Das Grundgesetz – Verfassung mit internationaler Strahlkraft | Evangelische Zeitung

Das Grundgesetz – Verfassung mit internationaler Strahlkraft

Mit dem Grundgesetz ist Deutschland nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes ein eindrucksvoller Wandel zum demokratischen Rechtsstaat gelungen. Das hat auch andere Länder inspiriert.

In der internationalen Rechtsgeschichte zeigt sich, dass Abschreiben durchaus ein Weg zum Erfolg sein kann. Schon die Mütter und Väter des Grundgesetzes übernahmen vor 75 Jahren etliche ausländische Elemente in ihren Verfassungsentwurf. Der erwies sich als derart erfolgreich, dass er selbst zum beliebten Exportgut wurde – ganz ohne Copyright.

Viele junge Demokratien orientierten sich am deutschen Vorbild, sei es in Europa, Lateinamerika, Afrika oder Asien. Zentraler Gedanke: Wenn der Bundesrepublik mit dem Grundgesetz der Übergang zum modernen Rechtsstaat gelang – wieso dann nicht auch uns? Gewiss musste man dafür nicht jedes Rad neu erfinden.

Wohl keine andere Verfassung ist so stark vom deutschen Vorläufer geprägt wie die in Spanien von 1978. Schließlich stand das Königreich nach Ende der Franco-Diktatur 1975 vor ganz ähnlichen Herausforderungen wie Deutschland 1949. Und es entschied sich in der Phase der “Transicion” für ähnliche Lösungen: Es muss eine parlamentarische Demokratie her, mit unantastbaren Grundrechten und föderalen Strukturen in 17 autonomen Regionen. Die spanische Verfassungsgerichtsbarkeit wurde ebenfalls dem deutschen Modell nachempfunden.

Die Gemeinsamkeiten reichen weiter bis zu Detailfragen, die das Zusammenspiel von Regierung und Parlament regeln. Ein spanischer Ministerpräsident kann – wie in Deutschland der Bundeskanzler – durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt werden. Neben einer Mehrheit der Abgeordneten ist dafür der Vorschlag eines potenziellen Nachfolgers notwendig (Artikel 113), um eine gewisse politische Stabilität zu gewährleisten. Anhaltende lähmende Phasen ohne handlungsfähige Regierung sollen so vermieden werden.

Auch andernorts in Europa wurden in den 70er Jahren Aufbau und zentrale Inhalte des Grundgesetzes übernommen. Etwa in Spaniens Nachbarland Portugal, das 1976 – zwei Jahre nach der Nelkenrevolution – eine neue Verfassung verabschiedete. In Deutschland ausgebildete griechische Juristen übertrugen überdies Kernelemente in die erste Verfassung Griechenlands nach der Militärdiktatur. Manche Formulierungen wurden dabei gar wörtlich übernommen. Erneut zeigte sich: Abschreiben im Namen der Demokratie kann funktionieren.

Besonders großen Einfluss gewann die bundesrepublikanische Verfassungsordnung, als nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zahlreiche Staaten Ost- und Mitteleuropas daran anknüpften. Als prominente Beispiele gelten Polen und Ungarn, wo sich bis heute große Parallelen zeigen.

Die von vielen Experten zitierte “Strahlkraft” des Grundgesetzes beschränkt sich aber nicht auf den europäischen Kontinent. So übernahm Südkorea bereits zu Beginn der 60er Jahre wesentliche Merkmale des Grundrechtsschutzes und den herausragenden Stellenwert des Bundesverfassungsgerichts. In Lateinamerika ließen sich nicht zuletzt die Schöpfer der brasilianischen Verfassung von deutschen Vorgaben leiten. Nach Ende der Militärdiktatur 1985 erwies sich das Aufgreifen der demokratischen Blaupause aus Bonn trotz räumlicher und sprachlicher Hürden als naheliegend.

Der grundgesetzliche Impuls des “Nie wieder” entfaltete sich außerdem in Südafrika, als 1994 das Apartheid-Regime endete. Beigetragen hat dazu, wie in anderen Fällen, eine intensive Beratertätigkeit deutscher Juristendelegationen.

All diese Erfolge ändern jedoch nichts daran, dass sich die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht einfach per “Copy und Paste” übertragen lässt. Wie es der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde einst auf den Punkt brachte: Keine Verfassung kann ihre eigenen Voraussetzungen garantieren. Demokratie, Freiheit und Menschenrechte müssen – auch im Ursprungsland des Grundgesetzes – jeden Tag aufs Neue erstritten und verteidigt werden.