FormalPara Sprache

deutsch

FormalPara Hauptgattung

Sachliteratur

FormalPara Untergattung

Kunst / Kunsttheorie / Ästhetik

Die 1970 postum von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann herausgegebene ästhetisch-philosophische Abhandlung, geplant als Hauptwerk neben der Negativen Dialektik (1966) und einem projektierten moralphilosophischen Werk, ist in mehrfacher Hinsicht Fragment geblieben: Adorno starb während der zweiten Redaktionsphase des zunächst mündlich diktierten Textes. Die provisorische Disposition ordnet den durchgehenden und doch in vielfältige aphoristische Abschnitte unterteilten Text in zwölf kapitelartigen Blöcken an. Das Inhaltsverzeichnis der Editoren interpretiert diese Gliederung in stichwortartigen Haupt- und Untertiteln. Im Anhang folgen nicht eingefügte „Paralipomena“, eine „Frühe Einleitung“ sowie ein detailliertes, aber unvollständiges Begriffsregister. Der editorische Kompromiss entspricht der Intention des Autors: Befreit von der übergeordneten deduktiven Systematik traditioneller Theorie präsentiert sich die Ästhetische Theorie dem Leser als ein offenes, umfassend verwobenes Begriffsnetz mit vielen Ein- und Zugängen. Seine Stringenz ergibt sich gerade aus der parataktischen, gleichgewichtig-konzentrischen Anordnung der Teilkomplexe um einen Mittelpunkt.

Diesen artikuliert der Titel als dialektischen Reibungspunkt zweier komplementärer Grenzüberschreitungen: Kunst werde theoretisch, Theorie werde ästhetisch. So beanspruche die moderne Kunst jenseits des ästhetisch-schönen Scheins einen umfassenden Wahrheitsanspruch gegenüber der Vorherrschaft wissenschaftlicher und philosophischer Theorie. Umgekehrt könne diese nur dann den Wahrheitsanspruch der Kunst prüfen, wenn sie sich in den besonderen Gehalt jedes einzelnen Werkes versenke und sich so für das diskursiv Unbegreifliche, Individuelle, Andere und Fremde der Vernunft sensibilisiere.

Ausgangspunkt der Ästhetischen Theorie ist die „Situation“ klassischer moderner Kunst (von Baudelaire und Wagner bis Schönberg und Beckett). Auf der einen Seite treibe die Kulturindustrie die „Entkunstung der Kunst“ in den konsumierbaren Unterhaltungsproduktionen und die Ästhetisierung des Warenüberflusses voran. Dem entziehe sich andererseits die radikale moderne Avantgarde seit der Wende zum 20. Jh., indem sie ihre Bestimmung als „neue Kunst“ im Sinne des Noch-Nicht-Seienden, Utopisch-Aufgegebenen und Anderen gerade gleichzeitig eröffne und verweigernd aufschiebe. Die ästhetische Moderne breche radikal mit Stilen und Traditionen überhaupt, erschüttere in ihren expressiven Momenten die klassische Werkidee organischer Geschlossenheit, unterhöhle die Verbindlichkeit konventioneller Formen und Gattungen. Sie reflektiere darauf, dass die einstigen Invarianten der musikalischen Zeit, des literarischen Sinns und der bildnerischen Gegenständlichkeit zu verfügbarem Material geworden seien. Dieses werde experimentellen und konstruktiven Verfahren unterworfen, die die Grenzen der individuellen künstlerischen Imagination weit überschritten. In den Werkstätten der Moderne werde in didaktischer Weise über einzelne Werke hinaus der dynamisch-prozessuale Charakter der Kunstverfahren freigelegt und der Grundwiderspruch jeder künstlerischen Praxis hervorgetrieben: wie intentional-subjektiv hervorzubringen sei, was nicht bloß gewollter und gemachter, sondern notwendig objektiver Ausdruck sein solle.

In der Forderung, die Kunst und ihre Praxis im Verhältnis zur geschichtlich-gesellschaftlichen Situation zu analysieren, knüpft die Ästhetische Theorie an die sozialphilosophischen Prämissen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule an, zu der neben Max Horkheimer u. a. auch Adorno zählt. In unorthodox materialistisch-dialektischer Methode begreift Adorno hier die Kunst als soziales Faktum und beharrt doch auf der autonomen Wertsphäre des Ästhetischen und dem spezifischen Wahrheitsgehalt jedes einzelnen Werks. Indem sich die Kunst aus ihren frühen magisch-kultischen und religiösen Funktionszusammenhängen emanzipiert habe, sei sie gezwungen, auf die Symbolisierung einer transzendenten Heilsordnung zu verzichten. Stattdessen halte sie das Versprechen eines umfassenderen Versöhnungs- und Glückszusammenhangs von Gesellschaft, Individuum und Natur in negativ-kritischer Weise, ohne falsch befriedende Verheißung fest.

Gegen die bürgerlich-kapitalistische Alleinherrschaft instrumenteller Vernunft, die zu beliebigen Zwecken die ökonomisch-technischen Mittel bereitstelle, sträube sich die Kunst in ihrer Bestimmung nach Kant als in sich „zweckmäßig ohne Zweck“ und vertrete so im Namen des realen Leidens die Idee einer umfassenderen Rationalität jenseits von Herrschaft und Technik. Dennoch gehe auch in die künstlerische Praxis die von Marx an der sozialen Basis angenommene Dialektik der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse ein: Jedes Werk sei vermittelt durch die konkrete Arbeit des künstlerischen Subjekts auf dem jeweils aktuellen historischen Stand des „ästhetischen Materials“. Unter diesem Begriff fasst Adorno nicht nur das stoffliche Sujet oder inhaltliche Werkelemente, sondern die gesamte Schichtung akkumulierter künstlerischer Arbeit in den verschiedenen technischen Werkdimensionen. Die zum Material geronnene subjektive Arbeit stehe der nachfolgenden künstlerischen Produktion gleichsam zur Verfügung. Sobald diese sich aufs Material einlasse, werde sie auf den Spuren der bisherigen Verfahren in die noch ungelösten Probleme fortschreitender Materialbeherrschung objektiv-zwingend verstrickt.

In der Kunst überwintere das frühkulturelle Verhalten der „Mimesis“, die expressiv-gestische Angleichung des Subjekts in Kult und Magie an die objektiven Schauer und Schrecken der noch übermächtigen Natur. Die Grenze zwischen „Häßlichem“ und „Schönem“ markiere daher den Übergang von der noch ungeschiedenen Natur und dem mit ihr korrespondierenden ungezügelten Ausdruck zur Beherrschung und Stilisierung des subjektiven wie objektiven Schauers, der so in einem überwältigt und gerettet werde. Gegen Hegels idealistischen Vorrang des „Kunstschönen“ rehabilitiert Adorno das „Naturschöne“ Kants als ästhetische Grundschicht jeden Kunstwerks. Angesichts der Kolonisierung der Natur durch Gesellschaft und Technik melde sich in der Kunst die Versöhnung mit einer zweiten, zukünftig unentstellten Natur an. In der fernrückenden Distanz der „Aura“ entreiße Kunst die Natur ihrer Kontingenz und bringe das, was sie „mehr zu sagen scheint, als sie ist“, ihr nicht-empirisch Anderes zur „Erscheinung“. In solcher Entbindung transzendenter, das Werk übersteigender Momente leuchte dessen „Geist“ auf – nicht mehr als jenseitige Offenbarung oder als Hegels „sinnliches Scheinen der Idee“ des absoluten Geistes, sondern als innere Vermittlungsbewegung gerade der sinnlichen Momente. Geistig seien die Werke nicht durch vorgegebene Programmatik und politisches Engagement, sondern allein in ihrem nicht-diskursiven, rätselhaften „Schriftcharakter“, ihrer „Traumlogik“, durch ihre mimetische Sprachschicht, zu der der Schlüssel gleichsam verloren gegangen sei. In der Doppelstruktur des Geistes, eingeschrieben ins Werk und zugleich über dieses hinausweisend, zeichne sich der „Wahrheitsgehalt“ des Werks ab, als Anspruch auf „Authentizität“, auf den ereignishaften Zusammenfall von Sagbarem und Unsagbarem. Diese ästhetische Wahrheit ohne Intentionen und Begriffe könne allein von philosophischer Reflexion in negativ umschriebenen Konstellationen des Begriffs eingefangen werden.

Die Krise moderner Kunst erweise als „Zentrum“ und Problem aller Ästhetik die „Rettung des Scheins“ und die Rettung als Schein. Damit ist nicht die romantische Kunst der Phantasmagorie und der Illusion gemeint, sondern die Aufgabe aller Kunst, das technisch Gemachte als ein Nicht-Gemachtes, das Scheinbare als ein Wahres erscheinen zu lassen. Die scheinhafte Selbstkonstitution der Kunst erweise sich als kritische Differenz, als konkrete (nicht abstrakte) Negation der sozialen Realität, aus der die entqualifizierten Objekte ästhetisch errettet würden. Diese Rettung sei wiederum scheinhaft, da auch die Stoffe und Elemente der Werke ihre qualitative Andersheit historisch einbüßten und so zum disponiblen Material künstlerischer Techniken verfielen. Insofern habe Kunst an der fortschreitenden gesellschaftlichen Rationalisierung durch instrumentelle Vernunft teil. Die gewagtesten Werke der Moderne versuchten, sich dem zu entziehen, indem sie sich in gesteigerter immanenter Durchbildung monadisch gegen von außen herangetragene Sinnzusammenhänge abdichteten und doch einen historischen Zeitkern bewahrten. In ihrem Innern verfolgten sie das Ideal der ungezwungenen mimetischen Ähnlichkeit des Identischen und Anderen durch konsistente Artikulationen, in denen die extreme Hitze des unzensierten Ausdrucks und die äußerste Kälte rationaler Konstruktion – ohne versöhnende Synthesis – ineinander umschlügen.

Die Theoreme der Ästhetik Adornos haben nicht zuletzt durch die konkreten Musik- und Literaturanalysen des Autors seit den 1960er Jahren maßgeblichen Einfluss auf Kunstkritik, philosophische Theoriebildung und die programmatischen Reflexionen zeitgenössischer Künstler gehabt.