Das Experiment (D 2001) : KRITIK : artechock

Das Experiment

Deutschland 2001120 min. � FSK: ab 16
Regie: Oliver Hirschbiegel
Drehbuch: , ,
Kamera: Rainer Klausmann
Darsteller: Moritz Bleibtreu, Christian Berkel, Timo Dierkes, Justus von Dohnanyi u.a.

Die innere Unsicherheit

Dass das, was wir Zivi�li�sa�tion nennen, nur ein d�nner Firnis sei, gilt heute allent�halben als ausge�macht. Die ma�losen Gewalt�taten des 20. Jahr�hun�derts scheinen endg�ltig best�tigt zu haben: unter der Decke von Sitte, Erziehung und Moral lauert der Abgrund einer mensch�li�chen Natur, f�r die nach wie vor der Satz des engli�schen Philo�so�phen Thomas Hobbes die tref�fendste Beschrei�bung liefert: �Der Mensch ist dem anderen ein Wolf�.

Um so dr�n�gender stellt sich die Frage, wie es zu solchen R�ck�f�llen in barba�ri�sche Natur�zu�st�nde �berhaupt kommen kann, und wie sie sich m�gli�cher�weise doch verhin�dern lassen.
Es sind diese Themen rund um das Verh�ltnis von kultu�reller Ordnung und Barbarei, die im Mittel�punkt von Oliver Hirsch�bie�gels Thriller Das Expe�ri�ment stehen. Ausgehend von histo�ri�schen Fakten – dem seiner�zeit ber�hmten �Stanford Prison Expe�ri�ment� von Philip Zimbardo aus dem Jahr 1971 – und deren Bear�bei�tung in Mario Giordanos Roman �Black Box� beschreibt Hirsch�bie�gels Spielfilm die fatale Eigen�dy�namik von sozialer Grup�pen�bil�dungen und Rollen�zw�ngen.

Als Iden�ti�fi�ka�ti�ons�figur des Zuschauers fungiert Tarek Fahd (Moritz Bleibtreu), ein Jour�na�list. Er reagiert auf eine Zeitungs�an�zeige, in der Versuchs�per�sonen f�r ein nicht n�her defi�niertes Forschungs�pro�jekt gesucht werden. Nachdem er als einer unter 24 M�nnern ange�nommen wird, erf�hrt er, das es sich hier darum handelt, die Versuchs�per�sonen nach dem Zufalls�prinzip in Gefangene und deren W�rter zu unter�teilen. Zwei Wochen lang sollen sie in dem als Gef�ngnis umge�bauten und mit �ber�wa�chungs�ka�meras und Mikro�phonen verse�henen Keller der Univer�sit�t hausen, die Gefan�genen unter drastisch einge�schr�nkten Bedin�gungen – in Zellen einge�pfercht, mit nur einem sack�ar�tigen Hemd bekleidet –, die W�rter ausger�stet mit Hand�schellen, Schlags�t��cken und vor allem absoluter Gewalt �ber die ihnen anver�trauten Menschen. Tarik, der eine gro�e Under�cover-Story wittert, r�stet sich zuvor noch heimlich mit einer versteckten Geheim�ka�mera aus, um Recher�che�ma�te�rial zu sammeln.

Nachdem das Expe�ri�ment unter Leitung von Prof. Thon (Edgar Selge) und seiner Kollegin Jutta Grimm (Andrea Sawatzki) einmal begonnen hat, eskaliert es schnell. �W�rter� und �Gefangene� finden sich schnell in ihre sozialen Rollen ein, gehen mehr und mehr ganz in ihnen auf. W�hrend die W�rter ihre Macht zur gnaden�losen Diszi�pli�nie�rung der Gefan�genen ausnutzen, und dabei auch vor will�k�r�li�chen �ber�schrei�tungen der von den Versuchs�lei�tern vorge�ge�benen Richt�li�nien nicht zur�ck�scheuen, reagiert die Mehrzahl der Gefan�genen mit voraus�ei�lendem Gehorsam. Auf die Rebel�li�ons�ver�suche der Minder�heit, die sich der Haft�ord�nung nicht f�gen kann oder will, reagieren die W�rter mit uner�war�teter H�rte: Gefangene werden vor allen Augen gede�m��tigt, Rebellen werden gegen die schwei�gende Mehrheit ausge�spielt.
Besonders einer der W�rter, der zun�chst unschein�bare Berus (Justus von Dohnanyi) entwi�ckelt hierbei beson�deren Eifer, und entpuppt sich mit der Zeit als Sadist und faschis�toid Gewalt�be�reiter. Ihm zur Seite steht sozusagen als prole�ta�ri�scher Helfers�helfer der zun�chst als leut�se�liger Elvis-Fan einge�f�hrte Eckert (Timo Dierkes), hinter dem bald ein nicht minder gewalt�t�tiger, auch vor Verge�wal�ti�gung nicht zur�ck�schre�ckender Folter�knecht sichtbar wird. Der Rest der W�rter erweist sich vor allem als Mitl�ufer, die nach anf�ng�li�chem Z�gern den brutalen R�dels�f�h�rern nichts entge�gen�zu�setzen haben. Bei all diesem Geschehen bieten sich Asso�zia�tionen zu faschis�ti�schen Struk�turen, zu Gef�ng�nis�si�tua�tionen unter Dikta�turen, ja im Extrem�fall zur Situation in Konzen�tra�ti�ons�la�gern an – und sind vom Regisseur erw�nscht.

Zu den faszi�nie�rendsten Erfah�rungen geh�rt, wie es dem mehr�fa�chen Grimme-Preis�tr�ger Hirsch�biegel gelingt, in seinem ersten Kinofilm einer an sich trockenen, in manchem sehr k�nstlich erschei�nenden Ausgangs�si�tua�tion drama�tur�gi�sche Kraft abzu�ge�winnen. Zwar spielt fast der ganze Film in den Versuchs�r�umen, die in Zellen und W�rter�zimmer aufge�teilt sind, zwar fehlen klassisch �filmische� Elemente – gro�e R�ume, Wechsel der Hand�lungs�orte, Zeit�spr�nge, l�ngere Passagen ohne Dialoge – fast v�llig, doch tut dies der Wirkung keinen Abbruch: Mit Konsequnz und Einfalls�reichtum umgesetzt, ist Das Expe�ri�ment ein inten�siver Psycho-Thriller geworden, der den Zuschauer im Laufe der Handlung immer st�rker in seinen Bann zieht.

Dieser Effekt liegt zum einen in Hirsch�bie�gels Leistung. Man bemerkt bei ihm einen gewissen Faible f�r �sthetik des Fernost-Kinos: Klare, aber pastellig-matte Farben, manchmal an der Grenze zur K�nst�lich�keit (und damit die sterile Atmo�s�ph�re des Versuchs�la�bors noch vers�t�r�kend), eine ruhig-redu�zierte, zeichen�hafte Figu�ren�in�sze�nie�rung fern aller �ber�kan�di�delten Hektik, die man allzu oft im deutschen Kino trifft, und schnelle Tempo�wechsel
Daneben lebt der Film von gro�ar�tigen Schau�spie�ler�leis�tungen. Neben Moritz Bleibtreu in der Titel�rolle, und einem beein�dru�ckenden Christian Berkel, der als sein Zellen�nachbar �Steinhoff� das einzig aktive Element in der schnell einge�sch�ch�terten Gefan�ge�nen�schar darstellt, sticht vor allem Justus von Dohnanyi als Berus hervor und wird zu der Entde�ckung des Films. Einen so schmierig-ekel�haften, in jeder Faser unsym�pa�thi�schen B�sewicht, ohne allen Mephisto-Charme hat es im deutschen Film lange nicht gegeben.

Daneben bleibt der hoch�span�nende Stoff. Der Regisseur hat die Roman�vor�lage in vielen Teilen wieder st�rker dem realen Expe�ri�ment von 1971 angen�hert, hat sich zu bestimmten Szenen und Gestal�tungs�ele�menten sogar durch ausgie�biges Studium der in Gesamt�l�nge vorlie�genden Video�auf�zeich�nungen des �Stanford Prison Expe�ri�ment� inspi�rieren lassen.
Das Resultat l�sst sich zum einen als clevere Reflexion �ber die allt�g�li�chen �ber�wa�chungs�ver�h�lt�nisse lesen, als kalku�lierte �ber�trei�bung jener Verh�lt�nisse, die unsere Welt in ein Bent�ham�sches Panop�ticum (urspr�ng�lich als �ideales Gef�ngnis� ersonnen) zu verwan�deln scheinen, die dazu f�hren, dass hunderte von Video�ka�meras und andere Sicher�heits�ein�rich�tungen fast unsere gesamten Lebens�ver�h�lt�nisse poten�tiell kontrol�lierbar und �ber�pr�fbar machen, und in denen wir zugleich selbst am Abend vor dem Fernseher zum frei�wil�ligen W�rter jener Gefan�genen des �Big Brother� werden.

Indem seine Charak�tere in der einen oder anderen Weise ihre Facon verlieren, und sich das sonst im Innersten Verbor�gene nach Au�en kehrt, beschreibt der Film mehr als nur eine au�er Kontrolle geratene Natur. Neben dem Verlust von Hemmungen in Situa�tionen, in denen der Einzelne starke oder absolute Macht �ber andere aus�ben kann, und ange�lernte, �zivi�li�sa�to�ri�sche� Hemmungen abstreift, f�hrt Hirsch�biegel auch etwas anderes vor: Ein sozi�al�psy�cho�lo�gi�sches Zusam�men�spiel l�sst sich hier beob�achten, das vielmehr gerade auch in vermeint�lich geord�neten Verh�lt�nissen wirksam wird. Denn alle, die hier Unrecht tun, haben subjektiv lange Zeit das Gef�hl, dass sie moralisch korrekt handeln, dass sie �nur der Aufrecht�er�hal�tung der Ordnung dienen�. Von �struk�tu�reller Dummheit� spricht der Philosoph J�rgen Habermas im Zusam�men�hang mit der Beob�ach�tung, dass in Struk�turen ab einer bestimmten Gr��e der Einzelne seine F�higkeit verliert, seinen �gesunden� Menschen�ver�stand anzu�wenden.

Genau diesen Verlust von mora�li�scher Conten�ance und Zivil�cou�rage zeigt Hirsch�bie�gels Film. Dem Zuschauer k�nnte nichts besseres passieren: Das Expe�ri�ment macht ihm selbst seine Anf�l�lig�keit bewusst, die innere Unsi�cher�heit, die es jedes Mal wieder zu einem kleinen Wunder macht, wenn einer, der nur das Gute will, nicht doch das B�se schafft.