Fernsehfilm „Es ist alles in Ordnung“

Rainer Tittelbach
Eine Tochter provoziert. Der Stiefvater reagiert hart bis gewaltt�tig. Die Mutter bezieht immer weniger Stellung, sie h�lt an ihrem Traum von der Patchwork-Kleinfamilie fest – notfalls schaut sie weg und verdr�ngt. „Es ist alles in Ordnung“ folgt der gest�rten famili�ren Kommunikation in alle drei Richtungen. Das Verhalten des einen bedingt das Verhalten des anderen. Ein fataler Mechanismus. Ein gro�artiger Film, ein „Fall“, der sich ganz aus der Logik der Erwachsenen-Kind-Interaktion erschlie�t, ohne dramaturgische Zw�nge. Man kommt den Figuren nahe, distanziert sich aber zugleich von ihnen – und das ist gut so!

Foto: WDR / Martin Rottenkolber

Gest�rtes Mutter-Tochter-Ersatzvater-Verh�ltnis. Waschke, Irslinger, Bodenbender

Auf den ersten Blick sind Birgit, ihr Ehemann Andreas, der gemeinsame Sohn Philipp und die 13-j�hrige Sarah aus einer fr�heren Beziehung der Mutter eine materiell sorgenfreie, weitgehend intakte Patchwork-Familie. Probleme gibt es �berall und die Pubert�t ist nun mal eine sehr spezielle Phase – so tr�stet sich Birgit �ber die Spannungen zwischen Mutter, Tochter, Ersatzvater hinweg. Mehr Familienfrieden erhofft sich das Paar durch die formale Best�tigung der Adoption. Das Gegenteil ist der Fall. Der Druck auf Sarah w�chst, ihre Provokationen werden immer aggressiver – und bald ist ihr K�rper �berzogen mit blauen Flecken. Hat sie sich mal wieder gepr�gelt? Ist es – wie sie behauptet – beim Turnen passiert? Oder hat ihr neuer Vater ihren w�tenden Beleidigungen nicht mehr stand halten k�nnen?

Foto: WDR / Martin Rottenkolber

Wisch und weg mit den Tr�nen... Es ist alles in Ordnung. Bodenbender & Irslinger

Willkommen in der Kampfzone Familie. Eine Tochter provoziert, sie will mit ihren Eltern konkurrieren, ihre M�glichkeiten austesten. Der Stiefvater reagiert hart bis gewaltt�tig. Die Mutter bezieht immer weniger Stellung, sie tr�umt von einer gl�cklichen Familie, sie will ihren neuen Mann auf keinen Fall aufgeben und vergisst dar�ber ihre Verantwortung als Mutter. Zwanghaft versucht sie, das vermeintliche Familienidyll mit schickem Reihenhaus aufrecht zu erhalten. Doch die Spirale dreht sich unaufhaltsam weiter. Die Tochter versteht die Welt nicht mehr. Keiner hilft ihr. Keiner sieht hin. Also muss sie noch mehr provozieren. Ihre Waffe ist ihr Mundwerk. Aber das ist so schnell und gemein, dass da nichts Gutes nachkommen kann. „Kann ich eigentlich auch ’ne neue Mutter haben?“ Die Wut der Tochter, die sich verlassen f�hlt, richtet sich mehr und mehr gegen die Mutter und deren verlogenes Harmoniebestreben. Noch sitzen die Erwachsenen am l�ngeren Hebel. In dieser Familie l�uft etwas grundlegend verkehrt. Ein Fehlverhalten provoziert das n�chste. Ein Teufelskreis.

Foto: WDR / Martin Rottenkolber

Sarah (Sinje Irslinger) wei�, welche Kn�pfe sie dr�cken muss, damit Andreas (Mark Waschke) ausrastet und sich hinterher schlecht f�hlt. Ihr Mundwerk ist ihre Waffe.

Nicole Weegmann zum Thema Pubert�t:
„Zu erkennen, was die Erwachsenenwelt f�r einen bereith�lt, kann schockierend und schmerzlich sein. Die eigene Identit�t und Position im Lichte dessen zu finden, zwischen scharfen ersten Erkenntnissen, gro�er Naivit�t und Offenheit f�r alles, dem hormonellen Durcheinander, gro�er Durchl�ssigkeit und Empfindsamkeit... das ist ein riesiger Kraftakt.“

Foto: WDR / Martin Rottenkolber

Sich nur nicht reinschauen lassen (in sein Leben). "Es geht schon wieder." Auch Birgit (Silke Bodenbender) st��t immer h�ufiger an ihre Grenzen. Christina Hecke

In der Erwachsenen-Kind-Interaktion ist von Anfang an der Wurm drin. Die Mutter reagiert auf die heimlichen Tr�nen der Tochter nicht mit Zuwendung, sondern kehrt deren Traurigkeit unter den Teppich. Sie wischt ihr in der �ffentlichkeit die Tr�nen ab; die Nachbarn sollen nichts mitbekommen. „Es ist alles in Ordnung“ – der Filmtitel bringt es auf den Punkt: Die Fassade soll um jeden Preis halten. Um sich diesem komplexen Familienkonflikt zu stellen, ist die von Silke Bodenbender ber�hrend bis bemitleidenswert gespielte Birgit zu unsicher. Damit macht sie sich schuldig. „Sie ist Mitt�terin, weil sie lieber in die Verdr�ngung flieht, als sich mit der Not ihrer Tochter auseinanderzusetzen“, so die Schauspielerin. „Sie ist aber auch Opfer, weil sie sich nicht durchsetzen kann, ihr schlicht die Kraft fehlt, diese Auseinander-setzung zu suchen.“ F�r die Regisseurin Nicole Weegmann („Ihr k�nnt euch niemals sicher sein“) ist die Mutter eine pathologische Wegguckerin. „Es ist eine Frau aus der Mitte der Gesellschaft, wie wir sie alle kennen. Dadurch wird die Rolle der schwachen Mutter und deren psychologische Funktion innerhalb einer Familie grunds�tzlich problematisiert.“

Foto: WDR / Martin Rottenkolber

Die Ruhe nach dem Sturm. Interaktionsgeflecht statt Opfer-T�ter-Dramaturgie. Mark Waschke, Caemon van Erp und Sinje Irslinger. Ein unheilbringender Mechanismus

Christina Ebelt �ber Recherche und Realit�t:
„Die Geschichte ist eine Mischung aus vielen Geschichten, die wir mit Hilfe von Familientherapeuten und Psychologen recherchiert haben. Es war interessant zu erfahren, wie eng die Mitglieder solcher ‚Problemfamilien’ miteinander verwoben sind. Auff�llig war, dass in den Familien soziale Kontakte gemieden werden, und auch, wie stark das Geheimnis die Personen aneinander bindet.“

Foto: WDR / Martin Rottenkolber

F�r das Verlorensein in diesem Teufelskreis findet Kameramann Ngo The Chau ebenso eindrucksvolle wie beil�ufige Bilder. Im Fluss der Montage wirken solche Situationen nicht ausgestellt (wie auf einem Foto). Au�ergew�hnlich gut ist auch – eine Voraussetzung vieler "Sinnbilder" – die Arbeit von Szenenbildnerin Bettina Schmidt (zweifache Grimme-Preis f�r "Teufelsbraten" und "Neue Vahr S�d").

„Es ist alles in Ordnung“ folgt der gest�rten Familienkommunikation in alle drei Richtungen.� Das Verhalten des einen bedingt das Verhalten des anderen. Schuldzuweisungen sind da wenig hilfreich. Diese famili�ren Fehl-Entwicklungen setzen sich von selbst in Gang. Ein ungl�ckseliger Mechanismus, der am Ende drei Opfer zu beklagen hat und zwei erwachsene „T�ter“. Zwischenzeitlich zeigt sogar der neue Ehemann eine gr��ere Reue �ber seine „Straf-aktionen“ als Sarahs Mutter. „Ich h�tte sie da einfach stehen lassen“, erinnert er sich noch voller Schrecken an eine seiner w�tenden �berreaktionen, bei der er das M�dchen im Urlaub an einer Rastst�tte zur�ckl�sst – w�hrend Mutter Birgit diese Situation herunterspielt. Die dramaturgische Besonderheit des sehr stimmig an der Reihenhaus-Oberfl�che entlang inszenierten Films sind die Wechselspiele der Erz�hlperspektiven und der Sympathie-Verteilung. Weil der Zuschauer nicht mit einer Identifikationsfigur huckepack durch die Handlung galoppiert, wird man st�ndig gezwungen, die „St�rung“ dieser Familie immer wieder aufs Neue zu bewerten. Man kommt den Figuren (und ihren Motiven) nahe – und distanziert sich doch zunehmend von ihnen. Das erm�glicht mehr Einsicht in die Situation, �ndert aber nichts daran, dass sie h�chst fatal ist. Es gibt es keinen allein Schuldigen. Die Wunschbilder �bersteigen die eigenen M�glichkeiten. Ohne Hilfe von Au�en kann es keine L�sung geben – wenn es daf�r nicht ohnehin schon zu sp�t ist! (Text-Stand: 19.12.2013)

Foto: WDR / Martin Rottenkolber

Achtung, gleich gibt es Eisl�ffelschie�en... Sarah (beeidruckendes Deb�t: Sinje Irslinger) ist auf der verzweifelten Suche nach ein bisschen Kontrolle. Waschke

Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Pr�fer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr

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