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Erzählung

Der 1924 erschienene Band enthält vier Erzählungen und ist die letzte Publikation von ihm verfasster Texte, die noch von Kafka selbst – mit Hilfe seines Freundes Max Brod – in die Wege geleitet wurde. Die ersten Korrekturabzüge erhielt er von dem Berliner Verlag Die Schmiede zugesandt, als er bereits todkrank in einem Sanatorium lag. Der Umbruch erreichte ihn am 27. Mai 1924; er konnte die Korrektur aber nicht mehr vollständig zu Ende führen. Ausgeliefert wurde das Buch erst zwei Monate nach seinem Tod.

Der durch seine Tuberkuloseerkrankung bedingte Sanatoriumsaufenthalt war vielleicht ausschlaggebend dafür, dass Kafka die vier Erzählungen nicht dem Verlag Kurt Wolff anbot, in dem er seit 1913 (Das Urteil) veröffentlicht hatte. Der Druck der Sammlung Ein Landarzt war von dem Leipziger Verlag verschleppt worden; Kafka hatte das Manuskript im Juli 1917 eingereicht, fertig geworden war das Buch erst im Mai 1920. Kafka musste anerkennen, dass es kriegsbedingte Schwierigkeiten (Materialknappheit usw.) gegeben hatte, ihm war aber auch nicht entgangen, dass man im Verlag sehr sorglos mit seinen Texten verfahren war, die von ihm gewählte Reihenfolge nicht beachtet und sogar das Manuskript eines der Texte verloren hatte. 1924 lag ihm sehr viel an einer raschen Drucklegung seiner Erzählungen, weil ihm bewusst war, dass sein Tod nicht mehr lange auf sich warten lassen würde, aber auch weil er selbst und seine Familie durch seine kostspielige ärztliche Behandlung in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren; er hoffte, mit dem Honorar wenigsten einen kleinen Beitrag zur Deckung der Kosten leisten zu können. Das erklärt auch, warum zwei der Erzählungen, obwohl erst gegen Ende 1923 oder in den ersten Monaten des Jahres 1924 entstanden, nämlich „Eine kleine Frau“ (geschrieben zwischen Ende November 1923 und Ende Januar 1924) und „Josefine, die Sängerin“ (geschrieben zwischen März und Anfang April 1924), noch vor ihrem Erscheinen im Kontext des „Hungerkünstler“-Bandes in Zeitungen (jeweils am 20. 4. 1924 im Prager Tagblatt respektive der Prager Presse) veröffentlicht wurden. Vor dem Hintergrund der finanziellen Bedrängnis ist die Bemerkung Kafkas in einem Brief aus dem Sanatorium Wiener Wald in Niederösterreich an Brod vom 9. April des Jahres zu verstehen: „Lieber Max, es kostet und wird unter Umständen entsetzliches Geld kosten, Josefine muß ein wenig helfen, es geht nicht anders.“

Die beiden anderen Erzählungen des „Hungerkünstler“-Bandes, die Titelgeschichte und die kurze Skizze „Erstes Leid“, waren ebenfalls schon separat publiziert worden. Sie waren bereits 1922 entstanden und zwar während vorübergehender Unterbrechungen der Arbeit an dem Roman Das Schloss, zu dem sie auch inhaltlich in Verbindung stehen.

Mit dem Titel „Erstes Leid“ ging Kafka selbstironisch auf seine Schreibsituation ein; er brachte die Prosaskizze nämlich Anfang Mai 1922 zu Papier, als er Schwierigkeiten hatte, den Ende Januar begonnenen Text des Romans weiterzuentwickeln, also im Bezug auf diese Arbeit selbst ‚erstes Leid‘ erfuhr. Die titelgebende Erzählung „Der Hungerkünstler“ wurde einer Tagebuchaufzeichnung zufolge am 23. Mai abgeschlossen, als Kafka wieder mit Das Schloss beschäftigt war, das Manuskript aber kurzfristig aus den Händen legte, um die Erzählung niederzuschreiben, die sich wie der Roman mit der von Kafka zunehmend als problematisch empfunden Künstlerexistenz auseinandersetzt. Wiewohl in dem Band Der Hungerkünstler erst an dritter Stelle erscheinend, erhält dieser Text natürlich dadurch, dass er als Namensgeber fungiert, besonderes Gewicht. In ihm führt Kafka – wie zuvor schon in „Ein Bericht für eine Akademie“, „Auf der Galerie“ oder auch in „Erstes Leid“ – in die Welt der Zirkusartisten und Schausteller. Wenn er einleitend mit einer negativen Bemerkung über das beginnt, was Künstler wie die Titelfigur eigentlich darzubieten hätten, indem er sagt, dass „in den letzten Jahrzehnten [...] das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen“ sei, so dürfte sich das um eine Anspielung auf die Nachkriegszeit handeln, in der Entbehrungen verschiedenster Art zum Alltag gehörten und Hungern nicht den Reiz des Besonderen hatte. Es hat aber faktisch solche Artisten gegeben, die das wochenlange Fasten zur Kunst gemacht haben und sich in einem Käfig zur Schau stellen ließen; die in der Erzählung erhobene Behauptung, dass es auch Zuschauer gegeben habe, „welche tagelang vor dem kleinen Gitterkäfig saßen“, muss man aber wohl relativieren: Es ist einer der vielen Ansätze Kafkas, alles mit dieser Kunst Verbundene zu ironisieren.

In der Erzählung nimmt Kafka nach der einleitenden Bemerkung über Hungerkünstler im Allgemeinen in einer Art gleitendem Übergang einen einzelnen, besonderen in den Blick, der seine Kunst bis zu einem Extrem treibt, und dies zu tun vermag, weil das Hungern für ihn „die leichteste Sache von der Welt“ ist. Dieser Mann verlässt den Käfig niemals freiwillig, sondern sein Impresario muss nach einer Frist von 40 Tagen die Darbietung abbrechen, was allerdings nicht aus Besorgnis um die Gesundheit des Künstlers geschieht, sondern aus pragmatischen Beweggründen: Nach 40 Tagen versiegt erfahrungsgemäß das Interesse des Publikums. Den Hungerkünstler empört dieses Eingreifen des Impresarios, weil es ihn daran hindert, eine absolute Ausnahmestellung unter seinen Kollegen zu erobern: „Warum wollte man ihn des Ruhmes berauben, weiter zu hungern, nicht nur der größte Hungerkünstler aller Zeiten zu werden [...], aber auch noch sich selbst zu übertreffen bis ins Unbegreifliche, denn für seine Fähigkeit zu hungern fühlte er keine Grenzen.“ Die Vorstellung, wieder essen zu müssen, verursacht ihm „Übelkeiten“.

Das alles war jedoch, wie schon im Einleitungssatz angemerkt, in früheren Zeiten so; viele Jahre lebte der Hungerkünstler „in scheinbarem Glanz“, doch letztlich unverstanden von seinem Publikum, das der Behauptung des Impresarios Glauben schenkte, 40 Tage seien die gerade noch vertretbare Höchstzeit für das Hungern. Den Beweis zu erbringen, dass er noch mehr zu leisten imstande sei, vermag der Künstler erst, als „jener erwähnte Umschwung“ eintritt und „wie in einem geheimen Einverständnis [...] sich überall geradezu eine Abneigung gegen das Schauhungern“ ausbildet. Der Hungerkünstler kommt zwar bei einem Zirkus unter, seinen Käfig stellt man aber abseits bei den Ställen der Zirkustiere auf, die das Ziel der meisten Zuschauer sind, welche „mit langen Schritten, fast ohne Seitenblick“, zu ihnen eilen. Der Hungernde gerät in Vergessenheit, keiner kümmert sich mehr um ihn; er ist am Ende so ausgemergelt, dass er im Stroh auf dem Boden des Käfigs versinkt. Als er nach langer Zeit durch Zufall wieder entdeckt wird, bittet der völlig Entkräftete und im Sterben Liegende sein Publikum nachträglich um Verzeihung: Er habe Bewunderung für etwas verlangt, für das ihm keine Bewunderung gebührt habe; sein Hungern sei keine Kunst gewesen, er habe nicht anders gekonnt als zu hungern, weil, so sagt er, „ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt“. Nach seinem Tod setzt man einen Panther – Sinnbild für das rein kreatürliche Leben – in seinen Käfig, der die Nahrung frisst, die die Wärter ihm bringen, und aus dessen Rachen die „Freude am Leben“ aufsteigt.

Kafka unterzieht in diesem Text das Verhältnis Künstler – Publikum einer kritischen Analyse. Zwar tut das Publikum dem Künstler unrecht, indem es ihn für „reklamesüchtig“ oder für einen „Schwindler hält“ – oder ihn gar im Verdacht hat, heimlich etwas zu sich zu nehmen –, wenn er betont, wie leicht ihm das Hungern fällt. Doch ist es in der Tat so, dass der Künstler sein Publikum betrügt, denn seine Kunst entspringt nicht einer besonderen Begabung, sondern einer besonderen Unfähigkeit, nämlich der, am normalen Leben zu partizipieren: Hätte ich die Speise, die mir schmeckt, gefunden, bekennt ganz am Ende der Hungerkünstler, „glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle anderen“.

An auffallend vielen Stellen in Kafkas Gesamtwerk steht das Nicht-Essen-Können einer Person für deren gestörtes Verhältnis zur Gemeinschaft der anderen. In dem Roman Der Verschollene wird die Verweigerung der Nahrungsaufnahme durch den Protagonisten, der vielfach „verstoßen“ wird, geradezu zum Leitmotiv. In Die Verwandlung munden Gregor Samsa, nachdem er die Metamorphose zum Käfer durchlaufen hat, also „ganz anders“ geworden ist, die Speisen seiner Familienangehörigen nicht mehr. „Ich habe ja Appetit“, sagt er sich „sorgenvoll“, „aber nicht auf diese Dinge.“

Wie der Hungerkünstler sein Hungern sah Kafka sein Schreiben als einer inneren Notwendigkeit entspringend an und eigentlich nicht als etwas, für das man sich entschied. In dieser Erzählung wird aber deutlich gemacht, dass einer Kunst, die so fanatisch betrieben wird, wie der Hungerkünstler – und Kafka – es tun, ein selbstzerstörerisches Element innewohnt. Und dass sie etwas sein kann, mit dem die Zuschauer – die Leser – getäuscht werden, wenn ihnen nicht bewusst gemacht wird, dass der Künstler ihnen eigentlich nur seine ihm gemäße bzw. die einzige ihm mögliche Existenzweise vor Augen führt. In diesem Sinn ist der Hund aus der fragmentarischen Erzählung „Forschungen eines Hundes“ eine positive Gegenfigur zum Hungerkünstler. Ihm schmeckt nämlich sein Fraß durchaus, aber er nimmt die Qualen des Hungers auf sich und verzichtet auf alle fleischlichen Genüsse, um nicht in einem rein kreatürlichen Leben gefangen zu bleiben, sondern „zur Wahrheit hinüber zu kommen“ – und er hört mit dem Beginn dieser seiner ‚Forschungen‘ auf „ein Hund unter Hunden“ zu sein.

„Erstes Leid“ stellt eine Art Präludium zu der Titelerzählung dar, insofern auch in diesem Text, der in der Handschrift nur ein einziges Blatt füllt, der Protagonist als jemand beschrieben wird, der sich völlig seiner Kunst hingibt. Er ist Trapezkünstler, und gleich einleitend heißt es, dass diese Kunst „hoch in den Kuppeln“, also auch in einer großen räumlichen Entfernung zum Publikum ausgeübt wird. Da der Artist „Tag und Nacht“ auf dem Trapez bleibt, lebt er in einer Art Isolation von der Gemeinschaft. Jahrelang erfüllt ihn, der ein wirklich überragender, von den Zuschauern bewunderter Meister seiner Kunst ist, diese Existenzweise mit tiefster Zufriedenheit; man sucht ihm zuliebe, die Unterbrechungen – die Phasen, in denen er sein Trapez verlassen muss, weil der Zirkus in eine andere Stadt reist – so kurz wie möglich zu halten. Während einer dieser für „die Nerven des Trapezkünstlers [...] zerstörenden“ Fahrten geschieht jedoch das Unerwartete: Der Artist wird sich plötzlich seines bisherigen so reduzierten Daseins bewusst, er bricht in Tränen aus und fragt seinen Impresario: „Nur diese eine Stange in den Händen – wie kann ich denn leben?“ Auch die ihm gerade eben von dem Impresario in Aussicht gestellte zweite Stange, also ein zweites Trapez, wird zu keiner Erweiterung seiner Existenz führen: Wie in „Der Hungerkünstler“ übt Kafka hier radikale Kritik an einem ganz der Kunst verschriebenen Leben, d. h. er übt Kritik auch an sich selbst.

„Josefine, die Sängerin“ behandelt das Verhältnis zwischen Künstler(in) und Publikum. Die Titelgestalt ist eine Maus, die behauptet, durch ihr besonders kunstvolles Pfeifen dem Mäusevolk in Zeiten der Not und Gefahr neue Kräfte einzuflößen und es auf diese Weise zu beschützen. Tatsächlich wird ihr von der die Geschichte erzählenden Maus konzediert: „Wer sie nicht gehört hat, kennt nicht die Macht des Gesangs. Es gibt niemanden, den ihr Gesang nicht fortreißt [...].“ Josefine fordert daher, von den normalen Pflichten einer Maus – gewissermaßen vom Dienst an der Gemeinschaft – befreit zu werden. Als das Volk ihr eine solche Befreiung verweigert, verschwindet sie. Die Erzählerin meint, dass diese Trotzreaktion einer falschen Berechnung entspringe, Josefine lasse sich damit nur von ihrem Schicksal weiter treiben, das „in unserer Welt nur ein sehr trauriges sein kann“. Die Sängerin könne nur sich selbst damit strafen, denn „das Volk, ruhig, ohne sichtbare Enttäuschung, herrisch, eine in sich ruhende Masse, die [...] Geschenke nur geben, niemals empfangen kann, auch von Josefine nicht, dieses Volk zieht weiter seines Wegs“. Kafka entlarvt hier die Annahme des Künstlers, eine Ausnahmeposition innezuhaben und der gewöhnlichen Masse etwas „schenken“ zu können, als Selbstüberschätzung. Die Masse wird weiterleben: „Mit Josefine aber muß es abwärts gehen. Bald wird die Zeit kommen, wo ihr letzter Pfiff ertönt und verstummt.“ Man kann davon ausgehen, dass Kafka mit einem Satz wie diesem in der im April 1924 entstandenen Erzählung auf seine eigene Lebenssituation Bezug nahm.

Über die Gründe für die Aufnahme von „Eine kleine Frau“ in den Hungerkünstler-Band ist in der Forschung ausgiebig diskutiert worden. Es ist möglich, dass Kafka dem Band, mit dessen Erscheinen er ja auch gewisse finanzielle Erwartungen verknüpfte, einfach mehr Volumen geben wollte; auf der anderen Seite scheint aber doch eine – wenn auch nicht so offensichtliche – Beziehung zu „Ein Hungerkünstler“ und „Erstes Leid“ zu bestehen („Josefine, die Sängerin“ lag, als Kafka den Vertrag mit dem Verlag Die Schmiede schloss, noch nicht vor). Kafkas eigener Aussage nach war mit der „kleinen Frau“ die Zimmervermieterin gemeint, unter der er und seine Lebensgefährtin Dora Diamant in seinen letzten Lebensmonaten in Berlin zu leiden hatten: „Diese kleine Frau nun ist mit mir sehr unzufrieden, immer hat sie etwas an mir auszusetzen, immer geschieht ihr Unrecht von mir [...].“ Man kann diese Gestalt aber auch als Verkörperung der Literatur auffassen. Das Verhältnis, in dem der Ich-Erzähler zu ihr steht, würde dann ebenfalls Kafkas Verhältnis zu seinem Schreiben versinnbildlichen: „Ich habe oft darüber nachgedacht, warum ich sie denn so ärgere; mag sein, daß alles an mir ihrem Schönheitssinn, ihrem Gerechtigkeitsgefühl, ihren Gewohnheiten, ihren Überlieferungen, ihren Hoffnungen widerspricht [...].“ Das heißt also, dass in dieser Erzählung Kafkas Befürchtung zum Ausdruck käme, nicht nur, was das Leben betrifft, versagt, sondern auch die Ansprüche und Forderungen, die die Literatur an ihn stellte, nicht erfüllt zu haben.