Zum dritten Mal seit Beginn des Krieges hat Russland den 9. Mai begangen. Die Siegesparade in Moskau im Jahr 2024 war noch bescheidener als im Vorjahr. Doch der äußere Eindruck täuscht. Ist das die Ruhe vor dem Sturm?
Es war eine bewegte Woche für Wladimir Putin. Mit prunkvollem Zeremoniell wurde er am 7. Mai als Präsident der Russischen Föderation im Kreml vereidigt. Zwei Tage später nahm er auf dem Roten Platz dann die Militärparade zum Tag des Sieges ab. Seine Botschaft war klar und deutlich: Russland wird den Krieg gewinnen.
Die bescheidene Größe der diesjährigen Feierlichkeiten wirft jedoch Fragen auf. Lediglich neuntausend Personen nahmen an der Parade teil, was einem Rückgang von zweitausend im Vergleich zum Jahr 2022 entspricht. Ist dies ein Zeichen für geschwächte Kräfte oder die Vorbereitung auf eine neue Offensive? Das ist schwer zu sagen. Fest steht nur, dass insgesamt bloß 61 gepanzerte Fahrzeuge über den Roten Platz führen. Das ist ebenfalls weniger als im Vorjahr, als 125 verschiedene Vehikel zu sehen waren. Außerdem flogen 15 Kampfflugzeuge am Himmel – die kleinste Luftgruppe bei den Paraden der letzten Jahre.
Auch das Wetter spielte nicht mit. Zum ersten Mal seit Jahren fiel Schnee, und die Temperaturen erreichten ein Tief, das zuletzt am 9. Mai 1999 gemessen wurde. Der Schneefall begleitete die Parade bis zu ihrem Ende und verlieh ihr einen düsteren Charakter.
Unter diesen Umständen begann die Veranstaltung mit dem Auszug der russischen Flagge und des Siegesbanners auf den Roten Platz. Sie wurde vom Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte, General Oleg Saljukow, befehligt und von Verteidigungsminister Schoigu geleitet. Insgesamt 30 Paradetruppen marschierten am Kreml vorbei, darunter mehr als eintausend Kämpfer der Spezialoperationen. Überraschenderweise waren neun Flugzeuge der Kunstflugstaffeln „Schwalben“ und „Ritter“ sowie sechs Su-25 Sturzkampfflugzeuge am Himmel zu sehen, die einen farbigen Rauchschweif in Form der russischen Flagge hinterließen. Dies war unerwartet, da die Flugshow in den letzten Jahren trotz besserer Wetterbedingungen abgesagt wurde. Möglicherweise wurde der Überflug dieses Mal nicht gestrichen, da nur kleine Maschinen teilnahmen. Insgesamt war es die bescheidenste Siegesfeier seit 2008. Es nahmen lediglich 111 Fahrzeuge, 32 Flugzeuge und Hubschrauber teil.
Werden Truppen für eine bevorstehende Offensive gebündelt?
Wie im Vorjahr war der einzige Panzer ein T-34 aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, der die Kolonne anführte. Ihm folgten gepanzerte Truppentransporter BTR-82A sowie Fahrzeuge des Typs „Tiger“, „VPK-Ural“, sanitäre gepanzerte Wagen vom Typ „Lens“, gepanzerte Fahrzeuge „Typhoon-K“, taktische Raketenkomplexe „Iskander“, Luftverteidigungssysteme S-400 und Interkontinentalraketen „Jars“. Seit 2015 wurden bei den Paraden am 9. Mai auf dem Roten Platz stets moderne Systeme gezeigt, darunter der Panzer T-14 und der Schützenpanzer T-15 aus der „Armata“-Familie, der Schützenpanzer „Kurganets“, die Selbstfahrlafette „Koalition“ und das Radkampffahrzeug der Infanterie „Boomerang“.
Vor dem Ausbruch des Krieges wurden letztere in der Staatspropaganda als Symbol für die neue Stärke der russischen Armee dargestellt, obwohl keines von ihnen in Serie produziert wurde. Die Gründe für das Fehlen neuer Entwicklungen werden von der russischen Führung nicht genannt. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass man unangenehmen Fragen ausweichen möchte.In sozialen Netzwerken und Militärblogs wurden bei Kriegsbeginn viele Kommentare veröffentlicht, in denen die Autoren das Fehlen neuer Systeme an der Front diskutierten. In der russischen Presse gab es beispielsweise Berichte über den begrenzten Einsatz von T-14-Panzern in der Ukraine.
Das Fehlen älterer Panzer wie modernisierte Versionen von T-72, T-80 und T-90 kann auf verschiedene Weisen erklärt werden, aber viele Kommentatoren glauben, dass es Russland noch immer an Panzerfahrzeugen an der Front mangelt. Gleichwohl besteht auch die Möglichkeit, dass die vorhandenen Truppen gerade für eine bevorstehende Offensive gebündelt werden. Dies ist jedoch schwer zu beweisen, da der Kreml weder Daten über die Anzahl der Panzerfahrzeuge und deren Verluste noch über die Produktion und Wiederherstellung veröffentlicht. Jedoch deuten die Lieferungen veralteter Kampffahrzeuge an die Front, einschließlich T-62 und BMP-1, indirekt auf einen Mangel an neuen Panzern und anderem Kriegsgerät hin.
"Die gegenwärtigen Anhänger der Nazis"
Die Anzahl der gelandeten Gäste war ebenfalls begrenzt, und politische Schwergewichte waren nicht vertreten. Diesmal standen nur Alexander Lukaschenko, Qassym-Schomart Toqajew (Kasachstan), Sadyr Dschaparow (Kirgisistan), Emomalij Rachmon (Tadschikistan), Serdar Berdimuchammedow (Turkmenistan), Schawkat Mirzijojew (Usbekistan), Miguel Díaz-Canel Bermúdez (Kuba), Umaro Sissoco Embaló (Guinea-Bissau) und Thongloun Sisoulith (Laos) auf der Tribüne an Putins Seite.
Vor Beginn der Parade hielt Putin seine obligatorische Rede. In den letzten beiden Jahren hatte er nicht nur den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, sondern auch Russlands Krieg gegen die Ukraine und die Konfrontation mit dem Westen thematisiert. Diesmal war die anti-westliche Rhetorik jedoch schwächer ausgeprägt. Nach einer kurzen Begrüßung kam Putin zunächst auf die Erinnerungskultur zu sprechen:
„Heute sehen wir, wie die Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg verzerrt wird. Sie stört jene, die daran gewöhnt sind, ihre koloniale Politik auf Heuchelei und Lügen aufzubauen. Sie reißen die Denkmäler für die wahren Kämpfer gegen den Nationalsozialismus nieder, stellen Verräter und Helfer der Nazis auf Podeste und löschen die Erinnerung an den Heroismus und den Edelmut der Befreier aus, an das große Opfer, das sie für das Leben gebracht haben.
Rachsucht, eine Verhöhnung der Geschichte und der Wunsch, die gegenwärtigen Anhänger der Nazis zu legitimieren – all das ist Teil der Politik der westlichen Eliten, die darauf abzielt, immer neue regionale Konflikte, zwischenstaatliche und interreligiöse Feindschaften anzufachen sowie eine multipolare Weltordnung zu unterdrücken.“
"Für Russland! Für den Sieg. Hurra!"
Wie schon in seinen letzten beiden Ansprachen zum Tag des Sieges, stellte Putin eine direkte Verbindung zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Kampf in der Ukraine her
„Russland erlebt derzeit eine schwierige, entscheidende Zeit. Das Schicksal des Vaterlandes, seine Zukunft hängt von jedem von uns ab. Heute, am Tag des Sieges, verstehen wir das noch schärfer und klarer und orientieren uns unverändert an der Generation der Sieger.
Wie tun das und sind dabei mutig, edel und weise. Wir orientieren uns an ihrer Fähigkeit, Freundschaft zu pflegen und Schwierigkeiten standhaft zu ertragen, immer an sich selbst und an ihr Land zu glauben, die Heimat aufrichtig und bedingungslos zu lieben.“
Erneut nannte Putin die russischen Soldaten an der Front „Helden“ und erklärte, dass ganz Russland sich vor ihnen verneige. Die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges blickten auf sie herab und sorgten sich um sie.
„Wir begehen den Tag des Sieges unter den Bedingungen der Durchführung einer speziellen Militäroperation. Jene, die an vorderster Front stehen, an der Frontlinie, sind unsere Helden. Wir verneigen uns vor Ihrer Standhaftigkeit und Selbstlosigkeit, Ihrem Hingebungsvermögen. Mit Ihnen ist ganz Russland!“
Zum Ende seiner Rede hielt Putin eine Schweigeminute. Zuvor erwähnte er die „barbarischen Terrorakte von Neonazis“ und verkündete den Fortschritt Russlands, gestützt auf „jahrhundertealte Traditionen“, mit dem Ziel einer „sicheren Zukunft“. Putin schloss seine Ansprache mit den Worten „Ruhm den tapferen Streitkräften. Für Russland! Für den Sieg. Hurra!"
1965 wurde der 9. Mai wieder zum gesetzlichen Feiertag erklärt
Der Tag des Sieges hat in Russland eine wechselvolle Geschichte. Nach einer Parade auf dem Roten Platz im Jahr 1945 unter Stalin wurden sämtliche Feierlichkeiten untersagt. Stalin lehnte eine nationale Erinnerungskultur ohne ihn ab und degradierte den Tag des Sieges im Dezember 1947 zu einem Werktag, während er Neujahr zum gesetzlichen Feiertag erklärte.
Auch unter Nikita Chruschtschow änderte sich wenig. Als 1955 der zehnte Jahrestag des Sieges über Deutschland begangen wurde, gingen die Werktätigen der UdSSR wie üblich ihrer Arbeit nach, ohne die Möglichkeit einer Militärparade zu haben, da die Regierung kein solches Ereignis organisierte. Diese Tatsache ist heute jedoch vielen nicht bewusst, was dazu führt, dass der 9. Mai sowohl in Russland als auch in Europa oft als traditioneller Feiertag wahrgenommen wird.
Erst unter Leonid Breschnew kam die Wende. Im Jahr 1965 wurde der 9. Mai wieder zum gesetzlichen Feiertag erklärt und es wurde angeordnet, dass jedes Jahr eine Militärparade auf dem Roten Platz stattfinden sollte. Zusätzlich wurde 1967 am Kreml eine Gedenkstätte für den Unbekannten Soldaten errichtet, wo eine ewige Flamme seither das Andenken an die gefallenen Rotarmisten bewahrt.
Es ist festzustellen, dass der Tag des Sieges in seiner aktuellen Funktion weniger darauf basiert, historische Fakten zu verdeutlichen, sondern vielmehr als Instrument dient, das der Kreml für seine eigenen Zwecke nutzt. Die Vorstellung, dass alle sowjetischen Soldaten Helden waren und kämpften, um Europa vom Nationalsozialismus zu befreien, ist genauso absurd wie die heutige Behauptung, dass russischen Soldaten in der Ukraine heroische Motive zugeschrieben werden können. Wie so oft entspricht die Realität weit weniger noblen Idealen. Sowohl damals als auch heute handelt es sich bei den Soldaten um Männer, die von der Regierung in einen Krieg geschickt wurden. Unter ihnen waren Personen aller Couleur: Jung und Alt, barmherzig und grausam, tapfer und feige. Seit Menschengedenken waren Soldaten von allem und nichts. Und dennoch waren sie immer Opfer.
Verlust von Charkiw wäre eine verheerende Niederlage.
Dass die staatliche Propaganda Russlands in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg das Gegenteil behauptet, ist Teil eines Kalküls, das auf der Manipulation der Massen basiert. Während Breschnew den Tag des Sieges als Feiertag etablierte, um die Menschen, die unter den jahrzehntelangen Gewaltexzessen der Regierung gelitten hatten, mit dem Staat zu versöhnen, nutzt Putin ihn, um den Menschen zu schmeicheln.
Die Wirkung dieser Methode beruht darauf, dass viele Russen die Grenzen des Individuums überschreiten und im Kollektiv aufgehen können. Wenn der Kreml Wladimir Putin als Retter des russischen Volkes inszeniert und den Menschen das Gefühl von Erhabenheit verleiht, werden alle Alltagsprobleme schnell vergessen.
Die Bedeutung des 9. Mai, der in Russland erst seit 1995 wieder gefeiert wird (vorher war das Interesse des Kremls eher gering), besteht nicht darin, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu einem kitschigen Heldenepos zu verklären. Viel wichtiger ist, was die von ihm geschürte Stimmung für die Zukunft bedeutet. Und hier wartet nichts Gutes. Wer gehofft hatte, die russische Gesellschaft würde im Laufe der Jahre kriegsmüde und wäre an einem Ende der Kämpfe interessiert, wurde bitter enttäuscht. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall. Demnach wird die russische Bevölkerung den Krieg sowie die damit verbundene Regierungspolitik bis zum Ende unterstützen, während Wladimir Putin die Geschicke seines Landes lenken voraussichtlich bis zu seinem Tod lenken wird.
Dazu gehört auch die Vorbereitung einer neuen Großoffensive, die für den Sommer erwartet wird und die Ukraine an den Rand einer Niederlage drängen könnte. Während noch niemand weiß, wo genau dieser Hammerschlag erfolgen wird, scheint das Präludium bereits begonnen zu haben. Am Morgen des 10. Mai griff Russland mit 40.000 Mann im Raum Charkiw an. Zwar konnten diese Angriffe laut Kiew zunächst abgewehrt werden. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass weiterhin Kämpfe unterschiedlicher Intensität stattfinden und Reserven in dieser Region eingesetzt werden müssen, um die Verteidigung zu verstärken.
Sollte es den Russen gelingen, die ukrainischen Linien in dieser Region zu durchbrechen, würde dies die Entblößung der zweitgrößten Stadt des Landes bedeuten. Ihr Verlust wäre für Kiew eine verheerende Niederlage.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.