Der Brief aus Berlin ließ keinen Raum für Missverständnisse. Schriftlich forderte der Kanzler, „den Rücktritt der derzeitigen sächsischen Landesregierung herbeizuführen“, da man „die gegenwärtige sächsische Regierung nicht mehr als eine Landesregierung im Sinne der Verfassung anerkennt“.
Der Adressat, Sachsens Ministerpräsident Erich Zeigner, lehnte postwendend ab: „Ich bestätige den Empfang ihres Schreibens ... Das in ihm enthaltene Ansinnen, zurückzutreten, lehnt die sächsische Regierung entschieden ab, ein politischer Anlass zu ihrer Forderung liegt nicht vor.“ Nur der Landtag sei legitimiert, die sächsische Regierung abzuberufen: „Solange das nicht geschieht, wird die sächsische Regierung auf ihrem Posten ausharren.“
Der Briefwechsel stammt aus den letzten Oktober-Tagen 1923. Damals regierten in Sachsen (und Thüringen) links dominierte SPD-Kabinette zunächst mit Duldung der KPD, dann gestützt von einer Koalition aus (linken) Sozialdemokraten und Kommunisten. Nirgendwo im damaligen Deutschland hatte eine radikale Partei größeren politischen Einfluss als während des Herbstes 1923 im Südosten der Republik. Dagegen ging Reichskanzler Gustav Stresemann (DVP) vor.
Knapp hundert Jahre später ruft das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 Erinnerungen an diese Entwicklung hervor. Es ist wie ein Dejà-vu, wenngleich unter politisch umgekehrten Vorzeichen. Denn nirgendwo ist die rechtsextreme AfD stärker als in Sachsen und Thüringen. In den meisten Wahlkreisen hat der jeweilige blaue Direktkandidat die meisten Erststimmen errungen, und auch bei den Zweitstimmen liegt die Partei von Björn Höcke oft vorne.
Gibt es politische Prägungen, die mehr als ein Jahrhundert anhalten? Die weiter bestehen über drei politische Zäsuren, zwei Diktaturen und einen Weltkrieg hinweg? Sind Sachsen und Thüringen besonders prädestiniert für radikale, also antidemokratische Bewegungen? Ganz gleich, ob sie vom linken oder vom rechten Rand des politischen Spektrums stammen?
Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg hatte sich im stark industriell geprägten Sachsen eine kraftvolle kommunistische Bewegung gebildet. Mit Generalstreiks zum Beispiel in Leipzig und im Zwickauer Steinkohlerevier versuchten ihre Anführer 1919, die demokratische Revolution weiterzutreiben zum Bolschewismus – doch sie scheiterten.
Allerdings blieb eine scharfe Konfrontation zwischen der hier eher von sozialistischen Funktionären der ehemaligen USPD dominierten SPD und dem bürgerlichen Lager; das Zentrum als originär katholische, aber gesellschaftlich ansonsten sehr breit aufgestellte Volkspartei spielte in Sachsen keine Rolle. Bei der Landtagswahl 1922 errang die relativ linke SPD 40 Landtagsmandate, die nationalliberale DVP kam ebenso wie die nationalistische DNVP auf jeweils 19 Sitze. Zünglein an der Waage waren entweder die linksliberale DDP (acht Sitze) oder die streng bolschewistische KPD (zehn Mandate).
Doch die Liberalen konnten sich nicht mit der überwiegend sozialistisch gesinnten SPD-Funktionärsschaft einigen – also bildete Wilhelm Buck eine Minderheitsregierung. Das führte zu einer weiteren Polarisierung, derentwegen Buck am 21. März 1923 zurücktrat. Sein Nachfolger wurde Erich Zeigner, und er war bereit, die ungeschriebene Regel des politischen Anstandes in der Weimarer Republik – keine irgendwie geartete Kooperation mit Kommunisten – zu ignorieren. In seinem Kabinett saßen zwar nur Sozialdemokraten, aber die Regierung ließ sich von der KPD tolerieren.
Mit diesem Rückenwind (der sich ähnlich auch in Thüringen ergab, dort unter Ministerpräsident August Frölich) gingen kommunistische Revolutionäre in die Offensive. Es bildeten sich bewaffnete „proletarische Hundertschaften“, die vor Ort Druck aufbauten. Ein gesellschaftliches Klima der Aggression wuchs heran, das wiederum den Radikalen nützte.
Im Zuge der schweren Reichskrise im Spätsommer 1923 – der gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets gerichtete „Ruhrkampf“ musste wegen der Hyperinflation am 26. September abgebrochen werden – nahmen auch die Probleme in Sachen wie Thüringen zu. Und beide Regierungschefs, Zeigner wie Frölich, reagierten, indem sie führende Kommunisten in ihre Kabinette aufnahmen.
Die Folgen beschrieb der für Sachsen zuständige Reichswehr-Kommandeur Generalleutnant Alfred Müller am 13. Oktober 1923: „Die Arbeitgeber und die verständigen älteren Arbeiter fühlen sich durch diese Minderheit, die vorwiegend durch die radikale Jugend verkörpert wird, bedrückt. Sie fühlen sich dauernd bis in das Familienleben hinein verfolgt, überwacht und bedroht. Sie wagen es nicht, ihre Ansichten offen auszusprechen oder Widerstand zu leisten. Aus Furcht vor Racheakten unterlassen sie sogar Anzeigen strafbarer Handlungen.“
Da sich die Zustände in Sachsen trotzdem nicht besserten, forderte die Reichsregierung unter Kanzler Gustav Stresemann am 27. Oktober den Rücktritt Zeigners und seiner Minister – die Reichsexekution. Sie war als Extremfall in der Weimarer Verfassung vorgesehen, in Artikel 48: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mithilfe der bewaffneten Macht einschreiten.“
Am 29. Oktober (inzwischen hatte die KPD in Hamburg einen rasch niedergeschlagenen bewaffneten Aufstand begonnen) erließ Reichspräsident Friedrich Ebert die entsprechende Notverordnung, und Müller schickte Truppen zu den Dresdner Regierungsgebäuden.
Erst jetzt traten Zeigner und seine Minister zurück, der Landtag wählte zwei Tage später eine neue Regierung unter dem SPD-Abgeordneten Alfred Fellisch. Er blieb nur kurz im Amt; erst sein Nachfolger Max Heldt, der politisch wie Wilhelm Buck dachte, brachte wieder Stabilität nach Sachsen.
Die Neigung zu radikalen Parteien schien vorerst gedämpft: Bei der Landtagswahl 1926 verlor die SPD zwar deutlich, während die KPD zulegte. Doch es bildete sich eine neue bürgerliche Mitte mit immerhin 15 Prozent der Stimmen, während die NSDAP unbedeutend blieb. Doch schon bei der Wahl 1929 erzielten die linken und rechten Radikalen zusammen fast 20 Prozent, 1930 sogar 28 Prozent.
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