Schlüsselwörter

1 Einleitung

Die Soziologie Max Webers zeichnet sich unter allen strukturalistischen Theorien, etwa solchen aus der Tradition Emile Durkheims, Karl Marx’ oder Georg Simmels, durch ihre Ausrichtung auf eine subjektive Sinndeutung aus. Sein Ansatz berücksichtigt eine Vielzahl von Motivationen für menschliches Handeln, eingeschlossen Motivationen, die aus Emotionen resultieren.

Der terminologische Fluchtpunkt in Webers Werken ist diesbezüglich der Begriff des ›affektuellen Handelns‹. Denn ›affektuelles Handeln‹ hat zum einen einen systematischen Ort in Webers Soziologie, und zum anderen wird eine eindeutige Überschneidung mit emotionsbasiertem Handeln aus seiner grundlegenden Definition offensichtlich: »Das soziale Handeln [kann auch] bestimmt sein affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen.« (Weber 1976: 12) Weil Emotionen demnach für Weber mit Affekten verwoben sind, beinhalten seine Texte keine definitorische Unterscheidung. Folglich können die Ausdrücke ›Emotionen‹ und ›affektuelles Handeln‹ synonym verwendet werden.Footnote 1

Als Hauptquelle der vorliegenden Untersuchung über die grundlegende Bedeutung affektuellen Handelns für Webers Verständnis von Soziologie dient sein systematisches Hauptwerk Wirtschaft und Gesellschaft (WG) (Weber 1976). Hier definiert Weber zentrale Begrifflichkeiten des affektuellen Handelns. Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (PEGK 1972) ist jedoch ebenfalls von zentraler Bedeutung für die vorliegende Untersuchung und soll daher keinesfalls unberücksichtigt bleiben. Im Rahmen der Untersuchung der religiösen Quellen des ›Geistes des Kapitalismus‹ betrachtet das Werk die Art und Weise, in denen Emotionen sich in unterschiedlicher Intensität in verschiedenen religiösen Gruppen zu finden sind. Weber behauptet, dass affektuelles Handeln besonders bei Angehörigen einer der großen Trägergruppen des modernen Kapitalismus stark eingeschränkt war – den Puritanern. Deren asketischer Protestantismus war auf lange Sicht äußerst einflussreich. Tatsächlich waren seine weltlichen Ausprägungen Weber zufolge in den Vereinigten Staaten selbst im zwanzigsten Jahrhundert noch unübersehbar.

Wenn auch auf unterschiedliche Weise, so bieten WG und PEGK doch Analysen, die zu einer Bestimmung der Intensität und zur Verortung von Emotionen in unterschiedlichen sozialen Milieus beitragen. Die häufig vertretene Ansicht, nach der Webers Soziologie sich ausschließlich mit rationalem Handeln befasst und Emotionen vernachlässigt, bedarf daher einer Überprüfung.Footnote 2

2 Die vier Typen sozialen Handelns, soziale Beziehungen und charismatische Herrschaft

Die Bedeutung, die Weber dem affektuellem Handeln beimisst, wird besonders in WG deutlich. Im Rahmen dieser Abhandlung drehen sich gleich drei verschiedene Diskussionen um diese Handlungsform. Sie finden sich in Webers Typologie der vier Typen des sozialen Handelns, in seiner Untersuchung sozialer Beziehungen sowie in seiner Herrschaftstypologie.

2.1 Die vier Typen des sozialen Handelns

Zunächst muss hier Webers grundlegende Definition der Soziologie bedacht werden:

„Soziologie...soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten...heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Weber 1976, S. 1)

Diese Definition führt Weber weiter zur Aufstellung seiner grundlegenden ›Typen des sozialen Handelns‹. Für ihn kann soziales Handeln begrifflich am besten mit einem von vier Typen sinnhaften Handelns erfasst werden: als zweckrationales, wertrationales, traditionales oder affektuelles Handeln (Weber 1976: 12–13). Alle Handlungstypen lassen sich in jeder Epoche und in jeder Zivilisation finden (Weber 1976: 245, 258 ff.; Kalberg 2001: 44–45).

Wie bereits erwähnt, wird affektuelles Handeln »durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen« bestimmt; »es kann hemmungsloses Reagieren auf einen außeralltäglichen Reiz sein.« Handeln ist immer dann affektuelles Handeln, wenn es ein Bedürfnis »nach aktueller Rache, aktuellem Genuss, aktueller Hingabe, aktueller kontemplativer Seligkeit oder nach Abreaktion aktueller Affekte« (Weber 1976: 12) befriedigt. Auf diese Weise stellt Weber die uneingeschränkte Bedeutung affektuellen Handelns für seine soziologische Forschung heraus. Er tut dies auch noch in zwei weiteren Hinsichten.

2.2 Soziale Beziehungen

»›Beziehung‹ soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen.« (Weber 1976: 13) Der Inhalt dieser Beziehung kann dabei über einen weiten Bereich variieren, wie Weber ausdrücklich betont:

„Der Inhalt kann der allerverschiedenste sein: Kampf, Feindschaft, Geschlechtsliebe, Freundschaft, Pietät, Marktaustausch, ›Erfüllung‹ oder ›Umgehung‹ oder ›Bruch‹ einer Vereinbarung, ökonomische oder erotische oder andere ›Konkurrenz‹, ständische oder nationale oder Klassengemeinschaft.“ (Weber 1976: 13)

Soziale Beziehungen versehen somit nach Weber neben den vier Typen sozialen Handelns auch das affektuelle Handeln mit einem festen Fundament. Des Weiteren gilt für ihn, dass eine bestimmte Form sozialer Beziehungen – Vergemeinschaftungen – eine besonders feste Grundlage darstellt. Diese Beziehung basiert »auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten.« (Weber 1976: 21) Als Beispiele nennt Weber »eine pneumatische Brüdergemeinde, eine erotische Beziehung, ein Pietätsverhältnis, eine ›nationale‹ Gemeinschaft, [und] eine kameradschaftlich zusammenhaltende Truppe.« (Weber 1976: 22) Insbesondere Familien sind für diese Art der Beziehungen repräsentativ. Nach Weber gilt: »Die große Mehrzahl sozialer Beziehungen […] hat teils den Charakter der Vergemeinschaftung, teils den der Vergesellschaftung:« (Weber 1976: 22) Selbst in eine ausschließlich auf Berechnung ausgerichtete Geschäftsbeziehung, wie sie etwa zwischen Käufer und Verkäufer besteht, werden mit der Zeit Emotionen eindringen:

„Jede über ein aktuelles Zweckvereinshandeln hinausgehende, also auf längere Dauer eingestellte, soziale Beziehungen zwischen den gleichen Personen herstellende und nicht von vornherein auf sachliche Einzelleistungen begrenzte Vergesellschaftung -- wie etwa die Vergesellschaftung im gleichen Heeresverband, in der gleichen Schulklasse, im gleichen Kontor, der gleichen Werkstatt -- neigt, in freilich höchst verschiedenem Grade, irgendwie dazu.“ (Weber 1976: 22)

Wiederum verankert Weber hier affektuelles Handeln fest in seiner verstehenden Soziologie. Dasselbe geschieht auch in seiner Behandlung der Herrschaftstypologie.

2.3 Charismatische Herrschaft

Die Herrschaftstypologie ist ein zentraler Teil sowohl von Webers WG als auch seiner verstehenden Soziologie im Allgemeinen. In einem weit in die Geschichte zurückgreifenden und verschiedene Zivilisationen umfassenden Überblick gelingt es Weber drei sich stets wiederholende Herrschaftstypen zu identifizieren, die auf unterschiedlichen Legitimitätsgrundlagen ruhen. Die Gründe ihrer ›Legitimitätsgeltung‹ können sein: »rationalen Charakters: auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen« ruhend; oder »traditionalen Charakters: auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen« ruhend; oder auch »charismatischen Charakters« (Weber 1976: 124).

Bedeutsam ist hierbei, dass sich charismatische Herrschaft drastisch von traditioneller und rational-legaler Herrschaft unterscheidet. Sie ist durch einen Glauben charakterisiert, den eine Gruppe von Menschen in Bezug auf bestimmte Personen haben – nämlich, dass diese mit außergewöhnlichen Eigenschaften, außerordentlichen Mächten und ungewöhnlichen Persönlichkeitsmerkmalen ausgestattet ist. Gehorsam gegenüber den Entscheidungen und Befehlen einer charismatischen Person wird aufgrund dieses Glaubens geübt. Beispiele für eine solche Zuschreibung von Charisma finden sich in religiösen (Jesus Christ, Buddha, die alttestamentarischen Propheten, Mohammed) wie in säkularen Bereichen (Lenin, Hitler, Martin Luther King). Zudem besteht eine emotionale Verbindung zwischen dem Führer und seinen Anhängern, die ebenfalls ein Fundament dieser Herrschaftsform bildet; dieses affektuelle Band lässt die Beziehung besonders intensiv werden und bildet die Grundlage einer »charismatischen Gemeinschaft« (Weber 1976: 124, 140–42; Weber 2005: 460–72, 481–535, 542–63).

Kurz gesagt, grundlegende Konzepte in Webers analytischer Abhandlung wie charismatische Herrschaft, soziale Beziehungen und affektuelles Handeln sorgen für eine feste und systematische Verankerung von Emotionen in seiner Soziologie. Jedoch muss unsere Aufmerksamkeit, die wir bisher auf die begriffliche Verortung der Emotionen in seiner Soziologie gerichtet haben, um eine weitere Diskussion ergänzt werden, soll deren volle Bedeutung verstanden werden: Emotionen spielen nämlich auch in seinen vergleichend-historischen Studien eine bedeutende Rolle. Sowohl WG als auch PEGK kennzeichnet eine Beschränkung in Bezug auf ein Hauptthema von Webers Soziologie: die Einzigartigkeit der modernen städtischen, industriellen und kapitalistischen westlichen Gesellschaft und ihre einzigartige Entwicklungsgeschichte. Dieses Thema soll im Folgenden genauer untersucht werden.

Wenden wir uns zunächst Webers allgemeiner Darstellung des industriellen Westens zu, um danach seine Analyse einer der herausragenden Ursachen der westlichen Wirtschaftsentwicklung hin zum modernen Kapitalismus genauer zu betrachten: dem Geist des Kapitalismus. Während WG als Hauptquelle für das erste Thema dient, fällt diese Rolle PEGK in Bezug auf das zweite Thema zu.

3 Moderne Wirtschaft, Herrschaft, Recht: Über die Beschränkung der Emotionen

Wie Weber feststellt, erlangen einige Hauptlebensbereiche im Zuge des Aufstiegs der modernen Industriegesellschaften eine weitgehende Eigengesetzlichkeit. Anders als in den Agrar- und Feudalgesellschaften, in denen die verschiedenen Lebensbereiche oft eng miteinander verflochten waren, entwickeln sich Wirtschaft, Herrschaft und Recht in den Industriegesellschaften in größerem Maße zu Lebensbereichen mit ›eigenen‹ Fragen und Problemstellungen.

Für Weber beinhalten soziale Beziehungen innerhalb der LebensbereicheFootnote 3, wie sie in den vorindustriellen Epochen bestanden, stets ein persönliches Element. So war beispielsweise der Landarbeiter während der Herrschaft der Feudalzeit mit seinem Grundherrn noch persönlich bekannt. Rechte und Pflichten waren zudem auf beiden Seiten durch den Feudalvertrag festgelegt. Der galt – trotz der offenkundig asymmetrischen Machtverteilung – als unantastbar. Übte ein Herr seine Herrschaft in einer Art und Weise aus, die die Grenzen der gültigen Gewohnheit und Moral verletzte, so konnte sich der Landarbeiter dagegen wehren. Nach alter Sitte trug er seinen Protest direkt seinem Herrn vor. Als Folge des persönlichen Charakters des Verhältnisses zwischen Landarbeiter und Grundherrn konnte sich eine emotionale Bindung zwischen Herr und Untergebenem entwickeln (vgl. Weber 2001a: 91; Weber 2001b: 378–79; Weber 2005: 635–36), die auch zur Regulierung dieses Verhältnisses beitragen konnte. In gleicher Weise konnten ökonomische Beziehungen in den feudalen Wirtschaftssystemen ein erhebliches persönliches – auch hier durch eine asymmetrische Machtverteilung gekennzeichnetes – Element beinhalten. Vorindustrielle Rechtsbeziehungen lassen sich in gleicher Weise kennzeichnen.

Demgegenüber zeigt Webers eingehende Untersuchung der stark urbanisierten industriellen Gesellschaften deutliche Veränderungen: In den Bereichen Wirtschaft, Herrschaft und Recht sind unpersönliche an die Stelle persönlicher Beziehungen getreten. Im Bereich der Wirtschaft bestimmen die Gesetze des Marktes über Produktion und den Austausch der Produkte sowie das Einstellen und die Entlassung von Arbeitskräften. Sei es, dass eine Einzelperson eine Haushypothek aufnehmen will oder ein Unternehmen sich um einen Bankkredit bemüht, die Entscheidung wird nun grundsätzlich unter Bezugnahme auf ›sachliche‹ Kriterien getroffen. Kreditauskünfte, frühere Bonitätsbewertungen, Sparguthaben und verfügbare Einkommen sind von größerer Bedeutung als persönliche Beziehungen, Charaktereigenschaften oder ethnische Zugehörigkeit (Weber 1989: 488; Weber 2001a: 193–99). Ähnlich verhält es sich im rechtlichen Bereich. Richter fällen ihr Urteil mit Verweis auf Präzedenzfälle oder in manchen Fällen sogar im Rückgriff auf die geschriebene Verfassung. Fälle müssen ›passend‹ und auf das rechtliche Statut ›ausgerichtet‹ sein. Formal-rationale Wege der Rechtsfindung ›sine ira et studio‹ und ›ohne Ansehen der Person‹ herrschen nunmehr vor (vgl. Weber 1976: 492–93; Weber 1989: 491).

Die Bürokratie verfährt ebenfalls in einer extrem unpersönlichen, formal-rationalen Art und Weise. Verantwortlichkeiten und Aufgaben werden durch feste Hierarchien, Über- und Unterordnungen und streng abgegrenzte Zuständigkeiten und ›Ämter‹ festgesetzt. Der Begriff ›Leistung‹ tritt nur noch im Rahmen spezifizierter Arbeitsabläufe auf, und selbst Leistungsbewertungen finden nach unparteiischen Kriterien statt. In gleicher Weise ist die Einstellung und Beförderung über Bescheinigungen, Prüfungsergebnisse und vorgeschriebenen Verfahren genau rechtlich vorgegeben. Der Staatsbeamte, ›der Fachmann‹ und ›der Manager‹ haben alle ihren exakt definierten Platz in diesem durch Richtlinien und Gesetzesvorschriften gesättigten Milieu. Die Beurteilung der Person – ihre einzigartigen Qualitäten, Charaktereigenschaften und Gefühle – kommt demgegenüber ein vernachlässigbarer Stellenwert zu (vgl. Weber 2005: 185–88).

„Die Bürokratie in ihrer Vollentwicklung steht in einem spezifischen Sinn auch unter dem Prinzip des ›sine ira ac studio‹. Ihre spezifische, dem Kapitalismus willkommene, Eigenart entwickelt sie um so vollkommener, je mehr sie sich ›entmenschlicht‹, je vollkommener, heißt das hier, ihr die spezifische Eigenschaft, welche ihr als Tugend nachgerühmt wird: die Ausschaltung von Liebe, Haß und allen rein persönlichen, überhaupt aller irrationalen, dem Kalkül sich entziehenden, Empfindungselementen aus der Erledigung der Amtsgeschäfte, gelingt.“ (Weber 2005:187; s. Kalberg 2005: 57-59)Footnote 4

Weber argumentiert, dass die Bereiche Herrschaft, Wirtschaft und Recht mit dem Aufstieg der westlichen Industriearbeit Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eine massive Umwandlung entlang der folgenden Linie erfahren haben: Sachliche und vergesellschaftete Beziehungen und formal-rationale Formen der Entscheidungsfindung rückten in den Vordergrund. Neben anderen Auswirkungen bedeutete diese Veränderung eine Verdrängung der Emotionen aus diesen Bereichen im Allgemeinen, wie Weber hervorhebt. Am Arbeitsplatz, der von einer Bürokratie beherrscht wird, im Gerichtssaal und in den Büros der Unternehmer, Finanzexperten und Banker, werden affektuelle Beziehungen an den Rand gedrängt und weichen unpersönlichen Bewertungskriterien und einem Arbeitsethos, das lediglich ›den Job erledigen‹ will. Die Konsequenz ist für Weber offensichtlich: Als für die Bereiche Herrschaft, Wirtschaft und Recht untaugliche Emotionen, werden Mitleid und tiefgehende Gefühle in zunehmendem Maße ausschließlich in den privaten Bereich, hin zu vertrauten Freundschaften und in die Familie gedrängt. Aufs äußerste in ihrem Bestand bedroht, haben diese Gefühle hier ihre Zuflucht gefunden:

„Es ist [kein Zufall], [...] dass heute nur innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise, von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma in stürmischen Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte.“ (Weber 1992: 110)

Webers umfassende Kausalanalyse dieser weit reichenden Umwandlung bezieht eine lange Reihe von Handlungsorientierungen und ihre dynamischen Interaktionen mit ein. Sie vermeidet sowohl die linearen und monokausalen Erklärungen Durkheims (zunehmende ›moralische Dichte‹) und Parsons’ (›zunehmende Differenzierung‹), als auch die Einseitigkeit Marx’, der auf die Macht der Bourgeoisie und ihre Fähigkeit, neue Technologien zu verwenden und das Proletariat auszunutzen, abhebt. Obgleich eine eingehendere Diskussion der multikausalen und mehrdimensionalen Analyse Webers noch aussteht, sei schon auf die wichtige Rolle hingewiesen, die er Handlungsorientierungen zuschreibt, die aus dem kulturellen Bereich hergeleitet sind. Sie kristallisierten sich in einer besonders ausgeprägten Weise im Puritanismus in England und in den Neu-Englandstaaten der USA heraus. Seiner Untersuchung der Art und Weise, in der diese ›protestantische Askese‹ die Emotionen streng einschränkte, soll jetzt unsere Aufmerksamkeit gelten.

4 Die puritanische Beschränkung der Emotionen

Der Puritanismus hielt seinen Einzug im siebzehnten Jahrhundert, größtenteils als Folge von theologischen Abänderungen der Prädestinationslehre Johann Calvins (1509–1564). Diese Abänderung ging auf eine Gruppe von Geistlichen und Theologen der reformierten Kirchen in England zurück, die als ›Puritan Divines‹ bekannt wurden (Weber 1972: 85–89, 163–206). Gemäß ihrer Lehre hat ein unergründlicher, alttestestamentarischer allwissender und allmächtiger Gott, vor aller Zeit darüber entschieden, dass nur einige Wenige als Auserwählte erlöst werden sollen (vgl. Weber 1972: 86–90). Jedoch trotz der scheinbaren Endgültigkeit dieser Auserwählung in dieser intensiv frommen Epoche suchten die Gläubigen eine Antwort auf die brennende Frage: ›Gehöre auch ich zu den Auserwählten?‹ Auf der Grundlage einer Reformulierung der Puritan Divines erfuhren die Gläubigen Hoffnung, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Welche Arten von Tätigkeiten waren aber entscheidend, und wie verstärkten oder beschränkten sie die Emotionen? Arbeit und das Streben nach Gewinn und Reichtum traten nun ins Zentrum des Lebens jeden Puritaners. Diese Dynamik hatte gleichzeitig einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung von Emotionen, was in den folgenden Paragraphen dargestellt werden soll.

Der Fromme des 17. Jahrhunderts wusste genau, dass Gott ›allen Menschen das Gebot erteilt hatte‹, systematisch zu arbeiten. Zusätzlich verkündeten die Puritan Divines, dass dieses kurze Erdenleben eine Verpflichtung zum Aufbau von Gottes irdischem Königreich, der Gerechtigkeit und des Überflusses implizierte, um Gottes Majestät und Herrlichkeit zu verehren – und natürlich konnte diese Aufgabe ebenfalls nur durch systematische Arbeit erfüllt werden. Außerdem, so argumentierten die Divines, war methodische Arbeit ein effektives Mittel um Begierde und rohe Gefühle zu zügeln, wie auch die alles verzehrende Angst, welche die Erlösungsfrage auslöste, zu bekämpfen. So erleichterte Arbeit zugleich die Ausrichtung der Gedanken und der Arbeitsenergie auf Gott und seine Gebote.

Jedoch waren das ständige Bezähmen der eigenen Begierde und die unaufhörliche Arbeit in der Praxis nur schwer zu verwirklichen. In dieser von tiefer Frömmigkeit geprägten Epoche sahen diejenigen, deren Anstrengungen dennoch von Erfolg gekrönt waren, ihren Erfolg ausschließlich als Folge einer gottgegebenen Fähigkeit. Zugleich waren sie sich gewiss, dass diese majestätische Gottheit ihre Unterstützung nur dem Auserwählten zu Teil werden lassen würde. Schließlich erkannten die, die den Reichtum erwarben, der Gottes Reich als ein Land des Überflusses erscheinen ließ, dass ihnen der Erfolg nicht zufällig zugefallen war: Ihre Fähigkeit, zu Gottes Ruhm in dieser Weise beitragen zu können, war zugleich ein Beweis der Intervention dieses allmächtigen und allwissenden Gottes zu ihren Gunsten und bezeugte ihren Erlösungsstand. Nur die Auserwählten seien auf diese Art bevorzugt, so waren sie überzeugt, ihnen war ein Zeichen gesandt worden. Auf diese Weise wurden Reichtum und Profit weiter »verheiligt«, so Weber. Die erfolgreichen Puritaner erwarben gleichsam ›psychologische Prämien‹ (vgl. Weber 1972: 163–206; Weber 2005: 659–61).

Aus dieser sozial-psychologischen Dynamik folgte eine Neu-Verortung von Arbeit, Profit und Reichtum: Puritanismus stellte sie alle ins Zentrum des Lebens. Außerdem erhielten die täglichen Verrichtungen eine rigorosere und disziplinierte, methodische Form. Indem sie ihr gesamtes Leben systematisch organisieren, so zitiert Weber den Mystiker des sechzehnten Jahrhunderts Sebastian Franck, wurden Gläubige zu ›Mönchen‹ – dennoch lebten sie weiter in der Welt, anstatt sich als ›ausserweltliche‹ Asketen in Klöstern abzuschotten (Weber 1972: 119). Und diese alles in Anspruch nehmende Suche nach Erlösung, fokussiert auf Arbeit, Profit, Reichtum und die Erlangung der ›certitudo salutis‹ hatte zur Konsequenz, dass man Emotionen als wertlos empfand. Mehr noch, Emotionen erwiesen sich als Hindernis, Erlösung systematisch zu ersuchen.Footnote 5 Die Frommen waren überzeugt, dass, im Namen des höchsten Zieles, eine disziplinierte Bemühung zu unternehmen sei, jedes affektuelle Handeln umfassend einzuschränken.Footnote 6

Diese, in rigoroser Weise auf Aufgaben, Ziele, Arbeit und das Streben nach Reichtum ausgerichtete ›protestantische Ethik‹ erschuf einen völlig neuen Menschen (Weber 2004a: 410). Zur Ausbildung eines weltlichen Nachfolgers, dem ›Geist des Kapitalismus‹, trug diese protestantische Ethik erheblich bei. Nachdem unterschiedliche Sekten diese Gesinnung aufgenommen hattenFootnote 7, wurde die protestantische Ethik im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert in vielen Regionen Neuenglands verbreitet. Sie erleichterte zudem den Aufstieg des modernen Kapitalismus und der modernen Bürokratie (Weber 1972: 163–206; Weber 1976: 660, 679). In der Tat erforderte dieser ›Geist‹ einen Menschentypus, der sich problemlos in den zweckrationalen Rhythmus eines modernen Arbeitsplatzes einfügte: »Die kühle Sachlichkeit der Vergesellschaftung fördert die präzise Einordnung des Individuums in die Zwecktätigkeit der Gruppe.« (Weber 2004b: 319).

5 Die inneren und äußeren Hindernisse bei der Entfaltung der Emotionen

Nach Weber stehen damit sowohl äußere als auch innere Aspekte des Industriezeitalters in einem antagonistischen Verhältnis zu den Emotionen. Als äußere Aspekte gelten bürokratische Organisation, formal-rationale Gerichtsverfahren und moderne kapitalistische Volkswirtschaft. Innere Eigenschaften hingegen finden sich in den im Puritanismus verwurzelten Wertvorstellungen. Darüber hinaus begrenzen und marginalisieren komplexe bürokratisierte Gesellschaften nicht nur den Einfluss charismatischer Führer, sondern sie beschränken auch die dynamischen Wertkämpfe, die für das Entstehen einer pluralistischen Gesellschaft und gruppenbezogener Zugehörigkeitsgefühle unverzichtbar sind. Erweisen sich derartige Zugehörigkeitsgefühle als stark genug, so wecken sie eine gefühlsbasierte „Hingabe“. Wo immer einer Gesellschaft diese Dynamik fehlt, erweitern sich mit hoher Wahrscheinlichkeit Interessen aus den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu utilitaristischen Orientierungen. Als Folge verbreitet sich ein ›praktischer Rationalismus‹ ohne Werte und Emotionen.

Trotz dieser Analyse kann Weber nicht, wie häufig geschehen, als Denker der Romantik angesehen werden, der sich nach einer ursprünglichen, humaneren und gerechteren Vergangenheit voller menschenbezogener und gefühlsbasierter Beziehungen zurücksehnt. Seine Ambivalenz in Bezug auf die moderne industrielle, städtische und kapitalistische Epoche, von sachlichen Beziehungen gekennzeichnet, ist gut dokumentiert. Weber war sich vollständig bewusst, dass allein bürokratische Organisationen die hohe Leistungsfähigkeit als Grundlage eines bis dahin unvorstellbaren Lebensstandards ermöglichten. Außerdem blieb er stets standhaft in seiner Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit, ganz gleich, wie formal und unpersönlich dessen Implementierung auch sei. Trotz dessen ›mechanischer Grundlage‹ (Weber 1972: 204) würde ein marktorientierter Kapitalismus mit höherer Wahrscheinlichkeit als der Sozialismus konkurrierende Gruppen und gruppenbezogene Zugehörigkeit fördern. Im Namen dieser Offenheit argumentierte Weber unermüdlich in zahllosen Reden und Aufsätzen, die er während der letzten zehn Jahre seines Lebens schrieb.

Um der Entwicklung einer in hohem Grade bürokratisierten Gesellschaft entgegen zu treten oder sie sogar hinauszögern zu können, sah Weber die Notwendigkeit einer Anstalt, die zur Erziehung politisch fähiger Führer dient. Er war überzeugt, dass starke Parlamente ein Übungsfeld für solche charismatischen Führungspersonen sein konnten. Anders als Staatsbeamte und Manager, die in alltäglichen Routinen verhaftet sind, orientieren sich politische Führer an tief verwurzelten Werten. Sofern dies regelmäßig geschieht, würden nach Weber Führungsqualitäten weiter kultiviert und die politischen Führer würden »Leidenschaft für eine Sache« entwickeln. Dadurch würden Werte gefördert, die einer formalen Rationalität der Funktionsträger und der praktisch-rationalen Lebensführung, welche in diesem »modernen unpersönlichen Kosmos« so weit verbreitet sind, in Frage stellen und entgegenwirken. Zugleich würde die unter Staatsbeamten verbreitete Tendenz zurückgedrängt, ihren formalistischen Einfluss auf grundlegende politisch maßgebende Fragen und Debatten auszudehnen (Weber 1988; Weber 1992: 218–40).

Schließlich würde überall da, wo Führer öffentlich im Namen der wert-basierten Ethik auftreten, die Verantwortlichkeit des Einzelnen – im Sinne einer Verantwortungsethik – gefördert. Gleichzeitig würde die »Hingabe an eine Sache« weiter gestützt, Loyalitätsverhältnisse herausgebildet und die emotionalen Verpflichtungen gestärkt. Anders als eine auf Interessen gegründete und ausschließlich berechnend zweckrationale Realpolitik, muss Politik für Weber einen pluralistischen und leidenschaftlichen »Kampf der Werte« enthalten (Weber 1988; Weber 1992: 218–40). Die Begegnung zwischen der bei Staatsbeamten und Managern zu findenden praktisch-rationalen Lebensführung und formaler Rationalität einerseits sowie der Orientierung der Tätigkeit an Werten und affektuellem Handeln andererseits, führt nach Weber notwendigerweise zu dauerhaft schwelenden Konflikten. In dieser Weise würde eine engagierte auf Wertkonstellationen ausgerichtete Bürgergesellschaft entstehen. Dann würden die Bürger alle passiven Tendenzen, »wie eine Schafherde [regiert] zu [werden]«, von sich werfen (Weber 1996: 99).

Wie unter Soziologen eher selten geschehen, bestätigt die von Weber formulierte Analyse regelmäßig den Einfluss von Makroentwicklungen auf das Schicksal der Emotionen. Ihr Rückgang tritt als Folge bestimmter ›interner und externer‹ Konstellationen auf; ihre Stärkung und Expansion andererseits findet aus anderen ›internen und externen‹ Konstellationen heraus statt.