1 Die unnatürliche Nation und unwahrscheinliche Demokratie

Indien ist die größte Demokratie sowie eines der kulturell und sozial vielfältigsten Länder der Welt. Es hat mehr als eine Milliarde Einwohner, die viele verschiedene Sprachen sprechen und unterschiedlichen Religionen, Kasten und Ethnien angehören. Zugleich existiert innerhalb und zwischen diesen heterogenen gesellschaftlichen Gruppen große soziale Ungleichheit. Die indische Verfassung nennt 22 offiziell anerkannte Sprachen. Faktisch werden in dem Land jedoch mehr als hundert verschiedene Sprachen gesprochen, von denen viele eine eigene Schrift haben. Indien ist die Heimat von sechs großen und vielen kleineren Religionen. Die große Mehrheit der 1,4 Mrd. Inder sind Hindus. Indien hat jedoch auch die zweitgrößte muslimische Bevölkerung der Welt (Nur in Indonesien leben mehr Muslime). Darüber hinaus gibt es große Gemeinschaften von Sikhs, Christen, Buddhisten und Jains. Noch komplexer wird das Bild durch die hierarchische Aufteilung der Gesellschaft in verschiedene Kasten oder jati, die für viele Menschen in Indien eine Hauptidentität darstellen und bestimmen, wen sie heiraten, mit wem sie verkehren, wen sie wählen und gegen wen sie kämpfen. Das offiziell abgeschaffte, aber noch immer wirkungsmächtige Kastenwesen überschneidet sich mit anderen gesellschaftlichen Trennlinien, die auf Sprache und Religion beruhen, sowie mit den enormen sozioökonomischen Ungleichheiten bei der Verteilung von Wohlstand, Einkommen und Bildung, durch die die indische Gesellschaft hochgradig fragmentiert ist.

Angesichts dieser einzigartigen gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt und der mit ihr verbundenen sozialen Ungleichheit und Fragmentierung hat der Historiker Ramachandra Guha Indien als eine „unnatürliche Nation und unwahrscheinliche Demokratie“ (“unnatural nation and unlikely democracy”) bezeichnet. Die Kräfte, die Indiens Einheit und Zusammenhalt bedrohen, waren und sind so vielfältig, dass er die Frage stellte: Warum gibt es überhaupt ein Indien? (Guha, 2017/2007, S. XV, XXXIV.) Ein Teil der Antwort liegt im indischen Modell des Säkularismus und der aus ihm abgeleiteten „Politik des Entgegenkommens“ (Accommodation) gegenüber Minderheiten. Wie Peter Ronald deSouza, Hilal Ahmed und Mohd. Sanjeer Alam gezeigt haben, hat der indische Staat religiösen und kulturellen Minderheiten seit der Unabhängigkeit 1947 weitreichende Sonderrechte eingeräumt und besonders benachteiligte soziale Gruppen oft durch gezielte Maßnahmen oder spezifische Institutionen gefördert. Auf diese Weise konnten Kompromisse zwischen den Ansprüchen der Minderheiten und denen der Mehrheitsgesellschaft gefunden werden, auch wenn die offizielle Politik der Regierung mitunter zwischen einer starken und aktiven Bereitschaft zum Entgegenkommen und einer eher schwachen und passiven Haltung oszillierte. Diese „Politik des Entgegenkommens“, die unter dem ersten Premierminister Jawaharlal Nehru zur Staatsidee des unabhängigen und säkularen Indien wurde, hat maßgeblich dazu beitragen, das riesige und heterogene Land zusammenzuhalten und seine demokratische Entwicklung zu fördern (deSouza et al., 2019).

Diese Erfolgsgeschichte wird jedoch durch den Aufstieg eines radikalen Hindu-Nationalismus zunehmend in Frage gestellt. Die Regierung von Premierminister Narendra Modi und seiner Bharatiya Janata Partei (BJP) hat mit der „Politik des Entgegenkommens“ gebrochen. Ihr hindu-nationalistischer Kurs verschärft die Spannungen zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten, insbesondere zwischen Menschen hinduistischen und muslimischen Glaubens und gefährdet damit den Zusammenhalt der indischen Gesellschaft und den Fortbestand der Demokratie (Vaishnav, 2019).

2 Von der „Politik des Entgegenkommens“ zu einer Politik der Exklusion und Konfrontation

Der Hindu-Nationalismus ist kein neues Phänomen, sondern hat eine lange Geschichte, die bis in die Kolonialzeit zurückreicht. Politisch spielte er lange Zeit keine große Rolle. Seit dem Wahlsieg der BJP unter Narendra Modi 2014, und insbesondere seit dessen Wiederwahl 2019, beeinflusst er jedoch in zunehmendem Maße das Regierungshandeln (Collins, 2022; Jaffrelot, 2021). Die hindu-nationalistische Agenda zielt darauf, Indien in einen Hindu-Staat umzuformen, in dem die hinduistische Mehrheit eine Vorrangstellung gegenüber verschiedenen Minderheiten besitzt. Sie beruht auf dem Konzept der Hindutva, demzufolge Hindus eine „Nation“ bzw. ein „Volk“ (im Sinne einer ethnischen Gruppe) darstellen, die sich nicht nur über ihre Religion, sondern auch und vor allem über eine gemeinsame Abstammung, Sprache, Kultur und ein gemeinsames Territorium definieren. Dieser ethnoreligiöse Nationalismus steht im Widerspruch zum Modell des Säkularismus und der „Politik des Entgegenkommens“, die die indische Gesellschaft und Demokratie seit der Unabhängigkeit geprägt haben.

Schon vor seiner Wahl zum Premierminister 2014 galt Modi als radikaler Hindu-Nationalist, weil er seine politische Karriere als Aktivist und Funktionär in der radikalen hindu-nationalistischen Freiwilligenorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) begonnen und während seiner Zeit als Chief Minister von Gujarat gewaltsame Ausschreitungen gegen Muslime nicht verhindert, womöglich sogar gebilligt hatte. Seit seiner Wiederwahl im Mai 2019 forciert Modis Regierung, gestützt auf eine absolute Mehrheit im Parlament, die Umsetzung ihrer Hindutva-Agenda und verschärft dadurch die gesellschaftlichen Spannungen. Ihre Bestrebungen richten sich dabei vor allem gegen die mehr als 170 Mio. indischen Muslime, der mit 14,2 % der Bevölkerung größten religiösen Minderheit des Landes. Vor dem Hintergrund einer schwächelnden Wirtschaft, eines verlangsamten Wirtschaftswachstums und steigender Arbeitslosigkeit wurden eine Reihe von Maßnahmen durchgeführt, die schon lange auf der Agenda der BJP und des RSS standen.

Dazu gehörte im August 2019 die Aufhebung des Sonderstatus von Jammu und Kaschmir, dem einzigen mehrheitlich muslimischen Bundesstaat Indiens, und seine Aufteilung in zwei Unionsterritorien, die seitdem von der Zentralregierung kontrolliert werden. Die extrem militarisierte Region wurde zudem mehrere Monate lang komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Im Dezember 2019 verabschiedete die Lok Sabha ein neues Staatsbürgerschaftsgesetzes (Citizenship Amendment Act). Es ermöglicht Angehörigen religiöser Minderheiten aus Bangladesch, Pakistan und Afghanistan, die vor 2015 ohne gültige Papiere ins Land kamen, eine vereinfachte Einbürgerung. Muslime sind von dieser neuen Regelung jedoch ausgeschlossen und fühlen sich deshalb diskriminiert. Sie befürchten zudem das neue Staatsbürgerschaftsgesetzes könnte in Kombination mit der geplanten Einführung eines landesweiten Registers für Staatsbürger (National Register for Citizens) dazu führen, dass vielen Muslimen die indische Staatsbürgerschaft entzogen wird, wenn sie nicht nachweisen können, dass sie rechtmäßige Bürger Indiens sind.

Seit der Verabschiedung des Staatsbürgerschaftsgesetzes kommt es daher immer wieder zu heftigen, teils gewaltsamen Protesten. Die Heftigkeit dieser Proteste resultiert aus der Furcht, dass eine große Zahl von in Indien lebenden Menschen eventuell keinen Anspruch auf die indische Staatsangehörigkeit mehr geltend machen könnte, weil ihnen die dafür erforderlichen Dokumente, etwa amtliche Geburtsurkunden oder Familienstammbücher, fehlen. Hiervon wären in besonderen Maße Angehörige der unteren Gesellschaftsschichten in ländlichen Regionen, darunter viele Muslime, betroffen.

Durch diese und andere Maßnahmen hat die BJP-geführte Regierung von Premierminister Modi die säkularen Grundlagen des indischen Staates in Frage gestellt und zu einer Schwächung der demokratischen Institutionen beigetragen (Bertelsmann Stiftung, 2022, S. 3, 39). Der eskalierende Konflikt zwischen hinduistischer Mehrheitsgesellschaft und religiösen Minderheiten, vor allem den Muslimen, gefährdet zudem den ohnehin nur schwachen Zusammenhalt der indischen Gesellschaft.

3 Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Indien

Sozialer Zusammenhallt fördert die Widerstandsfähigkeit von Gesellschaften, ihre Fähigkeit innere Spannungen auszuhalten und Konflikte gewaltfrei zu lösen. Außerdem ist er eine zentrale Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung. Darüber hinaus wird er oft als notwendige Bedingung für eine funktionierende Demokratie angesehen (Aurel Croissant, 2020, S. 6, 8). Der Zusammenhalt der indischen Gesellschaft ist vergleichsweise schwach ausgeprägt, wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung zum sozialen Zusammenhalt in 22 Staaten und Territorien in Süd-, Südost- und Ostasien für den Zeitraum 2004–2015 gezeigt hat (Bertelsmann Stiftung, 2018).Footnote 1 Die Untersuchung basiert auf dem Konzept des Radars gesellschaftlicher Zusammenhalt, einem mehrdimensionalen Messinstrument, das unterschiedliche Facetten von Zusammenhalt integriert. Sein Kern ist ein Index, der den Grad des Zusammenhalts darstellt, sowie Stärken und Schwächen im Zusammenhaltsprofil der einzelnen Gesellschaften aufzeigt (zur Methodik Larsen et al., 2018, S. 49 ff.). Außerdem wurden Determinanten und Auswirkungen des sozialen Zusammenhalts analysiert (Dragolov et al., 2018b).

Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird dabei als die Qualität des gemeinschaftlichen Miteinanders in einem territorial abgegrenzten Gemeinwesen verstanden, aufgeteilt in drei Kernbereiche: belastbare soziale Beziehungen, eine positive emotionale Verbundenheit mit dem Gemeinwesen und eine ausgeprägte Gemeinwohlorientierung. Jeder dieser Kernbereiche umfasst drei Dimensionen, denen jeweils empirische Indikatoren zugeordnet sind: Soziale Beziehungen repräsentieren die Netze und Interaktionen zwischen Personen und Gruppen innerhalb eines Gemeinwesens, das Vertrauen in die Mitmenschen und die Akzeptanz von Diversität. Verbundenheit steht für die Identifikation der Menschen mit dem Gemeinwesen, das Vertrauen in dessen Institutionen und das subjektive Empfinden, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse gerecht sind. Gemeinwohlorientierung schließlich beschreibt Handlungen und Haltungen, in denen Verantwortung für andere und das Gemeinwesen zum Ausdruck kommen. Hierzu zählen Solidarität und Hilfsbereitschaft, die Anerkennung sozialer Regeln sowie gesellschaftliche Teilhabe in der Zivilgesellschaft und am politischen Geschehen (Delhey & Klaus, 2018, S. 29 ff.). Die Abb. 9.1 veranschaulicht die drei Kernbereiche des gesellschaftlichen Zusammenhalts mit ihren jeweiligen Dimensionen.

Abb. 9.1
figure 1

Die drei Kernbereiche gesellschaftlichen Zusammenhalts mit ihren Dimensionen

Nach den Ergebnissen dieser Untersuchung gehört Indien zu den Ländern mit dem schwächsten gesellschaftlichen Zusammenhalt in ganz Asien (vgl. Abb. 9.2). Insbesondere die sozialen Beziehungen und Netzwerke der Menschen untereinander sind nicht stark und wenig belastbar (vgl. Abb. 9.3). Darüber hinaus ist auch die Akzeptanz von Menschen mit anderen Wertvorstellungen und Lebensweisen als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft nur schwach ausgeprägt. Und schließlich ist auch das Vertrauen in die Mitmenschen in Indien geringer als in vielen anderen asiatischen Ländern (Dragolov et al., 2018a, S. 68 ff.; Croissant & Walkenhorst, 2020a, S. 10 ff.).

Abb. 9.2
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Gesamtindex des sozialen Zusammenhalts in 22 Gesellschaften Süd-, Südost- und Ostasiens. (Quelle: Bertelsmann Stiftung, 2018)

Abb. 9.3
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Werte für die drei Bereiche des sozialen Zusammenhalts im Überblick. (Quelle: Bertelsmann Stiftung, 2018)

Die Gründe für den geringen Zusammenhalt der indischen Gesellschaft sind vielfältig. Zu den wichtigsten gehören die extreme Armut und hohe soziale Ungleichheit, das Kastenwesen aber auch die in Indien nach wie vor weit verbreitete Diskriminierung von Frauen. Indien ist jedoch kein Sonderfall. Die meisten südasiatischen Gesellschaften weisen ein ähnliches Zusammenhaltsprofil auf und sind ebenfalls durch einen schwachen Zusammenhalt gekennzeichnet. Das indische Kohäsionsprofil, d. h. das Muster von Stärken und Schwächen in den verschiedenen Dimensionen, ähnelt dem von Bangladesch und Nepal. Generell kann Indien in eine Gruppe mit Pakistan, Bangladesch, Nepal und Afghanistan eingeordnet werden (Dragolov et al., 2018a, S. 10 ff.).

Diese Ergebnisse wurden für den Zeitraum 2004–2015 ermittelt, d. h. sie zeigen noch nicht die Auswirkungen der Politik der BJP Regierung von Narendra Modi auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Indien. Neuere Daten liegen nicht vor. Darüber hinaus hat Subrata Mitra auf das indische Paradox der Koexistenz von geringem sozialen Zusammenhalt und stabiler Demokratie hingewiesen, das den Besonderheiten der Transformationsprozesse auf dem Subkontinent geschuldet sei. Er argumentiert, dass soziale Fragmentierung und Demokratisierung keine sich wechselseitig ausschließenden Prozesse sind, sondern im indischen Kontext ein dynamisches Gleichgewicht bilden. Seiner Auffassung nach ist die Demokratie in Indien gerade aufgrund der starken Fragmentierung und der zentrifugalen Tendenzen in der Gesellschaft notwendig, um gesellschaftliche Stabilität zu gewährleisten. Zu den Faktoren, die ein dynamische Gleichgewicht zwischen Demokratie und gesellschaftlicher Fragmentierung erzeugen, gehören für ihn ein integrativer Verfassungsentwurf, ein institutioneller Wahlprozess, der politische Partizipation mit der Möglichkeit zu „rationalem Protest“ verbindet, eine inklusive Konzeption von Staatsbürgerschaft, eine unabhängige Justiz, politische Parteien bzw. Parteienkoalitionen, die breite Teile der Bevölkerung repräsentieren, und eine aktive Zivilgesellschaft. Durch diese demokratischen Elemente unterscheide sich Indien von anderen Staaten Südasiens mit geringem sozialen Zusammenhalt wie Pakistan und Bangladesch, die bislang nicht in der Lage waren, dauerhaft eine stabile demokratische Ordnung aufrechtzuerhalten (Mitra, 2020, S. 101 ff.).

Mitra bietet eine plausible Erklärung dafür an, warum die indische Demokratie bislang trotz eines geringen gesellschaftlichen Zusammenhalts funktioniert hat. Er verdeutlicht aber auch, dass die hindu-nationalistischen Bestrebungen der Regierung Modi das dynamische und mithin fragile Gleichwicht zwischen Demokratie und gesellschaftlicher Fragmentierung aus der Balance zu bringen drohen. Statt den Zusammenhalt zu stärken, fördern sie die Ausgrenzung von Minderheiten, insbesondere der Muslime, und vertiefen so die Spaltung der indischen Gesellschaft. Religiöse Radikalisierung und Intoleranz sind besonders in multiethnischen und multireligiösen Staaten eine der größten Gefahren für den sozialen Zusammenhalt, wie das Beispiels Myanmars und Sri Lankas zeigt (Bünte, 2020; Croissant & Walkenhorst, 2020a, S. 169 ff., S. 190 ff.; Trinn, 2020).

Das Staatsbürgerschaftsgesetz von 2019 und die geplante Einführung des National Register for Citizens greifen darüber hinaus ein zentrales Element des dynamischen Gleichgewichts zwischen Demokratie und gesellschaftlicher Fragmentierung an, indem sie das inklusive Verständnis der indischen Staatsbürgerschaft aushöhlen. Hinzu kommt ein zunehmender Druck auf regierungskritische Journalisten, Aktivisten, Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen, besonders wenn diese aus dem Ausland finanziert werden. Der zunehmend intransigenter auftretende Hindu-Nationalismus ist damit die größte Gefahr für den Zusammenhalt der indischen Gesellschaft und Demokratie. Dies gilt umso mehr, als trotz eines Rückgangs der Armut in den letzten Jahrzehnten die sozioökonomischen Ungleichheiten innerhalb der indischen Gesellschaft zugenommen haben (Bertelsmann Stiftung, 2022, S. 4).

4 Soziökonomische Ungleichheit und wirtschaftliche Entwicklung von der Unabhängigkeit bis zur Liberalisierung

Armut und Ungleichheit sind in Indien ausgeprägt und sowohl historisch als auch strukturell bedingt. Nach der Unabhängigkeit von Großbritannien vollzog die neue indische Regierung von Premierminister Jawaharlal Nehru einen radikalen Wechsel in der Wirtschaftspolitik, von einem Laissez-faire-Kapitalismus zu einer staatlich gelenkten sozialistischen Planwirtschaft, die Millionen Inder aus der bitteren Armut befreien sollte, in der die britische Kolonialherrschaft sie zurückgelassen hatte.

Mit seinem sozialistischen Glauben an einen starken Staat versuchte Nehru, Indien von einer armen Low-Tech-Wirtschaft in einen Giganten der Schwerindustrie zu verwandeln. Die frühen Fünfjahrespläne beinhalteten die Förderung der Importsubstitution, ein umfassendes Staatseigentum an den Produktionsmitteln sowie komplexe Vorschriften und Kontrollen für den privaten Sektor. Der indische Staat ergriff die Kontrolle über zentrale Bereiche der Wirtschaft wie Stahl, Bergbau, Werkzeugmaschinen, Wasser, Telekommunikation, Versicherungen und Banken. Korruption, Vetternwirtschaft und Nepotismus sorgten jedoch dafür, dass die hochgesteckten Ziele der Gründerväter nie erreicht wurden. Hinzu kamen zu geringe Investitionen in die Infrastruktur, so dass Indien beim Aufbau einer Produktionsbasis hinter seinen südostasiatischen Konkurrenten zurückblieb (Thakur, 1997, S. 15 f.).

Das jährliche Wirtschaftswachstum lag im Zeitraum von 1947 bis 1995 zwischen 1 und 4 %, spöttisch auch als „Hindu-Wachstumsrate“ bezeichnet. Während die indische Bevölkerung von 300 Mio. Menschen im Jahr 1947 auf heute 1,4 Mrd. anstieg, war die sozialistische Planwirtschaft nicht in der Lage, den Wohlstand der Menschen zu verbessern. Allerdings verringerte sich die Einkommensungleichheit im Vergleich zur Zeit der britischen Herrschaft von einem Einkommensanteil der oberen 10 % der Bevölkerung von etwa 50 % auf 35–40 % (Chancel, 2022, S. 197 f.).

Die Politik der importsubstituierenden Industrialisierung trug dazu bei, dass in Indien hervorragende Hochschuleinrichtungen entstanden. Die dort ausgebildeten Fachkräfte hatten in Indien jedoch nur begrenzte Karrieremöglichkeiten. Viele gingen deshalb nach Großbritannien oder in die USA, hier vor allem zu Technologieunternehmen im Silicon Valley. Während die Tigerstaaten Südostasiens durch eine Konzentration auf die Grund- und Sekundarschulbildung eine starke Humankapitalbasis aufbauten, führte die Fixierung auf die technische Ausbildung in Indien dazu, dass der indische Arbeitsmarkt in eine Schieflage zwischen Geringqualifizierten und Hochqualifizierten geriet, mit einer großen Lücke in der Mitte. Unternehmen waren gezwungen, ihre eigenen Fachkräfte auszubilden, um ihren Qualifikationsanforderungen gerecht zu werden.

Die wirtschaftliche Situation geriet 1991 in eine schwere Krise, als Indien nicht mehr die Mittel hatte, um seine Importe zu bezahlen, und seine nationalen Goldreserven verpfänden musste. Dies führte zu einer Öffnung der indischen Wirtschaft für ausländische Investitionen und die schrittweise Privatisierung verschiedener, zuvor verstaatlichter Sektoren. Im Zuge dieser Liberalisierung der Wirtschaft, kamen seit 1991 die Talente in Indien und das internationale Kapital zusammen und sorgten zwischen 2000 und 2012 für ein rasantes Wachstum, das oft 10 % erreichte.

Von diesem Wachstum profitierten jedoch vor allem die gut ausgebildeten Eliten in den vielen multinationalen Unternehmen, die ihre Zentren für Technik- und Softwareentwicklung in Indien eröffnet hatten. Während China zur Werkbank der Welt wurde, die Arbeitsplätze für angelernte und gering qualifizierte Arbeitskräfte bot, avancierte Indien zu einem Zentrum für Forschung und Entwicklung. Dadurch entstanden gut bezahlte High-Tech-Arbeitsplätze, allerdings nicht in dem Umfang, den Indien brauchte. Verschiedene Regierungsinitiativen versuchten, die Produktionsbasis anzukurbeln, hatten aber nur begrenztem Erfolg. Zwischen einem ungelernten Arbeiter und einem akademisch ausgebildeten Programmierer klaffte eine riesige Lücke, die nicht überbrückt werden konnte. Laut der letzten verfügbaren Volkszählung von 2011 sind 55 % der indischen Bevölkerung immer noch von der Landwirtschaft abhängig. 82 % der Landwirte sind Klein- und Grenzlandbauern mit wenig Kapital sowie begrenzter Technologie und wissenschaftlicher Ausbildung. Insgesamt 144 Mio. landlose Arbeiter, die meisten von ihnen Angehörige der untersten Kasten, sind für ihren Lebensunterhalt von den landbesitzenden oberen Kasten abhängig. Hierdurch werden die soziale Ungleichheit und wirtschaftliche Stagnation weiter fortgeschrieben.

5 Kastensystem und wirtschaftliche Inklusion

Die politische Strategie zur Schaffung einer inklusiven Gesellschaft bestand in Indien darin, die Ungleichheit aus der Perspektive des Kastensystems zu betrachten. Die indische Gesellschaft ist seit Jahrtausenden durch das Kastensystem organisiert, in dem der Einzelne die berufliche Identität seiner Vorfahren erbt. Dabei handelt es sich um eine soziale Hierarchie, die über die Familie weitergegeben wird. Die Kastenzugehörigkeit bestimmt den Beruf, in dem ein Individuum arbeiten kann, sowie andere Aspekte seines sozialen Lebens, einschließlich der Frage, wen es heiraten darf (Pew Research Center, 2021).

Im Großen und Ganzen gibt es in Indien fünf soziale Gruppen: „Hindu Upper Castes“, „Other Backward Classes (OBCs)“, „Scheduled Castes (SCs)“, „Scheduled Tribes (STs)“ und Muslime, die von der indischen Regierung gemäß Artikel 341 und 342 der indischen Verfassung häufig für alle Verwaltungs- und Regierungszwecke herangezogen werden (Lamba & Subramanian, 2020, S. 3 ff.). Die indische Verfassung gewährt SCs und STs einen Sonderstatus und besondere Fördermaßnahmen (im Volksmund „Reservierungen“ genannt) im Bildungsbereich und bei der Beschäftigung im öffentlichen Sektor, um ihre Teilhabe am politischen und wirtschaftlichen Leben zu erhöhen. Dieser Sonderstatus wurde in den 1990er-Jahren auch auf die OBCs ausgedehnt (Fontaine & Katsunori, 2014, S. 407 ff.). Religiösen Minderheiten wie Muslimen oder Buddhisten wurde jedoch kein Sonderstatus zuerkannt.

Der Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Sektor in Indien an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen ist mit 2,2 % verschwindend gering, verglichen etwa mit 14,5 % in den USA. Den Benachteiligten bleibt also nichts anderes übrig, als mit den besser ausgebildeten und finanziell besser ausgestatteten Menschen aus den oberen Kasten zu konkurrieren. Das Ergebnis ist eine höhere Vermögenskonzentration in den oberen Kasten und eine abnehmende Wahrscheinlichkeit der Beteiligung an höherwertigen Berufen, an Bildungsrenditen und an Kapitalvermögen, je weiter man in der Kastenhierarchie nach unten geht, während gleichzeitig ein erheblicher Anstieg des Armutsniveaus zu verzeichnen ist, der von Sukhadeo Thorat und S. Madheswaran als „abgestufte Ungleichheit“ bezeichnet wird (Thorat & Madheswaran, 2018). Auch in der Privatwirtschaft ist die Diskriminierung von Angehörigen der unteren Kasten bei Bewerbungen um Arbeitsplätze weit verbreitet (Thorat & Attewell, 2007, S. 4141 ff.). Vor diesem Hintergrund ist auch die Ernennung von Droupardi Murmu zur Präsidentin und erstem indischen Staatsoberhaupt mit Stammeshintergrund im Juli 2022 nicht mehr als eine symbolische Geste, die nichts daran ändert, das Stammesangehörige, die sich organisieren, etwa um gegen Bergbaukonzerne protestieren, weil diese ihre Lebensgrundlagen zerstören, weiterhin inhaftiert werden (The Economist, 2022).

Die BJP und ihre ideologische Dachorganisation RSS sind überzeugte Verfechter der Aufrechterhaltung des Kastensystems. Ihre Führungsriege, Wählerschaft und Unterstützer stammen zu großen Teilen aus den oberen Kasten. Durch gezielte Fördermaßnahmen für die unteren Kasten wird diese soziale Hierarchie aufgeweicht. Das könnte erklären, warum sich die Wirtschaftspolitik der Regierung Modi Regierung Modi vorzugsweise auf andere gesellschaftliche Gruppen konzentriert.

Nicht nur die unteren Kasten, sondern auch Frauen werden auf den Bildungs- und Arbeitsmärkten systematisch benachteiligt und häufig diskriminiert. Während das indische BIP in den letzten zehn Jahren durchschnittlich um ca. 6 % gewachsen ist, ging die Erwerbsbeteiligung von Frauen von 34 % auf 27 % stark zurück. Obwohl Frauen höhere Bildungsabschlüsse erreichen und 49 % der Hochschulabsolventen ausmachen, stellen sie auf dem Arbeitsmarkt immer noch eine Minderheit dar (Khanna, 2021).

6 Modi und das Gujarat-Modell der wirtschaftlichen Entwicklung

Als der jetzige Premierminister Narendra Modi Ministerpräsident von Gujarat war (2001–2014), einem der unternehmensfreundlichen Bundesstaaten Indiens, profitierten Milliardäre wie Gautam Adani und Mukesh Ambani von seiner Regierung, die es nicht zuließ, dass öffentliche Proteste die massive Industrialisierung behinderten. Modis Regierung in Gujarat konzentrierte sich auf die Schaffung von Infrastruktur für die Industrie, während die soziale Entwicklung in den Hintergrund trat. Der Bundesstaat kann sich zwar der größten Ölraffinerie und der höchsten Statue der Welt rühmen, rangiert aber in der SDG-Rangliste der indischen Bundesstaaten bei Parametern wie kein Hunger, Gleichstellung der Geschlechter und Bildung auf den hinteren Plätzen (SDG India Index and Dashbord, 2020). Der Glaube, dass die Schaffung von Wohlstand für einige wenige im Laufe der Zeit auch die Massen erreichen würde, hat sich bisher nicht bewahrheitet.

Auf nationaler Ebene hat die Wirtschaftspolitik der Regierung Modi seit 2014 zwar wichtige Fortschritte bei der Digitalisierung des Sozialsystems erzielt, sich ansonsten aber vor allem auf kurzfristige materielle Vorteile für die Bürgerinnen und Bürger konzentriert, die sich unmittelbar bei Wahlen auszahlen sollten. Immaterielle Güter wie Gesundheit und Bildung, die Zeit brauchen, um entwickelt zu werden und zu wirken, traten in den Hintergrund (Nakray, 2022, S. 106 ff.). Indien gibt 1,8 % seines BIP für die Gesundheit aus, verglichen mit 9,5 % in Brasilien und 2,2 % in Indonesien. Deutlich wurde das, während der COVID-Pandemie, bei der bis Mitte 2022 mehr als 4 Mio. Inder starben, was einem Drittel der weltweiten Todesfälle entspricht. Die offizielle Schätzung der indischen Regierung liegt bei einem Zehntel dieser Zahl.

Der traditionelle indische Wohlfahrtsstaat, der auf immaterielle Leistungen wie Gesundheit und Bildung abzielte, ist unter der Regierung Modi einem populistischem Wohlfahrtsregime gewichen, bei dem die Zentralregierung den Bürgern konkrete, handfeste Güter zur Verfügung stellt. Während sich der Zugang zu Bankkonten, Kochgas, Toiletten, Strom, Wohnraum, Wasser und Geldtransfers für viele Menschen verbessert hat, ist die Unterernährung von Kindern in den letzten fünf Jahren gestiegen. Ohne Wohlstand auf breiter Basis zu schaffen, konnten Modi und die BJP mit dieser populistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik in Verbindung mit ihrer hindu-nationalistischen Identitätspolitik große Wahlerfolge erzielen (Jaffrelot, 2022, S. 211 ff.).

Das Ergebnis dieser Wirtschafts- und Sozialpolitik wird deutlich, wenn man sich die heutige sozioökonomische Zusammensetzung Indiens ansieht. Es gibt eine kleine, prominente Elite, die über das wirtschaftliche und soziale Kapital verfügt, um das politische Klima zu beeinflussen, und es gibt eine große Gruppe von Armen, die auf staatliche Zuwendungen angewiesen sind, um zu überleben. Arme, die in die Mittelklasse aufsteigen, fehlen in Indien heute nahezu vollständig. Wie groß die indische Mittelklasse ist, lässt sich nur schwer abschätzen, da der Begriff nicht genau definiert ist. Aber unabhängig von der verwendeten Definition ist die Mittelschicht eher klein. Eine Studie des Pew Research Center aus dem Jahr 2015 ergab, dass die indische Mittelklasse – definiert als diejenigen, die zwischen 10 und 20 US-Dollar pro Tag verdienen – im Jahr 2011 nur 3 % des Landes ausmachte (Pew Research Center, 2015). Zum Vergleich: In China gehören 18 % der Bevölkerung zur Mittelschicht. Wie die Abb. 9.4 zeigt, ist die Einkommensschere in Indien sei zwei Jahrzehnten immer weiter auseinandergegangen. Im Jahr 2021 betrug der Einkommensanteil der oberen 10 % der Einkommensbezieher 57 % des Gesamteinkommens. Ein ähnliches Bild ergib sich im Hinblick auf die Wohlstandsverteilung. Die Abb. 9.5 veranschaulicht, dass 2021 die reichsten 10 % der indischen Bevölkerung 66 % des gesamten Haushaltvermögens besaßen.

Abb. 9.4
figure 4

Einkommensanteile der oberen 10 % und der unteren 50 % in Indien, 1900–2021

Abb. 9.5
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Wohlstandsverteilung in Indien

Nach Ansicht des Wirtschaftsnobelpreisträgers Abhijit Banerjee ist der Aufbau einer starken Mittelklasse von entscheidender Bedeutung für eine Gesellschaft. Für die besondere wirtschaftliche Bedeutung der Mittelschicht werden in der Regel drei Argumente angeführt: Das erste lautet, dass neue Unternehmer, die für den Rest der Gesellschaft Produktivitätswachstum erwirtschaften und Beschäftigung sicherstellen, zumeist aus der Mittelklasse hervorgehen. Einer zweiten Sichtweise zufolge ist die Mittelklasse in erster Linie eine Quelle wichtiger Inputs für die Unternehmerklasse: Es sind ihre „Mittelklassewerte“ – ihr Fokus auf die der Anhäufung von Humankapital und Ersparnissen –, die sie für den Prozess der kapitalistischen Akkumulation zentral machen. Das dritte Argumente betont die Bedeutung der Verbraucher aus der Mittelschicht, deren Nachfrage nach hochwertigen Konsumgütern die Investitionen in Produktion und Marketing ankurbelt, was wiederum das Einkommensniveau für alle erhöht (Banerjee & Duflo, 2008, S. 3 ff.).

Nur 3 % der Inder besitzen fünf grundlegende Konsumgüter wie ein Kraftfahrzeug, einen Kühlschrank, einen Fernseher, eine Kühl-/Klimaanlage und einen Computer (ISAS Briefs, 2022). In der Erkenntnis, dass der tatsächliche Markt für Konsumgüter viel kleiner ist als der geschätzte Markt, haben seit 2014 fast 3000 ausländische Unternehmen ihre Niederlassungen in Indien geschlossen (The Economic Times, 2021). Ohne eine starke Mittelschicht ist die Steuerbasis in Indien folglich sehr klein. Nur 1 % der Bevölkerung zahlt Einkommenssteuer (Finacial Express, 2022). Der indische Staat bezieht einen Großteil seiner Einnahmen aus indirekten Steuern. Dadurch werden die einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen in ungerechter Weise belastet. Die Steuerquote in Indien beträgt nur ca. 6 % des BIP, in Deutschland waren es im März 2022 24,5 %.

Die COVID-19 Pandemie hat die Situation der ärmsten und benachteiligten Bevölkerungsgruppen, aber auch der Mittelklasse in Indien weiter verschlimmert. Mit nur vier Stunden Vorwarnzeit verordnete die Regierung Modi im März 2020 einen Lockdown für das gesamte Land. Millionen von Arbeitsmigranten saßen in Städten wie Mumbai und Delhi fest, ohne Einkommen, aber mit hohen Kosten. Da sie keine andere Wahl hatten, machten sich fast 30 Mio. Kurzzeit- und Rundreisemigranten auf den Heimweg, manchmal über Tausende von Kilometern (Carswell et al., 2022). Eine große Anzahl von Haushalten droht zudem, aufgrund von Einkommens- und Arbeitsplatzverlusten wieder in die Armut abzurutschen. Rund 90 % der indischen Arbeitskräfte sind im informellen Sektor beschäftigt und verfügen weder über Sozialschutz oder nennenswerte Ersparnisse. Daher verfügen viele Haushalte nicht über die Mittel, um sich von dem Schock zu erholen, den die COVID-19-Lockdowns für ihre Existenzgrundlage bedeute (Bertelsmann Stiftung, 2022, S. 4).

Die COVID-19-Pandemie hat mithin die bereits zuvor bestehenden Herausforderungen von anhaltender Armut und wachsender soziökonomischer Ungleichheit weiter verschärft und darüber hinaus die ohnehin nur schmale Mittelklasse geschrumpft, ohne dass die Regierung Modi dem etwas entgegensetzen konnte.

7 Schlussbemerkungen

75 Jahre nach der Unabhängigkeit steht Indien an einem Scheideweg. Die hindu-nationalistische Politik der Regierung Modi gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft und den Fortbestand der Demokratie. Die zunehmende Diskriminierung von religiösen Minderheiten, insbesondere von Muslimen, vertieft die Polarisierung der Gesellschaft und droht, das dynamische, aber fragile Gleichgewicht zwischen sozialer Fragmentierung und Demokratie aus der Balance zu bringen, das bislang ein wichtiger Garant für die soziale und politische Stabilität des Landes war. Die wachsende politische und religiöse Polarisierung der Gesellschaft lenkt den öffentlichen Diskurs zudem von wichtigen Themen wie Gesundheit, Bildung, Beschäftigung und der Bekämpfung der nach wie vor weitverbreiteten Armut und Ungleichheit ab.

Obwohl die Armut in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen ist, haben die sozioökonomischen Ungleichheiten innerhalb der indischen Gesellschaft zugenommen. Die Liberalisierung der indischen Wirtschaft im Zuge der Globalisierung hat einer winzigen Minderheit der Bevölkerung Vorteile gebracht, während die Mehrheit der Menschen auf der Strecke geblieben ist. Ohne wirtschaftliche Inklusion der Armen und Benachteiligten, insbesondere aus den untern Kasten, besteht jedoch die Gefahr, dass die sozialen Spannungen weiter anwachsen und sich in immer neuen gewaltsamen Protesten und Ausschreitungen entladen, die auch enorme Auswirkungen auf die demokratische Ordnung hätten.

Angesichts dieser Gefahren wäre die Regierung Modi gut beraten, so bald wie möglich zu der bewährten Politik des Entgegenkommens im Umgang mit den Minderheiten des Landes zurückzukehren und wirksame Maßnahmen zur Reduzierung der sozialen Ungleichheiten zu ergreifen, die auch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes hemmen. Die besten Investitionen, die die Regierung tätigen kann, sind Investitionen in die Menschen – in Bildung, Gesundheitsversorgung und eine bessere Infrastruktur.

Indien war seit seiner Unabhängigkeit ein seltenes Beispiel für gesellschaftliche Vielfalt und friedliche Koexistenz höchst unterschiedlicher sozialer Gruppen, das die von (zumeist) westlichen Beobachtern vorhergesagten Szenarien des Zerfalls und Niedergangs immer wieder widerlegt hat. Gegenwärtig stehen die „unnatürliche Nation“ und seine „unwahrscheinliche Demokratie“ jedoch erneut vor einer neuen großen Bewährungsprobe.