Geheimhaltung: Was man über den NS-Täter Alois Brunner noch wissen will - WELT
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Geschichte
  3. Geheimhaltung: Was man über den NS-Täter Alois Brunner noch wissen will

Geschichte Geheimhaltung

Was man über den NS-Täter Alois Brunner noch wissen will

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Verfassungsschutz verpflichtet, seine Akten über den zeitweiligen Eichmann-Vize offenzulegen. Das ist gut für die Aufarbeitung.
Leitender Redakteur Geschichte
„Die Akte Odessa“

1963 schickt der israelische Geheimdienst einen Agenten nach Deutschland, um eine Firma ausfindig zu machen, die für das mit Israel verfeindete Ägypten ein Raketenlenksystem entwickelt. Verfilmung des gleichnamigen Romans von Frederick Forsyth.

Quelle: Columbia Pictures

Autoplay

Behörden dürfen an sich abgeschlossene Akten nicht künstlich fortführen, um die Sperrfrist von 30 Jahren potenziell unbegrenzt zu verlängern. Das ist der Kern eines Urteils, das jetzt das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig gefällt hat. Es verpflichtete das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), dem Journalisten Hans-Wilhelm Saure, Chefreporter der „Bild“ (die wie WELT im Axel Springer Verlag erscheint) Einsicht in die Unterlagen zu dem SS-Offizier und Holocaust-Täter Alois Brunner zu gewähren.

Im Kern der Auseinandersetzung stand die Frage, wie die archivrechtliche 30-Jahres-Frist berechnet werden muss. Das BfV hatte argumentiert, die Frist beginne mit der jeweils letzten inhaltlichen Bearbeitung der Gesamtakte. Das lehnte Saure ab, denn auf diese Weise könne die gesetzlich vorgesehene Schutzfrist unterlaufen werden – es genügte, jedes Jahr einen aktuellen Zeitungsartikel zum Thema der Akte hinzuzufügen und mit einigen Bemerkungen zu versehen. So werde eine „immerwährende Akte“ produziert, argumentierte der Anwalt des Journalisten.

Alois Brunner, an SS captain and aide of Adolf Eichmann, sent thousands of jews to their deaths, he was responsible for sending at least 100,000 jews to nazi concentration camps. Picture Undated. Germany / Mono Print |
Alois Brunner war nach Adolf Eichmann der zweitwichtigste Experte der SS für Juden-Deportationen
Quelle: picture-alliance / United Archiv

Eine andere Frage ist, was die Entscheidung des obersten deutschen Verwaltungsgerichtes für die Aufklärung des Falls Brunner bringt. Der gebürtige Burgenländer war 1931 mit 19 Jahren der seinerzeit noch zugelassenen österreichischen NSDAP beigetreten. Als er 1933 mit einem eigenen Café bankrott ging, angeblich wegen seiner Mitgliedschaft in der inzwischen von der Wiener Regierung verbotenen Hitler-Partei, wechselte er nach Deutschland, blieb aber unauffällig.

Das änderte sich nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938: Brunner meldete sich zur SS und wurde ungefähr Mitte November der von Adolf Eichmann geleiteten „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien zugeteilt. Ein Jahr später übernahm er faktisch die Leitung dieser Einrichtung, die österreichische Juden zur Ausreise drängte und gleichzeitig ausplünderte.

Eigenverantwortlich organisierte Brunner 1941/42 die Deportation von etwa 50.000 Menschen. Weil er das viel „effizienter“ erledigte als andere SS-Leute andernorts, galt er nun als der nach Eichmann wichtigste Experte der SS für die Vernichtung jüdischer Gemeinden. Nacheinander organisierte er in Berlin den Transport von 5000, in Thessaloniki von 49.000, in Südfrankreich von 22.000 und in der Slowakei von 8000 Menschen nach Auschwitz-Birkenau – alles Mindestzahlen, die wahrscheinlich zu niedrig sind.

Deportationszug /Bahnhof Bielefeld, 1941 Nationalsozialismus: Judenverfolgung. - Abfahrt eines Deportationszuges vom Hauptbahnhof Bielefeld.- Foto, 13. Dezember 1941. Photo: AKG Berlin |
Mit Waggons der dritten Klasse wurden 1941 jüdische Deutsche "in den Osten" deportiert. Viele ahnten noch nicht, dass ihnen der Weg in den Tod bevorstand
Quelle: picture-alliance / AKG

Als das Kriegsende absehbar wurde, kam Brunner 1945 nach Wien zurück und floh anschließend mit seiner Frau nach Lembach an der Donau. Dann tauchte er mit falschen Papieren und einer einfachen Wehrmachtsuniform in der Masse der deutschen Kriegsgefangenen unter. 1947 gelangte er mit der „geliehenen“ Identität seines Cousins Alois Schmaldienst nach Essen; dort meldete er sich sogar polizeilich ordentlich an. Doch sein verfälschter Pass flog auf; Brunner nahm die neue Tarnidentität „Dr. Georg Fischer“ an und setzte sich in den Nahen Osten ab.

Hier nun kommen westdeutsche Nachrichtendienste ins Spiel, zunächst die Organisation Gehlen, später der daraus entstandene BND. Offenbar stand auf deren Lohnliste zeitweise ein „Dr. Georg Fischer“, als freier Mitarbeiter. Aber handelte es sich um Brunner? Und falls: Wusste das BfV, um wen es sich wirklich handelte? Darüber erhofft sich Hans-Wilhelm Saure Aufschluss in den Akten, die ihm nun zur Verfügung gestellt werden müssen.

German ex SS officer Walter Rauff with a Chilean policeman after his arrest, Chile, 1962. In Nazi occupied Russia in 1941-1942, Walter Rauff (1906-1984) was involved in the development of gas vans, mobile gas chambers for use in the extermination of Jews, disabled people, communists, and others considered . In 1942-1943 he was involved in the persecution of Jews in North Africa, before being posted to Milan where he was in charge of all Gestapo and Sicherheitsdienst (SD) operations in north-west Italy. After the war he escaped to the Middle East and then Chile. The Chilean authorities arrested Rauff in 1962 after West Germany requested his extradition, but he was released the following year by Chile's Supreme Court. Further extradition requests were refused, and Rauff died in Chile in 1984. It is thought that he was responsible for almost 100,000 deaths during the war and was regarded as the most wanted Nazi war criminal still at large in the late 1970s and early 1980s. | Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Der NS-Täter Walther Rauff 1962 während seines kurzen Arrestes bei der chilenischen Polizei
Quelle: picture alliance / Heritage-Imag

Andere Fälle, vor allem der des Erfinders der „mobilen Gaskammern“, Walther Rauff, wecken allerdings Zweifel vor zu großen Erwartungen. Der SS-Offizier, ein persönlicher Freund von Reinhard Heydrich, dem zweiten Mann der SS, hatte 1941 den Umbau von Lastwagen zu Werkzeugen des Massenmordes mittels Abgasumleitung überwacht und damit den Tod von mindestens 97.000, wahrscheinlich aber von wesentlich mehr Menschen ermöglicht.

Nach zahlreichen weiteren Verbrechen gelang es Rauff 1945 abzutauchen und drei Jahre später nach Syrien zu flüchten, wo er freilich nur kurz blieb und 1949 nach Südamerika weiterfloh. Hier war Rauff 1958 bis 1961 Informant des BND, obwohl in Pullach die SS-Vergangenheit bekannt war. Nicht deshalb, sondern weil die Qualität seiner Berichte aus Chile nicht überzeugte, wurde er „abgeschaltet“.

Anzeige

Ob die BfV-Akten zu Brunner ähnliche Erkenntnisse enthalten, wird sich jetzt zeigen müssen. Offen sind mehrere Fragen: Welche Rolle spielte Reinhard Gehlen, der spätere erste BND-Chef bei Brunners Flucht? Darüber könnten die BfV-Akten Informationen enthalten, weil zwischen der amerikanisch dominierten Organisation Gehlen und dem von britischer Seite kontrollierten BfV interne Konkurrenz bestand.

Arabische Länder boten den grausamsten Nazis Schutz

Einer der schlimmsten Nazi-Verbrecher ist in Syrien gestorben. Mit Alois Brunners Tod wird klar, dass zahlreiche Nazis in arabische Länder geflohen sind. Experten erklären, wie das möglich sein konnte.

Quelle: Die Welt/Onet.pl

Weiterhin ist natürlich wichtig, wie akkurat die Informationen deutscher Behörden über den Aufenthaltsort des weltweit gesuchten Massenmörders Brunner war. Zum Vergleich: Über Eichmann waren beim BND nur vage Gerüchte bekannt, über Rauff hingegen alle relevanten Informationen inklusive der Adresse und Bankverbindungen.

Eigentlich müssten auch die deutschen Nachrichtendienste ein Interesse an der Aufklärung ihrer Kontakte zu gesuchten NS-Verbrechern haben. Denn in der Öffentlichkeit wirkt immer noch das Bild fort, dass der britische Bestsellerautor Frederick Forsyth mit seinem brillant konstruierten, allerdings weit überdrehten Thriller „Die Akte Odessa“ geschaffen hatte.

Die Wirklichkeit, das haben inzwischen zahlreiche Studien ergeben, war weitaus prosaischer: Eine „Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen“, die entscheidend zur Flucht gesuchter NS-Verbrecher beitrug, hat es nie gegeben. Die weitaus meisten Holocaust-Tätern, die die unmittelbare Nachkriegszeit überlebt hatten, verbrachten den Rest ihres Lebens unbehelligt in Deutschland, übrigens im Westen ebenso wie in der DDR.

Anders Brunner. Da der untergetauchte NS-Verbrecher 1985 und 1987 Interviews mit der Zeitschrift „Die Bunte“ und der Wiener Zeitung „Kurier“ führte, könnten in diesem Zusammenhang beim BfV Unterlagen entstanden sein. Auch sie sind mehr als 30 Jahre alt und fallen damit nach dem neuem Urteil nicht mehr unter die archivrechtliche Schutzfrist. Dagegen dürften BfV-Informationen über Brunners mutmaßlichen Tod 2001 (oder auch erst 2009/10) noch unter Verschluss bleiben.

Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema