Behörden dürfen an sich abgeschlossene Akten nicht künstlich fortführen, um die Sperrfrist von 30 Jahren potenziell unbegrenzt zu verlängern. Das ist der Kern eines Urteils, das jetzt das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig gefällt hat. Es verpflichtete das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), dem Journalisten Hans-Wilhelm Saure, Chefreporter der „Bild“ (die wie WELT im Axel Springer Verlag erscheint) Einsicht in die Unterlagen zu dem SS-Offizier und Holocaust-Täter Alois Brunner zu gewähren.
Im Kern der Auseinandersetzung stand die Frage, wie die archivrechtliche 30-Jahres-Frist berechnet werden muss. Das BfV hatte argumentiert, die Frist beginne mit der jeweils letzten inhaltlichen Bearbeitung der Gesamtakte. Das lehnte Saure ab, denn auf diese Weise könne die gesetzlich vorgesehene Schutzfrist unterlaufen werden – es genügte, jedes Jahr einen aktuellen Zeitungsartikel zum Thema der Akte hinzuzufügen und mit einigen Bemerkungen zu versehen. So werde eine „immerwährende Akte“ produziert, argumentierte der Anwalt des Journalisten.
Eine andere Frage ist, was die Entscheidung des obersten deutschen Verwaltungsgerichtes für die Aufklärung des Falls Brunner bringt. Der gebürtige Burgenländer war 1931 mit 19 Jahren der seinerzeit noch zugelassenen österreichischen NSDAP beigetreten. Als er 1933 mit einem eigenen Café bankrott ging, angeblich wegen seiner Mitgliedschaft in der inzwischen von der Wiener Regierung verbotenen Hitler-Partei, wechselte er nach Deutschland, blieb aber unauffällig.
Das änderte sich nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938: Brunner meldete sich zur SS und wurde ungefähr Mitte November der von Adolf Eichmann geleiteten „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien zugeteilt. Ein Jahr später übernahm er faktisch die Leitung dieser Einrichtung, die österreichische Juden zur Ausreise drängte und gleichzeitig ausplünderte.
Eigenverantwortlich organisierte Brunner 1941/42 die Deportation von etwa 50.000 Menschen. Weil er das viel „effizienter“ erledigte als andere SS-Leute andernorts, galt er nun als der nach Eichmann wichtigste Experte der SS für die Vernichtung jüdischer Gemeinden. Nacheinander organisierte er in Berlin den Transport von 5000, in Thessaloniki von 49.000, in Südfrankreich von 22.000 und in der Slowakei von 8000 Menschen nach Auschwitz-Birkenau – alles Mindestzahlen, die wahrscheinlich zu niedrig sind.
Als das Kriegsende absehbar wurde, kam Brunner 1945 nach Wien zurück und floh anschließend mit seiner Frau nach Lembach an der Donau. Dann tauchte er mit falschen Papieren und einer einfachen Wehrmachtsuniform in der Masse der deutschen Kriegsgefangenen unter. 1947 gelangte er mit der „geliehenen“ Identität seines Cousins Alois Schmaldienst nach Essen; dort meldete er sich sogar polizeilich ordentlich an. Doch sein verfälschter Pass flog auf; Brunner nahm die neue Tarnidentität „Dr. Georg Fischer“ an und setzte sich in den Nahen Osten ab.
Hier nun kommen westdeutsche Nachrichtendienste ins Spiel, zunächst die Organisation Gehlen, später der daraus entstandene BND. Offenbar stand auf deren Lohnliste zeitweise ein „Dr. Georg Fischer“, als freier Mitarbeiter. Aber handelte es sich um Brunner? Und falls: Wusste das BfV, um wen es sich wirklich handelte? Darüber erhofft sich Hans-Wilhelm Saure Aufschluss in den Akten, die ihm nun zur Verfügung gestellt werden müssen.
Andere Fälle, vor allem der des Erfinders der „mobilen Gaskammern“, Walther Rauff, wecken allerdings Zweifel vor zu großen Erwartungen. Der SS-Offizier, ein persönlicher Freund von Reinhard Heydrich, dem zweiten Mann der SS, hatte 1941 den Umbau von Lastwagen zu Werkzeugen des Massenmordes mittels Abgasumleitung überwacht und damit den Tod von mindestens 97.000, wahrscheinlich aber von wesentlich mehr Menschen ermöglicht.
Nach zahlreichen weiteren Verbrechen gelang es Rauff 1945 abzutauchen und drei Jahre später nach Syrien zu flüchten, wo er freilich nur kurz blieb und 1949 nach Südamerika weiterfloh. Hier war Rauff 1958 bis 1961 Informant des BND, obwohl in Pullach die SS-Vergangenheit bekannt war. Nicht deshalb, sondern weil die Qualität seiner Berichte aus Chile nicht überzeugte, wurde er „abgeschaltet“.
Ob die BfV-Akten zu Brunner ähnliche Erkenntnisse enthalten, wird sich jetzt zeigen müssen. Offen sind mehrere Fragen: Welche Rolle spielte Reinhard Gehlen, der spätere erste BND-Chef bei Brunners Flucht? Darüber könnten die BfV-Akten Informationen enthalten, weil zwischen der amerikanisch dominierten Organisation Gehlen und dem von britischer Seite kontrollierten BfV interne Konkurrenz bestand.
Weiterhin ist natürlich wichtig, wie akkurat die Informationen deutscher Behörden über den Aufenthaltsort des weltweit gesuchten Massenmörders Brunner war. Zum Vergleich: Über Eichmann waren beim BND nur vage Gerüchte bekannt, über Rauff hingegen alle relevanten Informationen inklusive der Adresse und Bankverbindungen.
Eigentlich müssten auch die deutschen Nachrichtendienste ein Interesse an der Aufklärung ihrer Kontakte zu gesuchten NS-Verbrechern haben. Denn in der Öffentlichkeit wirkt immer noch das Bild fort, dass der britische Bestsellerautor Frederick Forsyth mit seinem brillant konstruierten, allerdings weit überdrehten Thriller „Die Akte Odessa“ geschaffen hatte.
Die Wirklichkeit, das haben inzwischen zahlreiche Studien ergeben, war weitaus prosaischer: Eine „Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen“, die entscheidend zur Flucht gesuchter NS-Verbrecher beitrug, hat es nie gegeben. Die weitaus meisten Holocaust-Tätern, die die unmittelbare Nachkriegszeit überlebt hatten, verbrachten den Rest ihres Lebens unbehelligt in Deutschland, übrigens im Westen ebenso wie in der DDR.
Anders Brunner. Da der untergetauchte NS-Verbrecher 1985 und 1987 Interviews mit der Zeitschrift „Die Bunte“ und der Wiener Zeitung „Kurier“ führte, könnten in diesem Zusammenhang beim BfV Unterlagen entstanden sein. Auch sie sind mehr als 30 Jahre alt und fallen damit nach dem neuem Urteil nicht mehr unter die archivrechtliche Schutzfrist. Dagegen dürften BfV-Informationen über Brunners mutmaßlichen Tod 2001 (oder auch erst 2009/10) noch unter Verschluss bleiben.
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