Chancen als Möglichkeiten verkannt werden.Footnote 153

Im angelsächsischen Sprachraum werden in erster Linie die Namen Alfred T. Mahan und Halford J. Mackinder genannt, wenn nach den Gründern der Geopolitik gesucht wird. Sie gehen im Gegensatz zu Ratzel und Kjellén nicht davon aus, dass Staaten politische Organismen seien und ebenfalls betrieben sie keine politische Zoologie oder biopolitische Geographie.Footnote 154 Der amerikanische Admiral Mahan betonte in zwei großen historischen Untersuchungen, welche zwischen 1890 und 1900 erschienen, die strategische Durchsetzungskraft von Seemacht und spekulierte über deren Wirksamkeit auch gegenüber der eurasischen Landmasse.Footnote 155 Mackinder verstand ebenfalls Geschichte im Wesentlichen als Kampf von Landmacht gegen Seemacht. Allerdings sah er dagegen im frühen 20. Jahrhundert die Seemächte mit großen Herausforderungen konfrontiert und prognostizierte ein Erstarken der Landmächte. Für ihn war die Landmacht der Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte, welche die Kontrolle über das innere Eurasien besaß, da dieses kaum von Seemächten zu erobern sei und einen großen Reichtum an Ressourcen aufweise.Footnote 156 Nach dem Ersten Weltkrieg formulierte er sein berühmtes Diktum, auch um die Gefahr eines drohenden deutschen-russischen Blocks zu verdeutlichen: „Who rules East Europe commands the Heartland. Who rules the Heartland commands the World-Island. Who rules the World-Island commands the World.“Footnote 157

Dagegen wurde in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg der Fokus auf andere Themen gelegt. Der Verlust von Kolonien sowie Grenzverschiebungen und Gebietsabtretungen des Reiches produzierten einen Zeitgeist, welcher abstrakte Begriffe wie „Raum“ und „Lebensraum“ durch völkische Elemente wie „Volksboden“, „Kulturboden“ und „Heimat“ ideologisch auflud.Footnote 158 In seinem häufig zitierten Lebensraum-Konzept leitete Karl Haushofer zwei Forderungen an die Politik ab: erstens den bestehenden Lebensraum zu schützen und zweitens diesen zu vergrößern.Footnote 159 Für Haushofer – wie für die meisten Vertreter der deutschen Geopolitik in der Zwischenkriegszeit – bestand kein Zweifel darin, dass es großer Räume bedürfe, um das Überleben eines Staates zu sichern: Geopolitik der Pan-Ideen nannte er sein Konzept, welches auf drei bis vier großen Kulturräumen basieren sollte.Footnote 160 Originär Neues leistete Haushofer aber nicht, mit klassischen Modebegriffen wie „Volk ohne Raum“ förderte er aber eine Vermengung militärischer, politischer und wissenschaftlicher Standpunkte.Footnote 161 Die nach dem Ersten Weltkrieg neu geschaffenen Staaten Mittel- und Osteuropas waren Haushofer und der Vielzahl der anderen deutschen Geopolitiker ein Dorn im Auge, da dieser Raum weiterhin als legitime Einflusssphäre des Deutschen Reiches betrachtet wurde.Footnote 162

Bei allen wissenschaftlichen Mängeln und revisionistischer MotivationFootnote 163 gelang es weder Haushofer noch den meisten anderen Vertretern der deutschen Geopolitik, ein gesichertes methodisches Fundament zu schaffen und ihr damit die Grundlage als eigenständige wissenschaftliche Disziplin zu geben, welche diese vor Missdeutungen und propagandistischen Ausnutzungsmöglichkeiten – wie später durch die Nationalsozialisten – geschützt hätte.Footnote 164 Auch wenn Haushofer zuließ, dass der Begriff von der NS-Ideologie missbraucht wurde, sollte sein Einfluss auf die Außenpolitik des „Dritten Reiches“ nicht überschätzt werden.Footnote 165 Indes diskreditierte dies die Geopolitik im geteilten Deutschland nachhaltig, so war laut Karl Schlögel „Raum und alles, was mit ihm zu tun hatte, nach 1945 obsolet, ein Tabu, fast anrüchig.“Footnote 166

In den Vereinigten Staaten waren geopolitische Überlegungen mit dem aufziehenden Kalten Krieg dagegen weiterhin populär, sollte doch der Ausbau einer sowjetischen Landmacht verhindert werden, welche eine Bedrohung für die Sicherheit der amerikanischen Seemacht darstellen würde.Footnote 167 Deshalb orientierte sich die amerikanische Geopolitik seit den Arbeiten Nicholas Spykmans stark an der Schule des Realismus.Footnote 168 Spykman legt ein Begriffsverständnis von Geopolitik als „planning of the security of the geographic factors“ zugrunde.Footnote 169 Analog zu den Ideen Mackinders hing die Sicherheit und Unabhängigkeit der USA vom internationalen Staatensystem ab,Footnote 170 in dem wiederum die Hauptgefahr von Eurasien ausging, diesmal jedoch von den europäischen und asiatischen Randzonen, dem „Rimland“.Footnote 171 Die Sicherheit der Vereinigten Staaten musste sich gemäß dieser Logik strategisch daran orientieren, dass die Achsenmächte nicht die Kontrolle über die amerikanischen Gegenküsten in Europa und Asien erhielten, da sie sich sonst zu einer potenziellen Gefahr für die USA hätten entwickeln können..Footnote 172 Das zentrale Vermächtnis Spykmans stellte ein geopolitisches Machtgleichgewicht dar, welches durch das Zusammenspiel der Großmächte ermöglicht werden sollte.Footnote 173

So verschaffte auch Kissinger geopolitischen Überlegungen an Popularität, wobei er den Terminus lediglich als ein Synonym für Gleichgewichtspolitik verstandFootnote 174: „by geopolitical I mean an approach that pays attention to the requirement of equilibrium.“Footnote 175 Das Ende der Sowjetunion führte zu einer Intensivierung der geopolitischen Debatte: Als prominentestes Beispiel ist Zbigniew Brzeziński zu nennen, welcher nach der Epochenwende die USA auf dem Weg zur einzigen Weltmacht sah:Footnote 176 „Aber das weltweit wichtigste Spielfeld – Eurasien – ist der Ort, auf dem Amerika irgendwann ein potenzieller Nebenbuhler um die Weltmacht erwachsen könnte.“Footnote 177 So gab er Empfehlungen für eine Strategie ab, indem die USA ihren Einfluss in Eurasien so einsetzen sollten, dass dadurch ein kontinentales Gleichgewicht entstehen sollte.Footnote 178

2.1.2 Geostrategie

Einen abgeleiteten Begriff der Geopolitik stellt die Geostrategie dar,Footnote 179 die sich im modernen Verständnis mit der Umsetzung geopolitischer, aber auch rein strategischer Fragen zur geographischen Umwelt befasst.Footnote 180 Fragen zu Grenzen, zur möglichen Bündnispolitik, zu strategischen Implikationen topographischer Gegebenheiten, welche eine Verteidigung oder einen Angriff für die eigenen oder denkbaren feindlichen Streitkräfte begünstigen, umfassen geostrategisch ausgerichtete Konzepte. Ähnliches gilt für Erkenntnisse aus der Krisen-, Konflikt- und Kriegsursachenforschung. Aus diesen mitunter sehr unterschiedlichen Erkenntnissen werden Herausforderungen und mögliche Interdependenzen abgeleitet, welche in geostrategische Überlegungen einfließen.Footnote 181

Geostrategie ist die Strategie einer Macht, mit der politische, wirtschaftliche und militärische Interessen zu einzelnen Geofaktoren in Beziehung gesetzt werden. Die Geostrategie beinhaltet zugleich ein Gesamtkonzept von politischen und militärischen Maßnahmen in der Auseinandersetzung um geographische Räume mit der Absicht, einem gedachten oder tatsächlichen Gegner im Streben nach Sicherheit durch das Beherrschen von ausschlaggebenden Machtpositionen überlegen zu sein. Dabei kommt es in der Geostrategie darauf an, die Geofaktoren für die Erreichung eigener Ziele zu nutzen. Grundbegriffe der Geostrategie sind der Raum, die Lage und die militärischen Kräfte.Footnote 182

An der Stelle, wo die „Einflussbereiche“ mehrerer Staaten sich überschneiden, ergibt sich ein „Kraftfeld“ bzw. eine „Zerrzone“ mit der großen Wahrscheinlichkeit eines Konfliktes. Dieses Schicksal kennzeichnet ebenfalls die Geschichte des zentraleuropäischen Raumes.Footnote 183 Jedoch verändert sich die geostrategische Lage der Staaten (zum Beispiel durch Bündnisse, Wechsel der Freund-Feind-Staaten) meist schneller als die Raum-Mächte-Konstellation. Nur die Lage im Gradnetz und die Lage zu natürlichen Faktoren stellen konstante Größen dar. Die Lage innerhalb der bewohnten Welt und zwischen politischen Nachbarn kann dagegen wechseln. Ein gutes Beispiel hierfür ist Deutschlands neue geopolitische und geostrategische Lage seit dem Vereinigungsprozess 1989/90. Wichtig für die geostrategische Nutzung des Raumes sind Verbindungslinien, Einflusszonen, Brückenköpfe und Stützpunkte.Footnote 184 Aus der Bewertung der Lage ergibt sich der Lagewert, wie im Fall Deutschlands die Mittellage.Footnote 185

Nichtsdestotrotz bilden die „geographischen Gegebenheiten“ auch nur einen Teil jener Faktoren, welche eine enge Verbindung zwischen der Außenpolitik eines Staates und der Geostrategie ergeben. Daher wäre es falsch, sie im Verhältnis zu anderen Faktoren zu verabsolutieren. Dennoch legt die geographische Lage eines Landes gewisse außenpolitische Orientierungen nahe.Footnote 186 So mussten Deutschlands Nachbarn aufgrund der geopolitischen Gegebenheiten in einer Einkreisungspolitik gegenüber dem Deutschen Reich immer ein plausibles Konzept erkennen.Footnote 187 Ausgenommen war von solchen Überlegungen die Nachkriegszeit und die Periode des Kalten Krieges.

2.1.3 Geoökonomie

Nach dem Ende des Kalten Krieges kam zeitweilig die Vermutung auf, es würde zu einem Bedeutungsverlust des geopolitischen Denkens kommen, wobei sich vor allem die geopolitischen Leitkategorien geändert haben: An die Stelle der geostrategischen Schlüsselpositionen der klassischen Land- und Seekriegsführung sind sehr viel stärker ökonomisch als militärisch ausgerichtete Vorstellungen getreten. Die Beherrschung der Ströme von Menschen und Gütern, Kapital und Informationen ist um ein Vielfaches wichtiger geworden als die Besetzung geographisch umrissener Räume.Footnote 188 Dennoch sind dadurch das Denken in Räumen und geostrategische Überlegungen keineswegs obsolet geworden. Ein Versuch diese Überlegungen und strategischen Ansätze miteinander zu verknüpfen, stellt der Begriff der Geoökonomie dar.

Der Terminus Geoökonomie wurde von dem Politikwissenschaftler und Militärstrategen Edward Luttwak geprägt, welcher hierin nichts anderes als die Fortsetzung der alten Rivalität mit anderen Mitteln sah:

„So wie früher junge Männer in Uniformen gesteckt und dann zum Zwecke territorialer Eroberungen in den Krieg geschickt wurden, so werden heutzutage Steuerzahler dazu überredet, Mittel für industrielle Eroberungsfeldzüge bereitzustellen. (…) Das Ziel besteht heute nicht mehr darin, mit den eigenen Truppen möglichst tief in Feindesland vorzudringen, sondern den Weltmarktanteil bei bestimmten Produkten zu vergrößern.“Footnote 189

Für Luttwak stellt das Investitionskapital, das der Staat verteilt oder bestimmten Industrien zur Verfügung stellt, eine größere Bedeutung als die Feuerkraft dar. In der Geoökonomie geht es um die Eroberung neuer Märkte für ein Land, welche an die Stelle von Militärstützpunkten und Garnisonen treten, wobei dies von staatlicher Seite durch Zuschüsse sowie diplomatische Einflussnahme unterfüttert wird.Footnote 190 In diesen Wettbewerb können nur solche Länder treten, welche den Krieg untereinander ausgeschlossen haben. Da der Staat in diesem Wettbewerb seine ökonomischen Absichten mit denselben Mitteln wie Unternehmen verfolgt, handelt es sich nicht mehr um einen strikt kommerziellen Wettbewerb, sondern um Geoökonomie. Im Gegensatz zu früheren Epochen wie dem Merkantilismus, wo der Fokus auf der Anhäufung von Reichtümern lag, besteht der Sinn und Zweck der Geoökonomie darin, möglichste viele hochqualifizierte Arbeitsplätze in High-Tech-Industrien und anspruchsvollen Dienstleistungsbranchen zu schaffen, weswegen eine Führungsposition auf dem Markt angestrebt wird.Footnote 191

Die Hauptakteure im internationalen System sind für Luttwak immer noch die Nationalstaaten, die – obwohl ein Krieg zwischen den Industrienationen kaum mehr vorstellbar zu sein scheint und sie in multilateralen Organisationen zusammenarbeiten – sich jedoch weiterhin in Gegnerschaft gegenüberstehen. Hierbei spiegeln aber Staaten und Regierungen nicht nur eine bestimmte nationale Identität wider, sondern alle staatlichen Maßnahmen zielen nach Luttwak darauf ab, „nationale Interessen“ zu vertreten. Wenn die Industrienationen wie Amerikaner, europäische Länder oder Japaner aneinandergeraten, stehen ihnen weitgehend nur wirtschaftliche Mittel zur Verfügung.Footnote 192 Die Aufgabe des Nationalstaats besteht nicht mehr im Aufrüsten, sondern in der Schaffung und Verteidigung günstiger wirtschaftlicher Wettbewerbskonstellationen für das eigene Land, wie durch Subvention und Förderung von Spitzentechnologie einerseits und durch den gezielten Einsatz handelsprotektionistischer Maßnahmen andererseits.Footnote 193 Deshalb habe laut Paul Krugman der Staat die Aufgabe zukunftsträchtige Technologien und Branchen für die Weltwirtschaft wettbewerbsfähig zu gestalten, um somit auch Arbeitsplätze und den Wohlstand für den nationalen Standort zu sichern.Footnote 194 Daraus ergibt sich die Forderung nach einem aktiven Staat und die Ablehnung eines Laissez-faire-Kapitalismus. Die Globalisierung ist daher nicht nur hinzunehmen, sondern aktiv zu gestalten. Die Schaffung der politischen Rahmenbedingungen ist die Grundvoraussetzung für eine positive Nutzung der fortschreitenden Globalisierung.Footnote 195

Dem stellt Manuel Castells seinen Entwurf der „Netzwerkgesellschaft“ gegenüber, in welcher die alten territorial geschlossenen, autonomen sowie mit- und gegeneinander „kämpfenden“ Nationalstaaten an Bedeutung verlieren,Footnote 196 sodass an deren Stelle zunehmend transnationale kommunikative und ökonomische Verbände treten, für welche keine Grenzen der Expansion in einer globalisierten Welt bestehen.Footnote 197 In der Konzeption Luttwaks kooperieren Staaten und die in ihnen ansässigen Unternehmen indirekt, um das gemeinsame Ziel, die Eroberung der als „strategisch“ bezeichnenden Sektoren wie etwa der Hightechindustrie, zu verwirklichen.Footnote 198 In diesem Fall hängt die Handlungsfähigkeit eines Einzelstaates von der Masse und Stärke der Unternehmen auf seinem Territorium ab, genauso wie diese wiederum von einzelnen staatlichen Aktivitäten abhängig sind.Footnote 199

Ziel des Nationalstaates ist in Luttwaks Konzeption aber nicht das Streben nach dem höchstmöglichen Lebensstandard für die eigene Bevölkerung, vielmehr sollen erstrebenswerte Rollen innerhalb der Weltwirtschaft behauptet oder erobert werden, wie die einer expandierenden Exportnation. Die Sieger dieses Wettbewerbes nehmen in der Folge hochdotierte und einflussreiche Rollen ein, während sich die Verlierer mit Montagewerken begnügen müssen, falls ihre Heimatmärkte hierzu überhaupt aufnahmefähig genug sind. Als Folge solcher Maßnahmen können aber auch die Volkswirtschaften anderer Länder ruiniert werden. Auch können geoökonomische Auseinandersetzungen alte machtpolitische Allianzen zwischen den Staaten untergraben.Footnote 200 Deshalb gehen Luttwak und andere Geoökonomen von der Annahme aus, dass ökonomisch-handelspolitische Methoden militärische Methoden in der Auseinandersetzung von Staaten ablösen – und dass der Nationalstaat eben nicht zunehmend von der Bildfläche verschwindet, sondern im Zuge neuer Konflikte aufgewertet wird: So lange Staaten existieren, werde es deren Triebkraft sein, miteinander zu konkurrieren – nun primär mit ökonomischen Mitteln. Dementsprechend definiert Luttwak Geoökonomie als „moderne Version der alten Rivalität zwischen den Staaten“.Footnote 201

2.2 Der Vertrag von Maastricht und die Etablierung des „deutschen Modells“

Am 9. und 10. Dezember 1991 trafen die Staats- und Regierungschefs der EG in Maastricht zu einer denkwürdigen Sitzung zusammen. Das Ergebnis der Beratungen war ein qualitativer Sprung in der Geschichte der europäischen Integration: Auf dem Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) wurde ein großer, aber auf dem Weg zur Politischen Union ein sehr viel kleinerer Schritt gemacht. Hinsichtlich des konkreten Inhaltes einer Politischen Union gab es keinen deutsch-französischen Konsens, von Großbritannien und Dänemark ganz zu schweigen.Footnote 202 So wurde aus der Gemeinschaft nun die Europäische Union (EU). Diese bildete fortan den einheitlichen Rahmen oder das gemeinsame Dach über den drei „Säulen“: Europäische Gemeinschaft, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und Zusammenarbeit (GASP) und Zusammenarbeit in der Justiz und Innenpolitik. Supranationale Zusammenarbeit prägte aber nur die erstere Säule, wohingegen die anderen Bereiche intergouvernemental geregelt wurden.Footnote 203

Das Herzstück und die tiefgreifendste Neuerung des Maastrichter Vertrages war die verbindliche Entscheidung der Staats- und Regierungschefs für eine gemeinsame Währung.Footnote 204 Der Beschluss über die Einführung der Gemeinschaftswährung zum 1. Januar 1999 machte die Währungsunion unwiderruflich und diese unterlag fortan einem nicht mehr revidierbaren Automatismus.Footnote 205 Die wesentlichen Weichenstellungen hierzu wurden allerdings bereits vor dem Mauerfall vorgenommen.Footnote 206 So hatte auch schon vor dem Jahr 1990 die Bereitschaft der Bundesregierung zur Aufgabe der D-Mark bestanden, auch wenn die konkrete Einwilligung als Konzession Bonns während des Wiedervereinigungsprozesses zu verstehen war.Footnote 207 Jedoch hatte die Bundesregierung schon Ende der 1980er Jahre bezüglich der herzustellenden Währungsunion auf die Wahrung zentraler Prinzipien der deutschen Geldpolitik gedrängt, welche letztendlich auch Berücksichtigung fanden: In der Summe ging es um die Errichtung einer am Vorbild der Deutschen Bundesbank ausgerichteten, unabhängigen und der Geldwertstabilität verpflichteten Europäischen Zentralbank (EZB).Footnote 208

Von seiner noch im Sommer 1991 artikulierten Vorstellung, dass eine gemeinsame Währung ohne eine Politische Union undenkbar wäre und dass er einer wie immer gearteten Wirtschafts- und Währungsunion nicht zustimmen würde, wenn es bei der politischen Integration nicht zumindest eindeutige Fortschritte gäbe, musste Kohl dann im Dezember desselben Jahres abrücken.Footnote 209 Daneben waren die innerstaatlichen Debatten – auch in Deutschland – um den Unionsvertrag durch eine starke Polarisierung der öffentlichen Meinung geprägt, was die Aufgabe zusätzlicher Souveränität an Brüssel erschwerte. So herrschte in vielen europäischen Hauptstädten die Auffassung vor, dass Maastricht auch als verstärkter Integrationsrahmen zur besseren Einbindung des neuen größeren Deutschland zu nutzen sei.Footnote 210 Eine Verzögerung der WWU auf unbestimmte Zeit geschweige denn deren Ablehnung hätte für Bonn so kurz nach der Wiedervereinigung zwangsläufig die Isolation in Europa bedeutet, weshalb Kohl die Forderung nach einer Politischen Union wohl auch deshalb weiterhin hochhielt, um entsprechendes Gewicht bei den Verhandlungen um die Ausrichtung der europäischen Geldpolitik zu erlangen.

Dabei war in anderen Politikfeldern die Verhandlungsposition der Bundesregierung im Jahr 1991 in Maastricht – und darüber hinaus – bezüglich der Geldpolitik unbeweglich und vergleichsweise kompromisslos.Footnote 211 Im deutschen Modell haben die Unabhängigkeit der Zentralbank und ihre Verpflichtung auf den Erhalt der Preisstabilität oberste Priorität.Footnote 212 Es war in diesem Kontext für Bonn indiskutabel, die Unabhängigkeit der künftigen Europäischen Zentralbank, eine stringente Stabilitätsorientierung oder das Ziel wirtschaftlicher Konvergenz in Frage zu stellen. Der Verweis auf die politische Unabhängigkeit der Währungshüter konnte in der Folge wirkungsvoll eingesetzt werden, um beispielsweise den aus deutscher Sicht völlig inakzeptablen Vorschlag mancher Länder abzuwehren, eine „Wirtschaftsregierung“ als Gegengewicht zur EZB einzurichten.Footnote 213 Das zentrale Ziel der Bundesrepublik stellte hierbei die Preisstabilität dar, bedingt auch durch die historischen Erfahrungen der Deutschen mit der Hyperinflation.Footnote 214 Dies war eine unverzichtbare Bedingung für die Preisgabe der eigenen Währung,Footnote 215 welche auch in Artikel 105 des Maastricht-Vertrages festgehalten wurde. Gleiches galt für die Nichtbeistands-Klausel des Vertrages, das heißt das Verbot für die Schulden anderer Staaten einzustehen sowie der monetären Staatsfinanzierung.Footnote 216 Dass sich das „deutsche Modell“ in den Maastricht-Verhandlungen so klar durch setzte, obwohl die Mehrheit der nationalen Zentralbanken in den EG-Mitgliedstaaten dem anglo-französischen Modell – wo die Zentralbanken gleichberechtigt zur Geldpolitik andere wirtschaftspolitische Ziele in den Blick nahmen und politischer Einflussnahme durch die Regierung unterstanden – folgten, erklärte sich auch durch die strategisch starke Verhandlungsführung der Bundesregierung und die damalige Dominanz des monetaristischen Paradigmas.Footnote 217

Die deutsche Verhandlungsdelegation nutzte geschickt die starken Zweifel, welche in der Bundesbank herrschten, um auf die anderen angehenden Mitglieder der Währungsunion größtmöglichen Druck im Sinne der Erfüllung der deutschen Stabilitätsbedingungen auszuüben. Schließlich war die D-Mark für die Deutschen das nationale Identitätssymbol, von welchem sie sich unter keinen Umständen verabschieden wollten.Footnote 218 Die Unabhängigkeit der Bundesbank verschaffte, auch wenn sie nie so vollkommen war wie oft dargestellt, Kohl und auch anderen führenden Politikern einen Vorteil im Kampf um eine Währungsunion im deutschen Sinne. Dabei setzten sich in fast allen entscheidenden Fragen zur Gründung der EZB – ihre Unabhängigkeit, ihr künftiger Sitz in Frankfurt am Main, ihr innerer Aufbau und ihre geldpolitischen Instrumente – die Ansichten der Deutschen durch.Footnote 219 Dies hatte allerdings zur Folge, dass den anderen Mitgliedstaaten der Wechselkurs als Anpassungsinstrument in einem europäischen Währungsraum nicht mehr zur Verfügung stand, wie etwa im Fall eines Nachfrageeinbruchs.Footnote 220

Ebenfalls gelang es der Bundesregierung, dass die sogenannten „Maastricht-Kriterien“ für den Eintritt in die Gemeinschaftswährung und Obergrenzen für staatliche Defizite und Schulden festgelegt wurden.Footnote 221 Folglich musste ein Mitgliedsstaat, um in die Endstufe der Währungsunion aufgenommen zu werden, folgende Konvergenzkriterien erfüllen: Die Inflationsrate eines Mitgliedlands darf die Inflationsrate der drei preisstabilsten Länder nicht um mehr als 1,5 Prozentpunkte, das Haushaltsdefizit nicht 3 %und die Schuldenquote nicht 60 %des BIP übersteigen. Hierbei galt die Erfüllung dieser Kriterien als notwendige, aber nicht als hinreichende Voraussetzung für die Aufnahme eines Mitgliedsstaates in die dritte Stufe der Währungsunion.Footnote 222 Finanzminister Theo Waigel brachte es auf den Punkt, als er sagte:

„Wir bringen die D-Mark nach Europa. (…) Der vereinbarte Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion trägt in allen entscheidenden Punkten die deutsche Handschrift. Unsere bewährte Stabilitätspolitik ist zum Leitmotiv für die zukünftige europäische Währungsordnung geworden.“Footnote 223

Nicht zu vernachlässigen als Ursache für die schneller als zuvor angenommene Realisierung der WWU war aber auch das Wirken potenter Interessensgruppen aus dem Kreise großer deutscher Industrieunternehmen und Banken, welche mit dem Verweis auf die monetären Effizienzgewinne aus der Eliminierung intra-europäischer Wechselkursvariabilität nachdrücklich für eine Einheitswährung plädierten.Footnote 224 Wegen der Größe der WWU und der Möglichkeit, die deutschen Lohnstückkosten zu senken, ohne dass die D-Mark aufgewertet würde – was sonst immer rasch im Außenverhältnis die Produktivzuwächse aufgezehrt hatte –, profitierten die deutsche Industrie und die Banken stark von den monetären Effizienzgewinnen, was sie dazu veranlasste, in starkem Maße Lobbyarbeit für das Projekt zu betreiben.Footnote 225 In diesem Kontext erhofften sich die Banken, deren Geschäft in der Kreditvergabe und im Handel mit Finanzprodukten lag, von der WWU einen vergrößerten und besser integrierten Finanzmarkt.Footnote 226 Jedoch gab es auch innerhalb Deutschlands gewichtige Gegenstimmen, insbesondere aus der Bundesbank, welche Zweifel hatte, ob eine europäische Währung mit den bewährten Traditionen deutscher Geldpolitik vereinbar sein würde.Footnote 227

Nachdem zum 1. Juli 1990 die erste Stufe der WWU mit der grundsätzlichen Beseitigung aller Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten eingeführt wurde, begann am 1. Januar 1994 die zweite Stufe der Währungsunion, in deren Zuge die nationalen Notenbanken in die politische Unabhängigkeit entlassen wurden.Footnote 228 Machtpolitisch betrachtet gab die Bundesregierung mit der Europäisierung der Geldpolitik Kompetenzen ab, welche sie ohnehin nicht besaß, weil die Bundesbank politisch unabhängig war. Umgekehrt verlor etwa die französische Regierung ihren bestimmenden Einfluss auf die eigene Geldpolitik. Dafür gewannen die französische Zentralbanker auf doppelte Weise an Gewicht und Geltung: einmal gegenüber der eigenen Regierung und zum anderen gegenüber der Bundesbank, mit der man jetzt im Rat der EZB auf Augenhöhe agierte.Footnote 229

In Frankreich wie auch in anderen Ländern wurde das Verhandlungsergebnis als eine implizite Akzeptanz des deutschen Modells ausgelegt, nämlich im Austausch gegen Mitbestimmung der Südländer bei der Geldpolitik.Footnote 230 In vielen südeuropäischen Ländern verband sich aber mit der europäischen Gemeinschaftswährung ebenfalls die Erwartung, mit dem deutschen Modell der Geldpolitik auch den deutschen Wirtschaftserfolg zu importieren. Anderenfalls hatte man in diesen Ländern Angst vor Isolierung und Zerrüttung durch Ausschluss aus der Währungsunion.Footnote 231 Länder wie Italien oder Griechenland wollten durch die niedrigen Zinsen der gemeinsamen Währung profitieren und dadurch ihre Staatshaushalte um gewaltige Summen entlasten. Es herrschte in vielen Staaten die Hoffnung, dass dadurch die eigenen Wirtschaftsstrukturen modernisiert und mehr Auslandsinvestitionen angezogen würden, und gleichzeitig kam die Hoffnung auf, die deutsche Wirtschaftspolitik würde sich den eigenen Vorstellungen angleichen. Auf diese Weise sollten die äußeren Zwänge und der Wettbewerbsdruck auf die eigene Wirtschaft nachlassen.Footnote 232

Aus deren Perspektive war dies wichtig, da die Deutsche Bundesbank jahrelang die Geldpolitik in Europa dominierte und den meisten anderen Zentralbanken, einschließlich der Banque de France, nichts anderes übriggeblieben war, als der Politik der Bundesbank zu folgen. Der Haken an der Entmachtung der Bundesbank zugunsten der EZB wurde allerdings erst später erkannt: Die Akzeptanz einer unabhängigen Zentralbank bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Geldpolitik von den Franzosen oder den südeuropäischen Staaten beeinflusst wird. Die Mitglieder der EZB-Rates oder ein französischer EZB-Präsident sind de facto unabhängige Notenbanker in einem Klub, welcher einen starken europäischen „esprit de corps“ entwickelte.Footnote 233

So ist zudem eine Anpassung der Wechselkurse für die Mitgliedstaaten mit dem Beitritt zum Euroraum nicht mehr möglich. Dabei war es insbesondere für Deutschland wichtig, die währungspolitische Integration voranzubringen. Nominale Abwertungen, meist gegenüber der D-Mark, wurden früher häufiger vorgenommen, um preislich wettbewerbsfähig zu werden. Deutsche Wettbewerbsvorteile, die auch durch Lohnzurückhaltung erwirtschaftet wurden, gingen so wieder verloren.Footnote 234 Für die Vertreter der Bundesbank stellte die Wahrung der Geldwertstabilität nicht nur ein zentrales nationales Interesse dar, sondern gleichzeitig bedeutete dies für deren Vertreter auch einen unverzichtbaren Beitrag zur Verwirklichung der Europäischen Währungsunion.Footnote 235

Nachdem in der deutschen Bevölkerung die Sorge wuchs, dass die D-Mark zugunsten einer europäischen Weichwährung aufgegeben würde, bestand die Bundesregierung darauf, dass der 1997 abgeschlossene Stabilitäts- und Wachstumspakt dafür sorgen sollte, dass die Konvergenzkriterien von Maastricht auch nach Einführung der neuen Gemeinschaftswährung Euro Bestand haben sollten.Footnote 236 Indes wurde besonders auf französisches Drängen hin das beschlossene Abkommen durch einen Wachstumspakt ergänzt, nachdem künftig bei der Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken Beschäftigungsaspekte stärker zu berücksichtigen waren.Footnote 237

Für die europäische Währungsunion wurde letzten Endes 1998 das Jahr der Entscheidung. Deutschland und Frankreich taten sich schwer die Kriterien einzuhalten und so gab es zahlreiche Versuche „kreativer Buchführung“, um Schuldenstand und Haushaltsdefizit zu senken und so die Kriterien noch zu erfüllen.Footnote 238 Die eigentlichen Problemfälle stellten aber Italien und Belgien dar, deren Staatsverschuldung bei 120 % bzw. 130 % des BIP lag. Rechnerisch hätte man einen Ausschluss begründen können, jedoch war dies politisch nahezu unmöglich,Footnote 239 gehörten doch beide Staaten zu den Gründungsmitgliedern der Gemeinschaft und ihre Teilnahme besaß deshalb einen hohen symbolischen Wert.Footnote 240 Aus diesem Grunde war auch Kohl fest entschlossen, die Einführung des Euros vor der anstehenden Bundestagswahl 1998 unumkehrbar zu machen,Footnote 241 trotz aller Warnungen, dass die Währungsunion zu früh kommen könnte und nicht unbedingt im Interesse Deutschlands liegen müsse.Footnote 242 Somit beschloss der Europäische Rat am 2./3. Mai 1998 einstimmig, dass 11 Mitglieder, darunter auch Italien und Belgien, die erforderlichen Voraussetzungen für die Einführung des Euro am 1. Januar 1999 erfüllten.Footnote 243

Obwohl sich die deutsche Seite in den Verträgen maßgeblich durchgesetzt hatte, gab es aber keine einende Vorstellung von den Zielen der Währungsunion. Während Deutschland, die Niederlande, Österreich und Finnland niedrige Inflationsraten anstrebten, erhofften sich Frankreich und die südeuropäischen Länder von der EZB eine konjunkturfreundlichere Geldpolitik. Zwar verortet der EZB-Vertrag den Euro klar und eindeutig in der Tradition der D-Mark, doch sind Verträge und Mandate interpretierbar, gerade unter dem Umstand, dass der Vertreter der Bundesbank analog zu seinen anderen nationalen Kollegen im EZB-Rat eine Stimme erhielt. Da Frankreich als maßgebliche Kraft hinter der Gemeinschaftswährung eine Unterordnung unter das Stabilitätsdiktat Deutschlands hätte erfahren können, bestand Paris in der Folge darauf, dass Italien, Spanien und Portugal in die Währungsunion aufgenommen wurden, wodurch sich das politische Gewicht innerhalb der Euro-Zone zu einem guten Teil nach Paris verschob.Footnote 244

Dennoch etablierte der Maastrichter Vertrag das „deutsche Modell“ – im engsten Sinne die Prinzipien deutscher Geldpolitik – in der zu schaffenden Eurozone. Betrachtet man ausschließlich den Text des Maastrichter Vertrages, stellte sich die Gemeinschaftswährung als Instrument zur Abschaffung der währungspolitischen Hegemonie der D-Mark bzw. zur Einhegung der deutschen Macht als Pyrrhussieg dar: So mussten sich diese Länder in den Gremien der EZB nicht mehr dem dominanten Einfluss der Bundesbankvertreter aussetzen, da dieser nur noch Einer unter Gleichen war, dennoch war die europäische Notenbank eine Institution, welche klar nach deutschen Vorstellungen aufgebaut war. Die anderen Mitgliedstaaten, welche nicht der Preisstabilität folgten und bis dato Notenbanken besaßen, die der politischen Kontrolle unterworfen waren, profitierten – ebenfalls der Tatsache geschuldet, dass sie sich nun in der WWU mit Deutschland befanden – davon, dass sie nur noch niedrige Zinsen auf ihre Staatsanleihen zahlen mussten. Nichtsdestotrotz verkannten sie, dass sie die neugegründete EZB nicht so einfach instrumentalisieren und ihre Währungen, wie im Fall einer Rezession, nicht mehr wie bisher abwerten konnten.

Letztendlich kam der Bundesrepublik die Angst der Nachbarn vor einem vereinten Deutschland zugute: Eine europäische Gemeinschaftswährung war ohnehin seit den 1980er Jahren in der Planung gewesen und der Verzicht auf die Politische Union – dies war eine Kröte, welche es zu schlucken galt, es war aber sicherlich mit genuinen deutschen Interessen kompatibel – führte dazu, dass in den Maastrichter Verträgen spezifisch deutsche Vorstellungen auch mit Verweis auf die öffentliche Meinung realisiert werden konnten, ohne aber auf vehementen Widerstand der anderen Teilnehmer zu stoßen. Doch war die Furcht der europäischen Nachbarn vor einer Revision der Grenzen bzw. der Entstehung eines „Vierten Reiches“ überzogen, da sicherheitspolitisch wohl kaum eine Gefahr vor einem expansiven Deutschland ausging, vergegenwärtigt man sich die pazifistische Grundhaltung in Westdeutschland.

Trotz des Wegfalls der militärischen Komponente offenbarte sich eine Parallele zwischen dem Deutschen Reich und der alten Bundesrepublik: die dynamische deutsche Wirtschaft, welche sich unter anderem auf den starken deutschen Mittelstand stützte. Somit konnte die Bundesrepublik nur noch auf ihre ökonomische Potenz zurückgreifen, wenn es um „harte Machtressourcen“ ging. Insofern es den Nachbarn um die effektivste Methode ging, das wiedervereinigte Deutschland in Europa möglich wirksam einzuhegen, wurde diesem Aspekt zu wenig Rechnung getragen. Hierbei wurde allerdings verkannt, dass dafür nicht die Existenz der Bundesbank als nationale Notenbank – welche aufgrund ihrer Unabhängigkeit ohnehin nicht direkt von der Bundesregierung als Machtfaktor benutzt werden konnte – entscheidend war, sondern vielmehr die Interessen eines Handelsstaates. Als führender Exportnation lag es sogar folgerichtig im deutschen Interesse eine Wirtschafts- und Währungsunion zu schaffen, welche gleichzeitig als Absatzmarkt für die eigenen Produkte diente. Hier waren die Interessen der Bundesregierung und der deutschen Industrie nahezu deckungsgleich und bedingten sich gegenseitig. Der Vertrag von Maastricht spielte besonders den deutschen Wirtschaftsinteressen in die Hand und durch die Etablierung des deutschen Geld- und Wirtschaftsmodells sollte dies auch zwangsläufig eine Stärkung der politischen Macht für die Bundesrepublik mit sich bringen.

2.3 Die Vereinigung Europas und die Wiederkehr in die Mitte des Kontinents

Die Mittellage Deutschlands in Europa gehört zu den wenigen Konstanten deutscher Geschichte, welche das „vergangene“ Deutsche ReichFootnote 245 mit dem wiedervereinigten Deutschland verbindet und gleichzeitig ein großes Potenzial an Chancen und Risiken für Europa mit sich bringt. Dennoch lehnte in den 1980er Jahren während des Historikerstreits, unter anderem Jürgen Habermas die Mittellage als analytisches Konzept ab, da diese lediglich „geopolitisches Tamtam“Footnote 246 und die Berufung auf diese eine „Entschuldigungsstrategie“ darstellen würde.Footnote 247 Aus dieser Perspektive bildete der Verweis auf die Mittellage demnach weniger ein erklärungstheoretisches Anliegen, sondern stellte vielmehr ein Argument dar, um die Verantwortung für die Verbrechen, welche Deutschland im 20. Jahrhundert begangen hatte, der geographischen Mittellage zuzuschreiben. Das Mittellage-Konzept wurde auch deshalb abgelehnt, weil es den Eindruck erwecken würde, nicht die handelnden Akteure hätten politische und moralische Schuld auf sich geladen, sondern diese seien in ihrem politischen Handeln gewissermaßen durch die Dynamik des Raumes und der räumlichen Verhältnisse in ihrem Verhalten geleitet worden.Footnote 248

In diesem Kontext versuchte auch Bundeskanzler Kohl am Vorabend der Wiedervereinigung die Gemüter zu beruhigen, da Deutschland kein „ruheloses Reich“ mehr sei und die Überwindung der Teilung es gewährleiste, „dass Deutschland in der Mitte Europas ein Faktor der Stabilität sein wird.“Footnote 249 Verteidigungsminister Volker Rühe sprach gar davon, dass Deutschland durch die Einheit nur noch „von Freunden umzingelt“ sei.Footnote 250 Mit dem 3. Oktober sei nach Bundespräsident Richard von Weizsäcker der Tag „gekommen, an dem zum ersten Mal in der Geschichte das ganze Deutschland seinen dauerhaften Platz im Kreis der westlichen Demokratien findet.“Footnote 251 Dennoch verwies er später auch darauf, „welche Probleme eine solche Mittellage in Europa mit sich bringt – eine Mittellage, der dieses Deutschland seit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ausgesetzt war und die uns nach 1914 in zwei Weltkriege geführt hat.“Footnote 252

Nach der Wiedervereinigung entbrannte vor allem unter Historikern eine Diskussion darüber, ob Deutschland wieder in seine alte Position der Mittelmacht zurückgekehrt sei. Für Gregor Schöllgen sei Deutschland nach 1990 wieder in seine Position als „Macht in der Mitte Europas“Footnote 253 zurückgekehrt und befinde sich „wieder in der alten Situation der Großmacht Deutsches Reiches.“Footnote 254 Auch der Historiker Hagen Schulze hob die Bedeutung der deutschen Mittellage hervor: „Die große Konstante der deutschen Geschichte ist die Mittellage in Europa; Deutschlands Schicksal ist die Geographie.“Footnote 255 Ebenso beschreibt Stürmer aus der „Perspektive der Machtgeographie“Footnote 256 die deutsche Mittellage in Europa als zentrale Bedingung für die deutsche Entwicklung: „Mitten in Europa: das war Conditio Borussiae, solange es Preußen gab, und das ist bis heute Conditio Germaniae geblieben.“Footnote 257 Demnach stelle sich die „geostrategische Entscheidungsfrage“Footnote 258 bereits seit dem 17. Jahrhundert, da Deutschland seitdem die „Drehscheibe europäischer Machtinteressen“ sei.Footnote 259 So gelte auch im 21. Jahrhundert, dass es anderen Mächten nicht gleichgültig sein könne, wie der „Zentralstaat“ von Europa geformt sei und dieser im europäischen Staatensystem interagiere.Footnote 260

Nach der Auffassung von Schwarz sei das wiedervereinigte Deutschland als einziges europäisches Land dazu prädestiniert, aufgrund seiner geographischen Lage, wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, kulturellen Ausstrahlung, Größe und seiner Dynamik die Rolle der „Zentralmacht Europas einnehmen.Footnote 261 So gebe es kein anderes Land in Europa, welches geographisch inmitten der europäischen Länder des Westens, des Nordens, des Südens und des Ostens platziert sei. Hieraus ergebe sich aber auch „eine Gestaltungsaufgabe, welche gemeistert oder verfehlt werden kann.“ Daher könnten die Deutschen an dieser Rolle scheitern, wenn sie sich vor dieser Aufgabe drücken oder gar „voller Übermut von Hegemonialgelüsten“ fortreißen lassen würden. So würden deutsche (Nicht-)Entscheidungen zwangsläufig Auswirkungen auf das ganze europäische Umfeld haben: „Schwächlichkeit eines zentral platzierten Staates hat genauso gravierende Rückwirkungen wie dessen ruhige Gestaltungskraft oder gar irritierender Übermut, von dem sowohl die Deutschen selbst wie die Nachbarn (…) genug zu kosten bekommen haben.“Footnote 262

So wurde relativ schnell die Osterweiterung von EU und NATO nach der Jahreswende 1989/90 zu einem zentralen Ziel der deutschen Europa- und Außenpolitik. Dieses Ziel führte jedoch auch zu einem offenkundigen Spannungsverhältnis bezüglich des bisherigen deutschen Anliegens, nämlich den europäischen Integrationsprozess weiter zu vertiefen.Footnote 263 Die deutsche Haltung Anfang der 1990er Jahre lässt sich an der Äußerung Außenministers Klaus Kinkels verdeutlichen: „Wir müssen die Europäische Gemeinschaft zugleich vertiefen, ausbauen und erweitern. Ein Nacheinander können wir uns nicht leisten.“Footnote 264 Das Engagement sowohl für die Vertiefung als auch der Erweiterung der EU stellte hierbei ein Spezifikum deutscher Europapolitik dar.Footnote 265 Die deutsche Politik begründete ihr besonderes Interesse an der Erweiterung mit der Einbindung der Staaten Mittel- und Osteuropas in das Verteidigungsbündnis des Nordatlantikpaktes bzw. des europäischen Rechtsraumes und die damit verbundene Verpflichtung auf gemeinsames Recht und Standards. Ziel dieser Politik war es, jenseits der nationalen Grenzen die Verhältnisse nach deutschem Interesse zu ordnen.Footnote 266 Insgesamt war die deutsche Zielsetzung stark von geopolitischen Überlegungen geprägt,Footnote 267 auch wenn die Frage im innerdeutschen Diskurs kaum thematisiert wurde, wie sich die Bundesrepublik ihrer Randlage in Europa entledigen und auch innerhalb der etablierten westlichen Bündnisse in die Mitte zurückkehren konnte. Die Schaffung einer neuen Mittellage für das vereinigte Deutschland war fortan das wichtigste geopolitische Ziel der Bundesregierung in den 1990er Jahren.

Die westliche Politik stand Anfang der 1990er Jahre vor der Herausforderung, die Transformation der mittel- und osteuropäischen Staaten hin zu Demokratie und Marktwirtschaft abzusichern. Dabei legte die Bundesregierung mit ihrer Initiative zur Osterweiterung eine umfassende Strategie zur Absicherung der Transformationsprozesse vor, welche vom Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) geplant und von Verteidigungsminister Rühe vorangetrieben wurde.Footnote 268 In der Folge schwenkten auch die USA auf die deutsche Linie um und durch die Tatsache, dass der deutschen sowie der westeuropäischen Öffentlichkeit der Eindruck vermittelt werden konnte, die NATO-Osterweiterung würde vor allem von Washington vorangetrieben, sank auch das Risiko für die Bundesregierung bei dem Vorhaben.Footnote 269 Damit wurde ein Prozess angestoßen, welcher im Jahr 1999 durch die Aufnahme Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Nach dem Ende des Kalten Krieges sollte die NATO über ihre Grenzen hinaus in den bis dato instabilen Raum einwirken und so dazu beitragen, konfliktträchtige Entwicklungen einzudämmen.Footnote 270 Rühe drückte es wie folgt aus, als er davon sprach: „Entweder wir exportieren Stabilität oder die Instabilität kommt zu uns.“Footnote 271 Aus der klaren geopolitischen Zielsetzung, dass Deutschland vor Konflikten im Osten geschützt werden sollte – beispielsweise Konflikte zwischen Russland und seinen ehemaligen Teilrepubliken –, müsste der Bundesrepublik im Osten ein Ring befreundeter Staaten vorgelagert werden und so galt es den „Stabilitätsraum Europa“ in das instabile Vorfeld hinein auszudehnen.Footnote 272 Rühe definierte die Interessen Deutschlands im NATO-Erweiterungsprozess wie folgt:

„Wir wollen nicht, dass die Grenze zwischen Stabilität und Instabilität, zwischen NATO und Europäischer Union und dem Rest Europas mit unserer Ostgrenze auf Dauer zusammenfällt. Es liegt im Interesse unseres Landes, von stabilen Demokratien umgeben zu sein, von Verbündeten und Partnern. Wir wollen nicht Randstaat des westlichen Europas sein.“Footnote 273

So reklamierten die Bundesregierungen seit dem Mauerfall die Rolle des „Anwalts“ und „Partners“ der Staaten Mittel- und Osteuropas bei ihrer „Rückkehr nach Europa“.Footnote 274 Das wiedervereinigte Deutschland bestätigte sich als deren Schrittmacher und bot darüber hinaus Wirtschafts- und Finanzhilfe an.Footnote 275 Exemplarisch hierfür standen die drei Freundschaftsverträge mit Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, wobei die Bundesrepublik sich in diesen für die Annäherung dieser Staaten an die EG bzw. für deren spätere Aufnahme aussprach.Footnote 276 Dahinter stand auch die gefühlte historisch-moralische Verpflichtung, die Ordnung von Jalta zu überwinden, welche eine Folge des deutschen Aggressionskrieges war.Footnote 277 War doch die Wehrmacht gerade auf ihrem Ostfeldzug mit äußerster Brutalität vorgegangen,Footnote 278 welcher anschließend Flucht und Vertreibung gefolgt waren.Footnote 279 So hoben deutsche Politiker in einer Vielzahl von offiziellen Reden und Ansprachen hervor, dass die Spaltung des europäischen Kontinents auf den von Deutschland entfesselten Weltkrieg zurückgehe und das vereinte Deutschland eine besondere Verantwortung für die „Wiedervereinigung des Kontinents“ trage.Footnote 280 Hinzu kam aber auch ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber den Staaten und Gesellschaften, die den Wandel in Mittel- und Osteuropa und damit auch die Wiedervereinigung überhaupt erst ermöglicht hatten.Footnote 281

Im Zentrum standen jedoch handfeste wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische Interessen.Footnote 282 Aus der historischen Erfahrung ergab sich die Einsicht, dass es ein „stabilitätsgefährdendes Vakuum, ein Zwischen-Europa“ wie zwischen den beiden Weltkriegen nicht wieder geben dürfe.Footnote 283 Dies traf besonders auf Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn und die baltischen Staaten zu, in welche beträchtliche Mengen an deutschem Kapital hinflossen und wo deutsche Unternehmen ihre Interessen verfolgten.Footnote 284 Somit gingen deutsche sicherheits- und wirtschaftspolitische Interessen hinsichtlich zur Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft Hand in Hand. Entscheidend sollte sich für Bonn und später Berlin in den kommenden Jahren herausstellen, wie man die bisherigen europäischen Partner für diesen Kurs gewinnen konnte.

Aber auch das westliche Europa ließ allmählich eine grundsätzliche Öffnungs- und Aufnahmebereitschaft erkennen, sodass die postkommunistischen Staaten ihre Politik konsequent an der Perspektive eines EU-Beitritts ausrichteten. So schloss die EG schon 1991 Assoziierungsabkommen mit diesen Staaten ab.Footnote 285 Allerdings drohte dadurch Frankreich mit Blick auf eine anstehende EU-Osterweiterung zu einem flankierenden Nebenakteur degradiert zu werden, weshalb es diesem Vorhaben zunächst nur wenig Sympathie entgegenbringen konnte.Footnote 286 Als es in den 1990er Jahren um die Osterweiterung ging, wandte sich Deutschland gegen die von Frankreich präferierten starren und quantifizierten Richtgrößen für die Aufnahmekriterien. Es trat vielmehr für qualitative Umschreibungen, wie sie auf dem Kopenhagener Gipfel 1993 beschlossen wurden, ein.Footnote 287

Dort wurden auf dem Gipfel des Europäischen Rates am 21./22. Juni 1993 die sogenannten „Kopenhagener Kriterien“ verabschiedet, welche die potenziellen EU-Neumitglieder erfüllen mussten. So mussten die Staaten das kodifizierte Gemeinschaftsrecht übernehmen und daneben auch eine ausreichende institutionelle Stabilität vorweisen.Footnote 288 Dies sollte aus Sicht der EU „die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, (…) die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten“ garantieren. Zugleich setzte die Mitgliedschaft ebenfalls die Fähigkeit voraus, „dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten“, und die Beitrittskandidaten hatten sich „die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion“ zu eigen zu machen.Footnote 289

Die Fürsprache Deutschlands und Großbritanniens für einen raschen Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten reichte trotzdem vor 1999 noch nicht aus, da nach Ansicht Kohls die sich in der Mehrheit befindlichen Bremser und Gegner in der EU die Oberhand behielten und nicht zur Befürwortung bewegt werden konnten.Footnote 290 Speziell die südeuropäischen Mitgliedstaaten blockierten auch aufgrund des steigenden deutschen Gewichts die Festlegung konkreter Förderbeiträge für die Länder Mittel- und Osteuropas und legten hier zunächst eine Blockadehaltung ein. Die von der Bundesregierung forcierte Aufnahme Schwedens, Finnlands und Österreichs 1995 in die Union – alles Nationen mit Interessen in Mittelosteuropa – stärkte somit die deutsche Position.Footnote 291

Für die deutsche Industrie war die Osterweiterung ein Schlüsselprojekt für die Zukunftsfähigkeit des europäischen Kontinents. Der eigentliche Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder brachte nach Meinung eines Teils der Industrievertreter allerdings gesamtwirtschaftlich keine dramatischen Auswirkungen mit sich, weder im positiven noch im negativen Sinne. Eine ganze Reihe von Prozessen in Handel und Wirtschaft hatte schon mit den Europa-Abkommen und der schrittweisen Beseitigung der Handelshemmnisse seit Anfang der 1990er Jahre begonnen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sah eine gründliche Durchführung der Beitrittsverhandlungen als Mittel zur Ausdehnung eines funktionierenden europäischen Binnenmarkts. Aus dessen Sicht machte die EU-Osterweiterung Deutschland attraktiver für Investoren und würde seine Zukunftschancen in einem friedlichen Milieu von Innovation, Wachstum und Beschäftigung realisieren.Footnote 292 So wurde seit den 1990er Jahren erwartet, dass sich Mittel- und Osteuropa für den deutschen Außenhandel zu einem „Zukunftsmarkt“ entwickeln würden,Footnote 293 sodass die Aufnahme dieser Staaten in die EU und ihre umfassende Integration in den europäischen Binnenmarkt ein erhebliches Potenzial für eine weitere Steigerung des Handels mit diesen Ländern eröffnen würde.Footnote 294 Neben den deutschen Großunternehmen, wie zum Beispiel der Automobilindustrie, investierten auch sehr viele mittelständische Unternehmen in die mittel- und osteuropäischen Nachbarstaaten.Footnote 295

Die Märkte in Mittel- und Osteuropa entwickelten sich schnell zu wachsenden Absatzmärkten für deutsche Industriegüter, aber auch zu Produktionsstandorten deutscher Unternehmen. Auf EU-Seite dominierte zwischen 1990 und 1996 eindeutig Deutschland den Außenhandel in der Region, mit einem Anteil von 40 % bis 50 % in den Ländern Mittel- und Osteuropas.Footnote 296 Zeitgleich wurden die wichtigsten deutschen Außenhandelspartner in der Region, nämlich Polen, Ungarn und die Tschechische Republik auch zu den wichtigsten Handelspartnern der EU. Deutschland erzielte in der Folge im Warenverkehr mit den Reformstaaten Handelsbilanzüberschüsse und wurde für fast alle Reformstaaten in Mittel- und Osteuropa zum wichtigsten Außenhandelspartner. So schufen die andauernden Modernisierungsprozesse in diesen Ländern einen beträchtlichen Absatzmarkt, insbesondere für deutsche Investitionsgüter.Footnote 297

Dabei legte die Bundesrepublik mehr Wert auf die Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarstaaten wie Polen oder Tschechien, mit denen auch die Handelsbeziehungen intensiver waren als mit den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern, da auch dort im Gegensatz zu den baltischen Staaten die Rücksichtnahme auf die russischen Sicherheitsinteressen nicht so groß ausfallen musste. Eine Osterweiterung ohne Polen konnte sich beispielsweise die deutsche Bundesregierung nicht vorstellen. Den mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten, welche die notwendigen wirtschaftlichen und politischen Reformen mühsam auf den Weg gebracht hatten, war dem gegenüber klar, dass der erfolgreiche EU-Beitritt ohne die deutsche Unterstützung nicht möglich gewesen wäre.Footnote 298 Letzten Endes trug das deutsche Vorhaben Früchte: Im Dezember 1997 beschloss der Europäische Rat mit Ungarn, Polen, Estland, der Tschechischen Republik, Slowenien und mit Zypern Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Im Jahr 1999 beschleunigte sich der Zug der Osterweiterung ein weiteres Mal, als mit Bulgarien, Lettland, Litauen, Malta und der Slowakei die Verhandlungen aufgenommen wurden.Footnote 299

Nach dem Regierungswechsel 1998 knüpfte die Regierung Schröder an die Politik der Unterstützung einer zügigen Osterweiterung nahtlos an,Footnote 300 der Kanzler drückte es wie folgt aus, als er sagte: „Es gibt keinen dauerhaften Frieden in Europa, wenn Europa an der polnischen West- oder an der deutschen Ostgrenze aufhört.“Footnote 301 Wesentlich klarer als sein Vorgänger sprach er nicht nur die deutschen sicherheitspolitischen, sondern auch die ökonomischen Interessen der Bundesrepublik in der Region im Angesicht der hohen Wachstumsraten der dortigen Volkswirtschaften an:

„Die Beitrittsländer zählen damit zu den dynamischsten Wachstumsregionen in der Welt. Das ist nicht zuletzt eine Chance für unsere Wirtschaft; denn wir sind auf diesen Märkten, was sowohl die direkten Investitionen als auch den Handel angeht, fast überall die Nummer eins (…) Die Vorteile für unsere Unternehmen und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liegen auf der Hand. Beschleunigtes Wachstum steigert die Importnachfrage dieser Länder und verbessert auf diese Weise unsere Exportchancen.“Footnote 302

Allerdings vertrat Schröder auch in einer anderen Frage die finanziellen Interessen Deutschlands mit Nachdruck: Insbesondere sollte Deutschland nicht schon wieder die Hauptlast der Erweiterungskosten tragen.Footnote 303 Des Weiteren forderte der Kanzler im Hinblick auf die Ängste der deutschen Bevölkerung und zum Schutz des deutschen Arbeitsmarkts vor Migranten eine siebenjährige Übergangsfrist, bevor die EU-Regeln der Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den Beitrittsstaaten in Kraft treten könnten.Footnote 304 Schlussendlich übernahm der Europäische Rat diese Forderung mitsamt Flexibilisierungsvorschlägen und ebenfalls die Beitrittsländer akzeptierten die Regelung.Footnote 305

Am Ende war es der Europäische Gipfel in Kopenhagen im Dezember 2002, welcher als Erweiterungsgipfel in die Geschichte der EU eingehen sollte.Footnote 306 Nichtsdestotrotz war dieser von einem zähen Tauziehen zwischen den Staats- und Regierungschefs geprägt. Mehrere westeuropäische Staaten versuchten höhere finanzielle Belastungen zu vermeiden. Gegen dieses Bündnis von Reformgegnern konnte Deutschland nur Teilerfolge erringen. Daneben kam Schröder auch Polen – welches verbissen für höhere EU-Mittel kämpfte – weit entgegen.Footnote 307 Letztlich gab der Kanzler nach und stellte die deutschen finanziellen Interessen in den Hintergrund, um die Erweiterung der Union dadurch nicht zu gefährden. Schröder rechtfertigte dies nach dem Gipfel dadurch, dass Deutschland in erster Linie von der Erweiterung politisch und ökonomisch profitieren würde.Footnote 308 Später gab Schröder zu Protokoll, dass er in seiner Amtszeit habe lernen müssen, „dass Deutschland in Europa nur so führen kann, wie Stachelschweine sich lieben. (…) Ganz vorsichtig.“Footnote 309 Letztendlich war es somit in starkem Maße dem Einsatz der Bundesregierung zu verdanken, dass es am 1. Mai 2004 zum EU-Beitritt von acht mittel- und osteuropäischer Ländern sowie von Zypern und Malta kommen sollte.

Im Zuge der Osterweiterung des Nordatlantikpaktes sowie der EU wurde von den verschiedenen Bundesregierungen Geopolitik betrieben – inwieweit dies wirklich immer die klare Zielvorstellung der handelnden Akteure war, soll hier außen vorgelassen werde –, indem sie als Anwalt der Staaten Mittel- und Osteuropas im Erweiterungsprozess agierten und in Westeuropa deren mit Abstand gewichtigsten Fürsprecher wurden. Im mitteleuropäischen Raum konnte die Bundesrepublik dadurch maßgeblichen Einfluss auf die Transformations- und Demokratisierungsprozesse und deren weitere Entwicklung gewinnen. Dies bedeutete zum einen, dass Deutschland seit 1989 von den Staaten der alten westeuropäischen EG am stärksten seinen Einfluss geltend machen konnte, was auch eine Zunahme seines politischen Gewichts in Europa mit sich brachte. Zum anderen realisierte der abgeschlossene Erweiterungsprozess von NATO und EU ein aus deutscher Sicht – auch wenn nur sehr kleinlaut artikuliertes – geostrategisches Ziel: Das wiedervereinigte Deutschland befand sich nicht mehr wie die Bonner Republik in der sicherheitspolitisch ungünstigen Lage eines Frontstaates in den westlichen Institutionen, sondern – obwohl es weiterhin fest verankert in diesen blieb – kehrte in seine traditionelle Mittellage zurück. In diesem institutionell und bündnispolitisch neu umrissenen Europa musste es aber auch zu einer erheblichen Verlagerung der politischen Macht von der alten Mitte der Europäischen Gemeinschaft, aus Paris, in die neue Mitte der Union, nach Berlin kommen.

Neben diesen klassischen geopolitischen Motiven war das deutsche Engagement für die Osterweiterung auch stark von geoökonomischen Interessen geprägt. Diese kamen im Großen und Ganzen wiederum zugleich den Interessen der deutschen Industrie entgegen. Zum einen dominierten nach dem Systemwechsel deutsche Unternehmen auf den neu erschlossenen Absatzmärkten. Zum anderen floss erhebliches deutsches Kapital in die Staaten Mittel- und Osteuropas, da die deutsche Wirtschaft von den dortigen niedrigen Produktionskosten profitieren konnte. Da diese Länder nach den Marktöffnungen auf Investitionskapital angewiesen waren, wurden diese Niederlassungen zunächst begrüßt. So konnte die deutsche Wirtschaft bezüglich des Außenhandels im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten in der Region eine ökonomische Vormachtstellung aufbauen, auch wenn dies das Wachstum der deutschen Volkswirtschaft zunächst nur gering tangieren mochte.

Trotz Bedenken konnten sich die westeuropäischen Mitgliedstaaten der Osterweiterung nicht verschließen, wenn sie nicht den europäischen Werten zuwiderhandeln wollten und die erneute Entstehung eines „Zwischeneuropas“ auf den Plan rufen wollten. Auch wenn Deutschland weitaus stärker von den Folgen der Balkankriege betroffen war (siehe Abschnitt 6.2.4, S. 164–167), waren diese doch ein Mahnmal dafür, was Instabilität in Europa anrichten konnte. Letzten Endes kam die Bundesrepublik am Ende nicht daran vorbei, hierfür einen wesentlichen Teil der Kosten zu tragen, da sie für die westeuropäischen Staaten der Hauptnutznießer dieser Entwicklung darstellte. Allerdings erhofften sich diese auch – jedoch nicht offen artikuliert –, dass eine erweiterte EU auch die Stärke des vereinten Deutschlands zumindest relativieren würde.

Auch wenn die Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung ihre geopolitischen und geoökonomischen Interessen im mittel- und osteuropäischen Raum wirksam vertreten konnte, kann von einer deutschen Geostrategie nur rudimentär die Rede sein. Ein kohärentes Gesamtkonzept wurde lediglich vom Verteidigungsministerium (BMVg) vorgelegt und betraf nur die sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik. Von den anderen entscheidenden Akteuren im Erweiterungsprozess, wie etwa dem Bundeskanzleramt oder dem Auswärtigen Amt (AA) fehlten dagegen solche Konzepte, von der Verfolgung gar geoökonomischer Interessen ganz zu schweigen. Auch hier übten – zumindest die letzten beiden – Regierungen Kohl weiterhin rhetorische Zurückhaltung, um nicht wieder als bedrohlicher Riese wahrgenommen zu werden. Auch wenn die Osterweiterung Deutschlands geopolitische Lage durch die traditionelle Rückkehr in die Mitte des Kontinents grundlegend veränderte, vermieden die handelnden politischen Akteure hierüber zumindest eine für die breitere Öffentlichkeit angelegte Debatte, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit dieser Ausgangslage aussehen könnte.

2.4 Die Rückkehr des Krieges und der Export von Stabilität

Die sicherheitspolitische Zäsur erfolgte ausgerechnet unter der ersten rot-grünen Regierung, als die Bundesrepublik an ihren ersten wirklichen Kampfeinsätzen teilnahm.Footnote 310 Mit dem Aufflammen neuer gewaltsamer Konflikte im ehemaligen Jugoslawien ab 1997 wurde ein verstärktes militärisches Engagement Deutschlands unausweichlich.Footnote 311 Nachdem Einheiten Serbiens in dessen abtrünniger Provinz Kosovo gewaltsam gegen die dortigen Separatisten vorgingen,Footnote 312 drohte die NATO Serbien mit Sanktionen und des Weiteren auch mit militärischen Schritten.Footnote 313 Zuvor hatte das Massaker von Srebrenica das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft in den jugoslawischen Erbfolgekriegen offengelegt, weshalb eine erneute humanitäre Katastrophe vermieden werden sollte.Footnote 314 In Bonn hoffte man noch bis zum Ende auf eine diplomatische Lösung des Konfliktes, doch lenkte der serbische Präsident Slobodan Milošević nicht ein.Footnote 315 Der Bundestag stimmte am 16. Oktober 1998 einer deutschen Beteiligung an NATO-Aktionen gegen Serbien zu. Als im Frühjahr 1999 serbische Truppen erneut die albanische Bevölkerung im Kosovo zu vertreiben versuchten, begann die NATO mit den Luftschlägen gegen Ziele im Kosovo und Serbien.Footnote 316 Die Bundeswehr beteiligte sich mit dem Einsatz von Jagdbombern, sodass 54 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder deutsche Soldaten an einem Militäreinsatz teilnahmen.Footnote 317

In beiden Regierungsparteien gab es pazifistische Strömungen; der Pazifismus der Grünen gehörte zudem zu den Kernanliegen der Partei.Footnote 318 Dies führte im westlichen Ausland zu der Befürchtung, dass Deutschland den anstehenden Aufgaben im Nordatlantikpakt nur unzureichend nachkommen würde.Footnote 319 Sowohl Schröder als auch Fischer war bewusst, dass ein Balanceakt im Fall einer militärischen Verpflichtung vonnöten sein würde, wenn man sich nicht innerhalb der westlichen Welt isolieren wollte.Footnote 320 Mittlerweile wurde aber nicht mehr der Einsatz deutschen Militärs in Europa als Problem angesehen, sondern die bis dato nicht abschließend beantwortete Frage, ob sich das wiedervereinigte Deutschland nun auch seinen sicherheitspolitischen Verpflichtungen stellen würde.

Deutsche Politiker rechtfertigten die NATO-Aktion – welcher ein Mandat des UN-Sicherheitsrates fehlte –, vor allem mit der Verantwortung dafür, dass der Westen der Vertreibung der Albaner im Kosovo Einhalt bieten und verhindern müsse, dass es dort zu einem neuen „Auschwitz“ käme.Footnote 321 Auch wenn dieser ebenfalls von Fischer herangezogene VergleichFootnote 322 historisch vollkommen überzogen war, war es die historische Leistung des grünen Vizekanzlers, dass er seiner eigenen – bis dahin pazifistischen – Partei, die Zustimmung zu diesem Kampfeinsatz abringen konnte und somit auch gleichzeitig den Fortbestand der Bundesregierung sicherte. Deutschland kam dadurch seinen sicherheitspolitischen Verpflichtungen nach, welche angesichts eines Krieges auf dem europäischen Kontinent bündnispolitisch nun unausweichlich waren.

Schlussendlich brachte erst das militärische Engagement der USA Belgrad zum Einlenken,Footnote 323 wobei der deutsche militärische Beitrag eher unerheblich war, sollte dieser doch in erster Linie lediglich Berechenbarkeit und Verlässlichkeit demonstrieren. Allerdings nutzte die Bundesregierung in dieser verfahrenen Lage ihren Doppelvorsitz in EU und NATO, um einen diplomatischen Ausweg aufzuzeigen.Footnote 324 So gelang es Fischer gemeinsam mit Serbiens Schutzmacht Russland, eine UN-Sicherheitsresolution zu erarbeiten, die den Abzug aller serbischen Sicherheitskräfte vorsah und Milošević zum Nachgeben brachte. Indem Deutschland eine führende Rolle bei der Lösung des Konfliktes übernahm, kehrte es nicht nur in die erste diplomatische Riege der europäischen Mächte zurück, sondern es erreichte dies auch mit einer integrativen Strategie, welche europäische, amerikanische und russische Interessen zusammenführte.Footnote 325

Im Juni 1999 verabschiedete der Europäische Rat unter deutschem Vorsitz einen Stabilitätspakt für Südosteuropa, welcher Milliardenhilfen zum Wiederaufbau vorsah.Footnote 326 Der zentrale Punkt des deutschen Entwurf dieses Paktes lag darin, die Erfolgsgeschichte der europäischen Integration nach Osten auszudehnen, um so stabile Voraussetzungen für Demokratie, Marktwirtschaft und regionale Zusammenarbeit zu schaffen und durch eine nachhaltige Verankerung der Staaten in den euro-atlantischen Strukturen die Region dauerhaft zu stabilisieren.Footnote 327 Im Kern ging es um die Verhinderung einer erneuten Destabilisierung der europäischen Nachbarschaftsregion und um die Frage, welches Ordnungsmodell für diesen Teil Europas gelten sollte.Footnote 328 Nachdem bereits die Integration Polens, Tschechiens und Ungarns – spätestens mit ihrem NATO-Beitritt – in den „Stabilitätsraum Europa“ zu einem Sicherheitsgewinn geführt hatte, galt es nun, eine weitere Lücke im Sicherheitsgürtel um diesen Stabilitätsraum zu schließen.Footnote 329 Die Schaffung einer Stabilitätszone für die Staaten Ex-Jugoslawiens stand allein schon deshalb im Interesse der Bundesrepublik, da man die hohen Zahlen der Flüchtlinge aus der Region wie in den 1990er Jahren in Zukunft unbedingt vermeiden wollte.Footnote 330 Diese geopolitischen Überlegungen waren dennoch weiterhin Tabuthemen, da die Reihe der Skeptiker – besonders ausgeprägt in den beiden Regierungsparteien –, so groß war, dass diese Themen aus dem öffentlichen Diskurs herausgehalten wurden und stattdessen eine moralische Überfrachtung bezüglich der Argumentation für den Kosovo-Einsatz stattfand.

Zur Stabilisierung der Region betreute die Bundeswehr in der multinationalen Kosovo Force (KFOR) einen eigenen Sektor. Gleichzeitig stellte Schröder seinen Kanzleramtsminister Bodo Hombach für den Posten eines „Sonderkoordinators“ der EU für die Region ab, welcher aber in der Folge nur einen Teil der erhofften Milliardenprojekte umsetzen konnte.Footnote 331 Neben moralischen Argumenten rechtfertigte der Kanzler das starke deutsche Engagement dadurch, dass ein instabiler Balkan auch eine Bedrohung für die eigene Sicherheit darstelleFootnote 332:

„Es ist mir wichtig, dass das klar wird. Die Deutschen sind auf dem Balkan, weil sie ein eigenes nationales Interesse an der Stabilität in der Region haben; denn Instabilität in der Region bedroht uns vielleicht nicht unmittelbar und gegenwärtig, aber potenziell schon. Deswegen ist es so wichtig, dass wir den Menschen, die sich nicht jeden Tag mit Politik beschäftigen können und wollen, klarmachen, dass es ein nationales Interesse Deutschlands an der Stabilität in dieser Region gibt.“Footnote 333

Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA wurde Deutschland in die Pflicht genommen, auch aktiv die Sicherheit seiner eigenen Verbündeten zu garantieren.Footnote 334 Einen Tag nach den Anschlägen versicherte Schröder den Vereinigten Staaten die „uneingeschränkte Solidarität“, ferner seien die Attentate als Angriff auf die gesamte zivilisierte Welt zu verstehen.Footnote 335 Kurze Zeit später wiederholte der Kanzler die Bereitschaft den USA beizustehen, machte jedoch auch klar, dass die Bundesrepublik nicht zu „Abenteuern“ bereit sei und mit der Bündnispflicht sei auch das Recht auf Informationen und Konsultationen verbunden.Footnote 336 Schröder hatte sich der Situation angemessen geäußert, sodass man nicht wie in der Vergangenheit Zweifel an Deutschlands Zuverlässigkeit hegen konnte, sich daneben aber auch einen gewissen Spielraum freigehalten.

Die Bundesregierung trug so selbstverständlich auch die Entscheidung der NATO mit, als diese erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall nach Art. 5 des NATO-Vertrages ausrief. Dadurch fand auch die Politik und Kriegsführung der USA gegen Afghanistan deutsche Unterstützung, wo jahrelang die Drahtzieher der Anschläge Unterschlupf gefunden hatten.Footnote 337 Angesichts vermehrt kritischer Gegenstimmen in den Regierungsparteien verband Schröder deshalb die Abstimmung über den Militäreinsatz am 16. November 2001 mit der Vertrauensfrage und konnte dadurch seine Koalition in der Frage disziplinieren – ein Vorgang welcher allerdings nicht wiederholbar war.Footnote 338 Dass bei dem Einsatz auch deutsche sicherheitspolitische Interessen im Spiel waren, sprachen zunächst nur wenige Politiker an, wie Verteidigungsminister Peter Struck, nach welchem die Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidigt würde.Footnote 339 Obwohl Deutschland Mitte 2006 die Verantwortung für die Operation im gesamten Norden Afghanistans übernahm,Footnote 340 bestritten die politischen Verantwortlichen, dass die Bundeswehr sich in einem Krieg befände.Footnote 341 So würde es sich nur um eine „Friedensmission“ handeln, wohl in dem Wissen, dass die Legitimation für den Einsatz in der Öffentlichkeit nicht besonders hoch war.Footnote 342 Nachdem die Hoffnungen auf eine dauerhafte Stabilisierung des Landes zunehmend schwanden, wurde angesichts steigender Gefallenenzahlen die innenpolitische Rechtfertigung für den Bundeswehreinsatz immer schwieriger. Letztendlich blieb nur noch das Argument übrig, das internationale Engagement fortzusetzen, um eine weitere Destabilisierung der Gesamtregion zu verhindern.Footnote 343

Zu offenen deutsch-amerikanischen Differenzen kam es erstmals, nachdem US-Präsident George W. Bush in seiner Rede an die Nation, am 29. Januar 2002 den Irak, Nordkorea und den Iran in eine „Achse des Bösen“ einreihte und ein neues Konzept von Präventivschlägen gegen Staaten, welche sich Massenvernichtungswaffen beschaffen wollten, verkündete. In Deutschland stießen derartige Äußerungen sowohl unter Politikern als auch in der Bevölkerung größtenteils auf starke Ablehnung.Footnote 344 Bis dato war die Bundesrepublik in grundlegenden außenpolitischen Fragen nie von der Seite der USA abgerückt und versuchte als Brückenbauer zwischen Paris und Washington zu agieren.Footnote 345

Nachdem immer klarer wurde, dass die USA zu einem Krieg im Irak entschlossen waren, sprachen sich Schröder und Fischer in einem vertraulichen Gespräch Ende Juli 2002 intern gegen eine deutsche Kriegsbeteiligung aus. Als die Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag vor der Tür standen, sah es gleichzeitig in den Umfragen denkbar schlecht für die Partei des Kanzlers aus.Footnote 346 Schröder erkannte, dass er die Frage von Krieg und Frieden gewinnbringend im anstehenden Wahlkampf einbringen konnte, wusste er die Bevölkerung mehrheitlich hinter sich in dieser Frage.Footnote 347 So äußerte sich Schröder am 5. August beim Wahlkampfauftakt der SPD, als erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein deutscher Regierungschef in einer so zentralen politischen Frage die Unterstützung verweigerte:

„Wir haben uns auf den Weg gemacht, auf unseren deutschen Weg. (…) Und deswegen sage ich: Druck auf Saddam Hussein ja. (…) Aber Spielerei mit Krieg und militärischer Intervention – davor kann ich nur warnen. Das ist mit uns nicht zu machen. (…) Für Abenteuer stehen wir nicht zur Verfügung, und die Zeit der Scheckbuchdiplomatie ist endgültig zu Ende.“Footnote 348

Am 13. September 2002 stellte der Kanzler vor dem Bundestag klar, dass über „die existenziellen Fragen der Nation in Berlin entschieden wird und nirgendwo anders“.Footnote 349 Hierbei beinhalte eine „gleichberechtigte transnationale Partnerschaft“ in erster Linie das Recht, eigenständige Entscheidungen zu treffen.Footnote 350 Glaubt man der Demoskopie, trug vor allem Schröders eindeutige Haltung in dieser Frage zu seinem hauchdünnen Sieg über seinen Herausforderer Edmund Stoiber bei,Footnote 351 der eine klare Festlegung vermied.Footnote 352 Zur Wiederwahl gratulierte Bush Schröder übrigens nicht – ebenfalls ein Novum in den deutsch-amerikanischen Beziehungen,Footnote 353 was verdeutlicht, wie angespannt das Verhältnis zwischen beiden gewesen sein muss. In der Folge raubte aber der Kanzler seiner Regierung auf internationalem Parkett jeglichen Handlungsspielraum, als er in ungestümer Art ankündigte, Deutschland würde keinesfalls einer den Krieg legitimierenden UN-Resolution zustimmen.Footnote 354

Innenpolitisch mochte Schröder seine Haltung in einen Sieg verwandelt haben, doch stand er international zunächst allein dar und drohte sich somit zu isolieren. Großbritannien, Italien, Spanien und der Großteil der Staaten Mittel- und Osteuropas standen in der Irak-Frage an der Seite der USA.Footnote 355 Frankreich und Russland schwankten noch, wie sie sich verhalten sollten. Chirac ging davon aus, dass Stoiber die Wahlen gewinnen und sich am Kriege beteiligen würde. Erst im Januar 2003 konnte – der bis dato in Europa isolierte – Schröder Chirac in der Irak-Frage auf seine Seite ziehen. Da Deutschland zu dem Zeitpunkt nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates war, wollten beide Staaten fortan ihre Position aufeinander abstimmen. In den darauffolgenden Wochen konnte der Bundeskanzler auch den russischen Präsidenten für die Antikriegskoalition gewinnen.Footnote 356

Die EU und ihre zukünftigen Mitgliedstaaten waren jedoch fortan in ein „altes“ und ein „neues“ Europa gespalten. Diese Zweiteilung wurde durch den US-amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld geprägt, wobei Deutschland und Frankreich zur ersten Gruppe gehörten und die Staaten Mittel- und Osteuropas, welche sich der „Koalition der Willigen“ gegen Hussein angeschlossen hatten, zur zweiten.Footnote 357 Der Versuch Deutschlands Europa gegen die USA zu positionieren, einigte nicht den Kontinent, sondern spaltete ihn und ließ Befürchtungen vor einer deutsch-französischen oder gar deutsch-französisch-russischen Hegemonie entstehen und schuf Misstrauen gegenüber Schröders postuliertem „deutschen Weg“.Footnote 358 So versicherten Anfang 2003 im „Brief der Acht“ die Regierungschefs Polen, Tschechiens, Großbritanniens, Italiens, Spaniens, Portugals und Dänemarks den USA die umfassende Solidarität der „Europäer“. Allerdings sollte es auch nicht lange dauern, bis in diesen Ländern die Ernüchterung über den seit März 2003 laufenden Krieg eintrat und die einstige „Koalition der Willigen“ anfing zu bröckeln.Footnote 359 Für die NATO stellte diese tiefe Divergenz zwischen ihren eigenen Mitgliedstaaten einer der schärfsten Krisen in ihrer Geschichte dar.Footnote 360

Angesicht der NATO-Einsätze im Kosovo und Afghanistan waren die Zeiten vorbei, in denen Deutschland die Rolle – auch wenn sich die Lasten im Vergleich zu anderen Partnern noch in Grenzen hielten – eines sicherheitspolitischen Trittbrettfahrers einnahm bzw. sich mit einer „Scheckbuchdiplomatie“ aus der Affäre zog. De facto verlor damit auch die Bundesrepublik ihre Sonderrolle im westlichen Bündnis als „Zivilmacht“. Dennoch wurden die Auslandseinsätze primär aus – den mit Sicherheit vorhandenen – moralischen Motiven gerechtfertigt. Jedoch besitzt besonders Deutschland ein spezifisches Interesse daran, dass der Balkan nicht in Instabilität zerfällt, befinden sich doch die Staaten Ex-Jugoslawiens nicht in direkter, aber zumindest in unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland. Da die Folgen der Balkankriege in starkem Maße sowohl die deutsche Innen- als auch Außenpolitik in den 1990er Jahren herausforderten, lag es seither im Interesse der Mittelmacht Europas dafür zu sorgen, dass sich der Balkan wie schon zuvor die Visegrád-Staaten zu einer „Stabilitätszone“ entwickelt. Dagegen wurde bei dem Afghanistan-Einsatz nur unzureichend klar, wo neben der Bündnissolidarität und dem „Kampf gegen den Terror“, die sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands lagen, wohl auch weil die politischen Verantwortungsträger eine solche Debatte vermeiden wollten.

Die Irak-Krise zeigte anschließend auf, wie schnell sich das wiedervereinigte Deutschland in Europa isolieren konnte, wenn es zunächst unilateral und mit den Partnern unabgestimmt handelte. Auch wenn sich die Verweigerung an einem Waffengang gegen das Regime von Saddam Hussein angesichts fehlender Massenvernichtungswaffen in der Rückblende als kluge Entscheidung herauskristallisierte, stieß das forsche Auftreten Schröders vielen deutschen Verbündeten jenseits und diesseits des Atlantiks vor den Kopf, was sich wohl auch dadurch erklären lässt, dass der Kanzler bezüglich seiner Wiederwahl um das eigene politische Überleben kämpfte.

Auch wenn die Forderung nach Gleichberechtigung gegenüber den USA durchaus berechtigt war, rief der eingeschlagene „deutsche Weg“ bei vielen Partnern im besten Fall Missverständnis bezüglich des unilateralen Vorgehens, im schlimmsten Fall Analogien zu den Irr- und vermeintlichen Sonderwegen der deutschen Geschichte hervor.Footnote 361 Im Sommer 2002 war noch völlig unklar, ob sich der Haltung der Bundesregierung auch andere gewichtige europäische Staaten anschlossen. Berlin drohte in dieser Frage die Isolation auf dem Kontinent. Diese Situation wurde verhindert, indem eine Achse mit Frankreich und Russland gebildet werden konnte. Diese Allianz besaß außer einer Abwehrhaltung gegenüber den USA keine strategische Dimension und schadete der Bundesrepublik gerade in Mittel- und Osteuropa langfristig, wo man sich von Berlin übergangen und seine eigenen sicherheitspolitischen Interessen nicht genügend ernst genommen fühlte

Die erste Bewährungsprobe als neue Mittelmacht Europas überstand das wiedervereinigte Deutschland daher mit einem blauen Auge: Zwar konnte sich die Bundesrepublik aus dem Windschatten der Vereinigten Staaten befreien und ersparte sich damit das Abenteuer des Irak-Krieges. Allerdings konnte Berlin keine Führungsrolle einnehmen – es mag bezweifelt werden, ob dies auch von den Entscheidungsträgern beabsichtigt wurde – und wurde nur aufgrund der späteren Haltung Frankreichs und einer sicherheitspolitisch sehr fragwürdigen Allianz mit Russland vor der Isolation bewahrt. Diese Lage wurde auch dadurch herbeigeführt, dass die Bundesrepublik ihre Mittlerfunktion zwischen Washington und Paris verließ und darüber hinaus unzureichend die Perspektiven anderer Staaten – vor allem Mittel- und Osteuropas, wo Russland immer noch als latente Bedrohung angesehen wurde und man sich dadurch auf die Schutzmacht USA verließ – einbezog. Insgesamt muss konstatiert werden, dass die Bundesregierung ihre Rolle als neue Zentral- und Mittelmacht unzureichend ausfüllte, da besonders innenpolitische Überlegungen den – als forsch empfundenen – „deutschen Weg“ bestimmten.