„Nachtgang“, der sechste Film aus der Reihe „Kommissarin Heller“, ist der erste, der nicht auf einer Romanvorlage von Silvia Roth basiert. Autor Thorsten N�ter nutzt die Freiheiten, um einen knallharten, von der ersten bis zur letzten Sekunde packend inszenierten Polizei-Thriller zu erz�hlen: Nach dem Mord an einer uniformierten Kollegen steht das Wiesbadener Pr�sidium unter Schock. Einzig Winnie Heller verst��t gegen s�mtliche ungeschriebenen Regeln: Sie vermutet den M�rder in den eigenen Reihen und wird prompt von allen Seiten gemobbt. Der vielschichtige Krimi-Thriller zeigt das gro�e Potenzial der ZDF-Reihe.
Foto: ZDF / Hannes HubachSt�rker als sonst kommt in "Nachtgang" Winnie Hellers dunkle Seite zum Tragen. Lisa Wagner darf endlich das psychologische Potenzial ihrer Rolle aussch�pfen.
Das deutsche Fernsehpublikum hat traditionell so seine Probleme mit Filmen, in denen die Polizei nicht dein Freund und Helfer ist, sondern selbst Dreck am Stecken hat. Nicht nur deshalb ist „Nachtgang“, die sechste Episode der sehenswerten ZDF-Reihe „Kommissarin Heller“, ein ungew�hnlicher Film: Titelheldin Winnie Heller (Lisa Wagner) gelangt schlie�lich an einen Punkt, an dem sie niemandem mehr vertrauen kann; selbst ihr Partner Hendrik Verhoeven (Hans-Jochen Wagner), den sie nach anf�nglicher gegenseitiger Distanz fast f�r einen Freund hielt, scheint sich mit den Kollegen gegen sie verschworen zu haben. Und so entwickelt sich der Film nicht nur zum Thriller, sondern auch zu einem Lehrst�ck in Sachen Mobbing: Die Wiesbadener Kommissarin wird konsequent isoliert, weil sie den T�ter nicht – wie der Rest des Reviers – im Drogenmilieu, sondern in den eigenen Reihen vermutet.
Das Drehbuch stammt vom Krimispezialisten Thorsten N�ter (10x „Tatort“, 8x „Doppelter Einsatz“), der seine Vorlagen sonst meist selbst realisiert. „Nachtgang“ ist die erste Folge, die nicht auf einem Roman, sondern nur noch auf den Figuren von Silvia Roth basiert, aber die ersten f�nf Filme sind ohnehin schon recht frei mit den B�chern umgegangen. Bei der Schriftstellerin sind Heller und Verhoeven gleichberechtigte Hauptfiguren, in den Adaptionen steht die Kommissarin eindeutig im Vordergrund, was diesmal sogar zur Folge hat, dass das Privatleben des Kollegen den Fluss der Handlung st�rt: Seine Tochter ist beim Ladendiebstahl ertappt worden. Erst sp�ter zeigt sich, warum auch diese Nebenepisode stimmiger Teil des klugen Konzepts ist, denn N�ters Thema ist letztlich die Frage, wie weit Loyalit�t gehen darf oder gehen muss – und wann Polizisten eine rote Linie �berschreiten.
Foto: ZDF / Hannes HubachDie Polizei d�rfte nicht unbeschadet aus dem Fall hervorgehen. Heyer & 2x Wagner
Der Film beginnt allerdings ganz anders. Regisseurin Christiane Balthasar („Der Wagner-Clan. Eine Familiengeschichte“) hat bislang s�mtliche Folgen der Reihe gedreht und gibt mit dem packenden Einstieg, der auch Auftakt zu einem Horrorfilm sein k�nnte, Stimmung, Tonfall und Tempo vor: Eine verwirrte Frau taumelt in Panik durch die Stra�en, die Musik von Johannes Kobilke treibt sie regelrecht vor sich her; nur mit M�he k�nnen zwei Polizisten sie in Gewahrsam nehmen. Mit der eigentlichen Geschichte hat dieser Prolog nichts zu tun, aber dank Inszenierung, Schnitt und Musik beginnt „Nachtgang“ auf einem eindrucksvoll hohen Spannungsniveau. Dass die Regisseurin die Intensit�t dieser Szene im Verlauf des Films sogar noch steigert und verdichtet, macht „Nachtgang“ zu einem �u�erst bemerkenswerten Krimi.
The Chordettes („Que Sera Sera“)
Der erste Einsatz der Hauptfigur ist im Grunde ein zweiter Prolog und wirkt, als ob N�ter die Figur f�r sich selbst neu erschaffen h�tte: Bei einer aufw�ndigen SEK-Aktion sorgt die Kommissarin mit einem verbl�ffenden Auftritt daf�r, dass ein schon lange gesuchter Gangster verhaftet werden kann. Als der Mann auf sie schie�t, ist sie wie paralysiert; Verhoeven macht ihr klar, dass er keine Kollegin brauchen kann, die offenbar lebensm�de ist. Aber Heller ist nicht suizidgef�hrdet, sondern blo� durch den Wind, weil heute der Todestag ihrer Schwester ist. Dissozial aber ist sie auch an anderen Tagen, und daf�r hat N�ter ebenfalls eine pr�gnante Szene: Das Pr�sidium feiert am Abend den Abschied eines verdienten Kollegen, dessen Name Heller gar nichts sagt, obwohl sie laut Verhoeven seit drei Jahren mit ihm zusammenarbeitet. W�hrend der Rede des Polizeichefs randaliert die mittlerweile schon recht angetrunkene Kommissarin am Kaffeeautomaten. Mitten hinein in die Feier kommen zwei Meldungen: Es gibt eine Schl�gerei in einem Club und verd�chtige Vorkommnisse in einer alten Fabrik. Vier Streifenpolizisten r�cken aus; eine Beamtin wird in der Fabrik schwer verletzt und sp�ter sterben. Die Spur scheint ins Drogenmilieu zu f�hren, aber Heller ahnt, dass etwas v�llig anderes dahintersteckt. Sie setzt sich �ber das ausdr�ckliche Verbot ihrer Vorgesetzten hinweg und ermittelt gegen die eigenen Kollegen. Bislang war sie nur Au�enseiterin; nun wird sie behandelt wie eine Auss�tzige und schlie�lich sogar krankenhausreif gepr�gelt. Viel mehr schmerzt sie jedoch der Eindruck, dass nicht mal Verhoeven zu ihr h�lt (glaubt sie jedenfalls).
Foto: ZDF / Hannes HubachNicht lebensm�de, aber immer etwas dissozial und am Todestag der Schwester besonders schlecht drauf. Und dann wird Heller von ihren Kollegen gemobbt.
Schon die Geschichte ist ungew�hnlich, zumal N�ters Drehbuch diverse Details enth�lt, die auf den ersten Blick bedeutungslos erscheinen, sich aber schlie�lich zu einem schl�ssigen Gesamtbild zusammensetzen. Dass beispielsweise Hellers Blick beim Abschiedsfest auf n�chtliche Schwei�arbeiten auf der Stra�e f�llt, hat sp�ter ma�geblichen Einfluss auf ihre Erkenntnis, dass einige Kollegen Dreck am Stecken haben. Zum herausragenden Reihenkrimi wird „Nachtgang“ durch Balthasars Inszenierung, weil sie N�ters Drehbuch gemeinsam mit ihrem bevorzugten Kameramann Hannes Hubach in kongeniale Bilder verwandelt hat. Bis auf wenige Ausnahmen zieht sich gerade in den Nachtaufnahmen eine bl�uliche K�lte durch den Film. Selbst Verhoevens Zuhause wirkt durch den Verzicht auf warme Farben alles andere als heimelig, weshalb die Stimmung nach dem Diebstahl der Tochter in jeder Hinsicht frostig ist. Auch die Tonspur spielt eine wichtige Rolle, und das nicht nur, wegen Kobilkes spektakul�rer Musik. Immer wieder dr�ngen sich die Ger�usche in den Vordergrund und sorgen mitunter sogar f�r unerwartete Heiterkeit, als mitten im SEK-Einsatz zu Beginn ein kleiner Junge mit einem ferngesteuerten Spielzeugpolizeiauto samt lautem Martinshorn auftaucht.
Es gibt derart wenige deutsche Filme, die sich mit dem Mikrokosmos Polizei besch�ftigen, dass man sie alle aufz�hlen k�nnte, ohne den Rahmen zu sprengen. Wollte man dennoch von einer Tradition sprechen, so beginnt sie mit Dominik Grafs str�flich untersch�tztem Kinofilm „Die Sieger“ (1994). Weitere Werke w�ren unter anderem die gleichfalls vom Publikum verschm�hte Sat-1-Serie „Blackout - Die Erinnerung ist t�dlich“ (2008), Philipp Leinemanns formidables Regiedeb�t „Wir waren K�nige“ (2014) oder zuletzt Lars Beckers Krimis „Unter Feinden“ und „Zum Sterben zu fr�h“. Dass N�ter und Balthasar nun „Kommissarin Heller“ nutzen, um diese Tradition auf denkbar d�stere Weise aufzugreifen, zeigt das gro�e Potenzial der Reihe, auch wenn die Fans der Romane das wom�glich anders sehen k�nnten.
Foto: ZDF / Hannes HubachBald gibt es keine gemeinsamen Fotos der Wagners mehr f�r "Kommissarin Heller". Hans-Jochen Wagner verl�sst die ZDF-Reihe, um "Tatort"-Kommissar zu werden.
Tilmann P. Gangloff ist seit 1985 freiberuflicher Fernseh- und Filmkritiker f�r Tageszeitungen und Fachzeitschriften, seit 1990 regelm��iges Mitglied der Jury f�r den Grimme-Preis sowie Mitglied diverser anderer Fernsehpreisjurys.