Christoph Martin Wieland - Zum zweihundertsten Jahrestag seiner Geburt | Walter Benjamin
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Christoph Martin Wieland

Zum zweihundertsten Jahrestag seiner Geburt

Wieland wird nicht mehr gelesen. Es hieße ihm und seinem Jubiläum wenig Ehre machen, an dieser Tatsache vorbeizugehen oder Hinweise von zweifelhaftem Wert auf die »Stellen« zu geben, die heute noch lesbar sind. Das führt bestimmt nicht auf das Wesentliche. Wesentlich ist das geschichtliche Eingebettetsein Wielands in die Epoche zwischen Barock und der Romantik, und wesentlicher noch, daß dort sein Werk so eng in der Umklammerung der Zeitumstände liegt, daß es nicht ohne seine wertvollsten Partien zu verletzen sich herauslösen ließe. Dagegen kann es kein gewissenhaftes Studium jener deutschen Zeitumstände geben, das nicht zugleich ins Innerste von Wielands Figur hineingriffe. »Die Zahl derer,« sagt mit Recht Theodor Heuß, »denen die Begegnung mit Wieland eine unmittelbare Auseinandersetzung mit menschlichem Wesen und schöpferischem Dichtertum aufzwingt, mag heute gering geworden sein. Aber er bleibt wichtig und wird fast immer interessanter, wenn man ihn in seinem geschichtlichen Raum sieht.« Das ist nun allerdings leichter gesagt als getan. Das Werk von Wieland machte offensichtlich so wenig Ansprüche auf Tiefe, daß der Fehlschluß nahelag, auch seine Darstellung könne auf sie verzichten. So ist es schwerlich. Vielmehr ist der geschichtliche Gehalt und Sinn von Wielands Oberflächlichkeit noch heute kaum gesichtet und »bietet wirklich geistige Probleme, die man durchdenken muß, nicht nur literarhistorische Aufgaben, die man abarbeiten kann.« Da diese Probleme ihrerseits viel aufmerksame Versenkung ins Detail erfordern, so ist, je weniger Wieland vom breiten Publikum gelesen wird, umso erheblicher das Interesse der Forschung an der großen, auf ungefähr 50 Bände veranschlagten Wieland-Ausgabe, welche die Preußische Akademie der Wissenschaften seit 1909 erscheinen läßt. Es hat seinen guten geschichtlichen Sinn, wenn eines - hoffentlich nicht allzuspäten - Tages Wieland in dieser Ausgabe mit allen Ehren und aller Sorgfalt an den Tag gebracht wird, welche er selber einem Aristophanes und Lukian, einem Cicero und Horaz gewidmet hat.

Wieland wurde am 5. September 1733 in Oberholzheim, einem Dorf in der Nähe von Biberach geboren. Dieses Biberach, in dem Wielands Vorfahren seit zwei Jahrhunderten ansässig waren, war freie Reichsstadt. Unter den vielen ihresgleichen besaß sie eine Eigentümlichkeit. Der Westfälische Frieden hatte ihr »Parität« verliehen. Nicht in jeder Hinsicht zu ihrem Segen. Alle Ämter nämlich waren seitdem zweifach besetzt, jeweils mit einem Angehörigen der bei den streitenden Konfessionen. So ging es vom Bürgermeister herab bis zu den Hebammen und Totengräbern. Dies Privileg, das ökonomisch schwer genug auf der Stadt lastete, hat ihr doch auch eine gewisse Weltoffenheit verschafft. Und jedenfalls hat Wieland noch in späteren Jahren, rückblickend, in dieser Besonderheit eine Chance gesehen.

Sein Vater gab ihn mit 13 Jahren auf die Klosterschule Klosterbergen bei Magdeburg. Um diese Zeit - in die auch die erste Ausgabe von Klopstocks »Messias« fällt - scheinen die pietistischen Einflüsse in Wielands Jugendbildung den Höhepunkt erreicht und den Rückschlag vorbereitet zu haben. Zum vollen Durchbruch kam er freilich erst drei Jahre später, als Wieland von seinem Vater der Obhut Bodmers in dessen Landhaus am Züricher See anvertraut wurde. »War das Dichten unausrottbar,« sagt Bernhardt Seuffert, »so sollte der Sohn es wenigstens regelrecht lernen. Dabei schrieb dieser flüssigere Verse als der grundgescheite Züricher Professor. Bald war er Gehilfe des Meisters, lernte urteilen und verurteilen, Streitschriften schreiben, literarischen Witz und Sinn für das Wunderbare der Epik«. Die Anwendung jedoch, die er nach seiner Rückkehr aus der Schweiz von alledem machte, ging offenbar weit über das hinaus, was sich von einem Schüler Bodmers erwarten ließ. Wieland war mit der Würde eines Senators zurückberufen worden, wurde sodann zum Kanzleiverwalter bestellt, und wie ein Posten den anderen mit sich brachte, war er 1761 Vorsteher der »evangelischen bürgerlichen Komödiantengesellschaft«. In dieser Eigenschaft veranstaltete er im gleichen Jahr eine Vorstellung von Shakespeares »Sturm«. Sie hatte einen außerordentlichen Erfolg und war in Deutschland die erste, auf deren Theaterzettel Shakespeares Name nicht - wie einst auf denen der englischen Komödianten - zu Unrecht stand.

Der Übersetzung des »Sturms« folgte die von 21 weiteren Shakespeare-Dramen. Den rechten Ausblick auf sie zu gewinnen, der für die Heutigen versteckt liegt, hat man sich des Wortes zu erinnern, mit dem Goethe in »Dichtung und Wahrheit« dieser übersetzungen gedenkt. Es ist ein Wort, durchaus in dem kristallnen und nüchternen Verstande jener Zeit, für welche Wieland gewirkt hat, und bei aller Schmucklosigkeit und Trockenheit von viel aufrichtigerem Vertrauen zur Dichtung erfüllt, als rein ästhetische Betrachtung es erzeugt. Es heißt: »Das eigentlich tief und gründlich Wirksame, das wahrhaft Ausbildende und Fördernde ist dasjenige, was vom Dichter übrig bleibt, wenn er in Prosa übersetzt wird. Dann bleibt der reine vollkommene Gehalt.« Shakespeare, wie Wieland ihn in deutsche Prosa übersetzte, war nicht das Originalgenie, das Goethe später begeistern sollte. Nie hätte dieser an ihm bewundert, was auf Wieland wirkte, will sagen, »das moralisch Schöne, ... das Anständige, das Liebenswürdige in Empfindungen und moralischen Handlungen«. Jedoch der deutsche Text des so gestimmten Wieland war es, zwischen dessen Zeilen die Späteren fanden, was sie zu Bewunderern Shakespeares - und zu Verächtern Wielands werden ließ.

Für Wielands Ruf und Laufbahn waren denn auch Werke wie der »Agathon« und die »Musarion«, die in der Zeit von Biberach entstanden, bedeutungsvoller. Den Ausschlag aber gaben hier, wie schon seit langem und nom auf lange hin, die Bindungen, die zwischen einem deutschen Dichter und dem Feudalismus bestehen konnten. Für Wieland wurden richtunggebend die zum Grafen Friedrich Stadion, dessen Geschlecht seit ungefähr 200 Jahren in der Biberacher Gegend ansässig war.


»Ein gewisses bezaubertes Schloß, wohin der Maynzische Großhofmeister Graf v. Stadion seit 8 Jahren seine Retraite genommen hat, und welches durch einen besonderen Tik der Alquifs und Urganden dazu verwünscht scheint, die außerordentlichsten Personen zu beherbergen und die seltsamsten Abenteuer hervor zu bringen, ist einige Jahre lang mein beständiger Aufenthalt gewesen.« Das Seltsamste von diesen Abenteuern war das Zusammentreffen, das Wieland - fast 9 Jahre nach der Trennung - auf diesem Schlosse mit seiner Jugendgeliebten erwartete. Die Anfänge der Liebe zu Sophie Gutermann gehören der pietistischen Zeit des Dichters an. Die erste Liebeserklärung, die er wagte, kleidete sich in die Auslegung einer Predigt. Aber das Verhältnis, in dem die Stimmung jener frühesten Epoche zu so vollkommenem Ausdruck kam, war vorbestimmt, sein Ende an eben deren Schranken zu finden. Kleinbürgerliche Intrigen, private Mißverständnisse trennten die Liebenden. Dennoch scheint keine spätere erotische Erfahrung den Dichter in gleicher Tiefe erfaßt zu haben. Sie ist - nicht nur im zeitlichen, sondern nicht weniger im inneren Sinn - der umfassende Ausdruck seiner Beziehung zur Frau geworden und in diesem Sinn bedeutungsvoll.

Im zeitlichen: die Freundschaft Wielands mit Sophie umspannt fast 60 Jahre. Im inneren: diese Beziehung geleitet ihn von einem Frauenbild, das in so manchen Zügen den unnahbaren, seraphischen Heiligen und Märtyrerinnen der Barockaltäre ähnelt, bis zu dem sehr gegensätzlichen, jedoch nicht minder repräsentativen Typ der selbstherrlichen, produktiven Frau der Romantik. Sophie La Roche - das ist ihr Name nach der Ehe mit La Roche, dem Sekretär des Grafen Stadion - ist durch Wieland selbst zur Schriftstellerin geworden. Ihre »Geschichte des Fräuleins von Sternheim« war eins der gele sensten Bücher der Zeit. In der Enkelin seiner Freundin aber, Sophie Brentano, die mit 24 Jahren in den Armen des fast siebzigjährigen Wieland gestorben ist, hat dieser noch eine der vollendetsten Erscheinungen der romantischen Frauen an sich ziehen können. Die Grabschrift, die in Oßmannstedt der Stein trägt, der die gemeinsamen Gräber Wielands, seiner Frau und der Sophie Brentano deckt, beschreibt die schönste Rokoko-Arabeske um sein Leben:

Liebe und Freundschaft umschlang die verwandten Seelen im Leben,
Und ihr Sterbliches deckt dieser gemeinsame Stein.

Wieland hat diesen Vers am letzten Geburtstag seiner Jugendfreundin geschrieben.

In dem Denkmal, das Goethe im »Maskenzug des Jahres 1818« Wieland errichtet hat, heißt es:

Wieland hieß er! Selbst durchdrungen
Von dem Wort, das er gegeben,
War sein wohlgeführtes Leben
Still, ein Kreis von Mäßigungen.

Keine glücklichere Wendung steht zur Kennzeichnung von Wielands erotischem Leben bereit. In dieser Mäßigung jedoch war keinerlei Mittelmäßigkeit. Es ist wiederum Goethe, der über Wieland die höchst bemerkenswerte Erkenntnis ausgesprochen hat, er habe keinerlei auream mediocritatem besessen, vielmehr »sein ganzes Leben in extremis« zugebracht. Die Mäßigung, die so sein Leben im Gesamtaspekt darbietet, verdankt er der Entschiedenheit, mit welcher dessen einzelne Epochen bis an ein Äußerstes gegangen sind. »Wer in seinen Wünschen«, schreibt er mit 19 Jahren, »über einen Handkuß hinausgeht, darf nicht sagen, daß er liebe.« Es ist bekannt, wie heftig die Reaktion gegen die geistige Verfassung, die aus solchem Satz spricht, in späteren Werken Wielands zum Ausdruck kam, und welchen Anstoß seine frivolen Erzählungen, wie vor allem die »Geschichte des Prinzen Biribinker«, beim Erscheinen verursachten. Daß bei ihrer Abfassung die Absicht mitgesprochen habe, durch dergleichen Texte beim deutschen Adel ein näheres Interesse für die deutsche Literatur zu wecken, möchte man zu dessen Ehre nicht für glaubhaft halten.

Wie dem auch sei - für seine schwärmerische wie seine materialistische Epoche hat er sich an das Wort von Fielding gehalten, bei dem es heißt: »Für dieses Leben war niemals ein System richtiger als das der alten Epikuräer, keins törichter als ihrer Antipoden, der modernen Epikuräer, die Glückseligkeit in der schrankenlosen Befriedigung jeder sinnlichen Begierde suchen.« Die himmlische Liebe mied der gereifte Dichter im Namen der alten, die irdische im Gegensatz zur modernen Philosophenschule, um - nach einem Wort, das zu seinen liebsten gehörte - »unbereut« sterben zu können.


Sehr richtig hat man bemerkt, daß Wieland nicht dem Kreise der rationalistischen, sondern der sensualistischen Aufklärer angehörte. Die Engländer und mehr noch die Franzosen - Montesquieu, Bonnet, Helvétius - waren seine Lehrmeister. Auch ihnen aber entnahm er weniger die sprengenden, gefährlichen Gedankenelemente, die der Revolution gewidmet waren, als Stoffe, die es ihm erlaubten, seinen Skeptizismus in weltläufigen Formen auszuprägen. Er hat das in erfolgreichster Gestalt mit seinem großen Staatsroman »Der goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian« getan.

»Irre ich nicht, so ist die Geschichte der Könige von Scheschian, welche ich hier zu Ihrer Majestät Füßen lege, nicht ganz unwürdig, unter die ernsthaften Ergötzungen aufgenommen zu werden, bei welchen Ihr niemals untätiger Geist von der Ermüdung höherer Geschäfte auszuruhen pflegt.« Der wirkliche Kaiser, welcher - unter der Maske des chinesischen Tai-tsus - in dieser Zueignung des »Goldnen Spiegels« visiert war, ist Joseph II. gewesen. Das Werk ist ein Nachfahr der barocken Staatsromane, doch mit der sehr erheblichen Verschiebung, daß die Handlung selbst nur noch ein abgeblaßtes Leben in jenem bunten, reich ornamentierten Rahmen führt, den die Konversation für sie abgibt.

Die Geschichte der Könige von Scheschian wird am Hofe des Schach-Gebal verlesen, der in einer Geliebten Nurmahal und seinem Philosophen, dem Doktor Danischmend, die beiden Räsoneure um sich hat, deren er bedarf, um alle möglichen Nutzanwendungen aus dem erdichteten Geschichtswerk zu ziehen. Wieland hat darin sein politisches Credo um so unaufdringlicher darstellen können, als es eines war, das an den aufgeklärten Höfen des 18. Jahrhunderts auf Verständnis stoßen konnte. Eben dem aufgeklärten Staats-Absolutismus gehören Wielands Sympathien. Theoretisch ihn zu fundieren hat er freilich nicht einmal den Versuch gemacht. Alles beschränkt sich vielmehr auf eine mehr oder minder liebenswürdige argumentatio ad hominem oder - wie man hier besser sagen würde - ad populum. Bei der Demokratie scheinen ihm dessen Interessen ganz genau so schlecht aufgehoben wie später die der Abderiten, die sich von ihm sagen lassen müssen, daß, was in ihrer »Staatseinrichtung demokratisch schien, bloßes Schattenwerk und politisches Gaukelspiel« gewesen sei. Ohne daß seine Zeitkritik sich irgend durch Originalität hervortut, kann man mit Bernhard Luther sagen, daß er der einzige große (deutsche) Dichter des 18. Jahrhunderts ist, »der ein lebhaftes politisches Interesse hatte.« Diesem verdankt er denn auch wohl den Ruf nach Erfurt, wo eine gallikanische, Rom sich widersetzende, nationale Richtung im Katholizismus sich nach Dozenten umsah, die ihr an Ruf und Geltung einbringen konnten, was ihr an Orthodoxie abging. Durch Stadion war man in Erfurt auf Wieland aufmerksam geworden, und dieser setzte nun seine Ehre darein, mit dem »Goldnen Spiegel« und Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie seine Position zu rechtfertigen. Mit seinem großen Staatsroman hat er in der Tat das Interesse des habsburgischen Kaisers zu erwecken vermocht. Doch eine eingreifendere Wirkung fand das Buch weniger am Wiener Hofe als an dem zu Weimar. Es verschaffte dem Dichter eine - zunächst vorübergehende - Berufung dorthin, die sodann zu seiner dauernden Bindung an den Hof von Anna Amalia, den späteren von Karl August führte.


Mit einem reizenden Bild hat Wieland, in einem Brief vom Juni 1779, die Stimmung festgehalten, welche in den ersten, glücklichsten Jahren ihres Weimarer Zusammenlebens zwischen ihm und Goethe herrschte. »Mit Goethen hab ich vergangene Woche einen gar guten Tag gehabt. Er und ich haben uns entschließen müssen, dem Rat May zu sitzen, der uns ex vota der Herzogin von Württemberg für Ihre Durchlaucht malen soll. Goethe saß vor- und nachmittags und bat mich, weil Serenissimus ab sens war, ihm bei der leidigen Session Gesellschaft zu leisten und zur Unterhaltung der Geister den Oberon vorzulesen. Zum Glück mußte sichs treffen, daß der fast immer wütige Mensch diesen Tag gerade in seiner besten rezeptivsten Laune und so amusable war, wie ein Mädchen von sechzehn. Tag meines Lebens hab ich niemand über das Werk eines andern so vergnügt gesehen, als er es mit dem überon durchaus, sonderlich mit dem fünften Gesang war«. Wir kennen das Bild, das May damals von Wieland gemalt hat. Der Dichter sieht nicht wie ein Sechsundvierzigjähriger auf ihm aus. Wohl aber tragen die ungemein sensiblen und sinnlichen, von Ironie durchwirkten Züge schon den Ausdruck der Resignation. Bereits damals hieß er in Weimar »der alte Wieland« und »fast 40 Jahre lang mußte er sich die gut und ungut gemeinte Bezeichnung ... gefallen lassen.«

Wieland hatte ein sehr ausgeprägtes Gefühl für die Figur, die er in anderer Augen machte. Daher seine selten diplomatische Begabung, daher aber auch seine frühzeitige Entsagung. »Ich habe das Unglück - schreibt er im September 1776 an Christian Kaiser - unter die Lauen zu gehören, die von Warmen und Kalten ausgespieen werden.« Von den Warmen war auch Goethe einer gewesen, und in der Farce »Götter, Helden und Wieland« hatte er den älteren Dichter kräftig »ausgespieen«. Goethe stand, als er diesen Ausfall unternahm, am Anfang seiner Laufbahn, Wieland aber auf der Höhe der seinigen. Trotzdem, und ungeachtet dessen, daß Goethes Vorgehen für die Kraftgenies zum Sturmsignal gegen Wieland wurde, verleugnete der Ältere nicht die überlegteste Reserve. So schwer diese Zurückhaltung erklärlich ist, so außerordentlich erscheint ihr beinahe hellsichtiger Takt im Angesicht der 40 Jahre, in denen später das engste Nachbarschaftsverhältnis Goethe und Wieland aneinanderschloß.

Und es war nicht nur Nachbarschaft, es war - im dichterischen nicht, doch im politischen Sinn - eine Nachfolge, wie Wieland das sehr schön im Jahre 1776 gegen Lavater zum Ausdruck bringt. Er schreibt: »Aber - war ich nicht schon 38 Jahr alt, da ich mich noch durch eine magische Einbildung und die noch stärkere Magie des verführerischen Gedankens, viel Gutes, im großen, auf Jahrhunderte zu tun, an diesen Hof ziehen, in dieses gefahrvolle, mit Precipicen umgebene - und beim Tageslicht besehen doch immer unmögliche Abenteuer verwickeln ließ? Goethe ist erst 26 Jahr alt.« Dem Unmöglichen des Unternehmens freilich hat Wieland niemals soviel wie Goethe abgewinnen können. Denn diesem wurde es, je mehr er es zu meistern lernte, im Inneren nur stets ungemäßer, wogegen Wieland in seiner Position bei Hof, in seiner Freundschaft mit Anna Ainalia, Karl Augusts Mutter, immer ausschließlicher sein Element fand. So hat er in der Weimarer Epoche - von seinen übersetzungen abgesehen - nur noch zwei größere Werke publiziert: die »Abderiten« und den »Oberon«.

Der Nachdruck, mit dem Goethe stets von neuem auf diese letzte Dichtung zurückkommt, ist, bei aller Anmut in deren Einzelheiten, nicht immer ganz verständlich; es sei denn, man nimmt an, daß eine stille Genugtuung bei ihm im Spiel war, Wieland den Bereich des Griechischen, der Goethe inniger am Herzen lag und den er ungern als Spielplatz vager und unverbindlicher Phantasien wiederfand, gegen den des altdeutschen vertauschen zu sehen. »Wieland«, sagt Goethe 10 Jahre nach dessen Tode dem Kanzler von Müller, »hielt sich niemandem responsabel«. Und in keinem Fall mag ihm Goethe das schwerer verziehen haben, als griechischen Stoffen und Figuren gegenüber. So ist aus seinem Lob des »Oberon« das freundliche Widerspiel jener frühen Polemik Goethes gegen den Verfasser einer verzierlichten »Alkestis« herauszuhören. Daneben aber spricht aus dieser Anerkennung das Bedürfnis, keine Gelegenheit, den Ruhm von Wieland zu verbreiten, ungenützt zu lassen. Der Jüngere hat es Wieland nie vergessen, wie auf einer Schwelle, welche dieser als Klterer vor ihm betreten hatte, er selbst, der Jüngere, von ihm war begrüßt worden. Wer in »Goethes Gesprächen« jene Seiten nachliest, die es mit den ersten Weimarer Jahren zu tun haben, begegnet keinem Namen häufiger als dem von Wieland. Und keiner der Genossen der Sturm und Drang-Zeit ist der Süße der Goetheschen Jugendlyrik näher gekommen als Wieland in den Versen, die er an Goethe gerichtet hat:

So trat er unter uns, herrlich und hehr,
Ein echter Geisterkönig, daher;
Und niemand fragte, wer ist denn der?
Wir fühlten beim ersten Blick, 's war er!
Wir fühlten's mit allen unsern Sinnen,
Durch alle unsre Adern rinnen.

So hat sich nie in Gottes Welt
Ein Menschensohn uns dargestellt,
Der alle Güte und alle Gewalt
Der Menschheit so in sich vereinigt!

Der so Begrüßte ist es gewesen, der für Wielands Gesamtwerk den Augenblick heraufgeführt hat, den er in den »Abderiten« als den bestimmt, »wo diese Geschichte niemand mehr angehen, niemand mehr unterhalten, niemand mehr verdrießlich und niemand mehr erzürnt machen wird«.


Daß der geschichtliche Gehalt und Sinn von Wielands Oberflächlichkeit noch heute, wie eingangs ausgesprochen, kaum gesichtet zu nennen ist, hat einen seiner Gründe darin, daß die Logenrede Goethes, in der gebieterischen Kraft, mit der sie auf der Schwelle zu Wielands Nachruhm sich erhebt, Versuche in verwandtem Sinne kaum ermutigen konnte. Schwerer begreiflich ist, daß einiges, was Goethe - weniger in der Logenrede als an entlegeneren Stellen - über Wieland aussprach, kaum Spuren hinterließ. Zwar ist das rückblickende Wort zu Eckermann bekannt: »Wielanden verdankt das ganze obere Deutschland seinen Stil.« Warum das aber so war, darauf hat Goethe einige überaus bedeutsame Hinweise gegeben, deren Auslegung die Wieland-Forschung noch auf eine gute Strecke geleiten können.

Um aber nochmals auf Bekannteres zurückzugreifen - was ist im Grunde sonderbarer, befremdlicher als der Satz, mit welchem Goethe der Wielandschen »Musarion« gedenkt: »Hier war es, wo ich das Antike lebendig und neu wieder zu sehen glaubte.« Und doch entdeckt der heutige Leser in der »Musarion« nichts als die regelrechte, aller Kräfte der Vergegenwärtigung entblößte Rokokovignette des Griechendaseins. Was aber schwer begreiflich in der Isolierung erscheint, gewinnt ein anderes Gesicht in der Umgebung gleichgestimmter Betrachtungen. »Er hat außerordentlich gewirkt,« heißt es in den Noten zum »West-östlichen Divan«, »indem gerade das, was ihn anmutete, wie er sich's zueignete und es wieder mitteilte, auch seinen Zeitgenossen angenehm und genießbar begegnete.« Goethe, wenn er von Wieland spricht, scheint es nur immer mit dessen Wirkung auf die Zeitgenossen - sich selbst und andere - zu tun zu haben. Das ist sehr aufschlußreich. Denn eben in der Wirkung auf die Zeitgenossen hat Wieland gegeben, was vor ihm noch keiner vermocht hatte zu geben, nach ihm keiner zu geben mehr für nötig finden konnte. Und diese Gabe war die Verschmelzung einer idealen und antiquarischen Bildungswelt - vor allem der antiken - auf der einen Seite mit einem ganz und gar auf Aktualität gestellten, den breiten Leserschichten zugewandten Literaturbetriebe auf der anderen. Es ist kein Zufall, daß der »Teutsche Merkur« es auf 83 Bände gebracht hat. Wieland war, kraft seines überschwenglichen Sinns für das Aktuelle, der vollendete Redakteur. Er redigierte das klassische Altertum für den gebildeten Bürgerstand seiner Tage. Und was das sagen will, ergibt ein Blick auf Klopstock, dessen Beschwörungen des Altertums vom gleichen Pathos der Distanz erfüllt sind wie die ausschweifendsten Partien des »Messias«. Dagegen heißt es denn bei Goethe von den Wielandschen Übersetzungen aus Cicero: »Dieselben enthalten die höchste Verdeutlichung des damaligen Zustandes der Welt, die sich zwischen den Anhängern des Cäsar und Brutus geteilt hatte; sie lesen sich mit derselben Frische, wie eine Zeitung aus Rom, indes sie uns über die Hauptsache, worauf eigentlich alles ankommt, in völliger Ungewißheit lassen.«

Am 26. Januar 1813 ist Wieland gestorben. An seine Grabstätte in Oßmannstedt schließt die dämonische Allegorie sich an, die Goethe beim Anblick des Entwurfs einer Umzäunung zu diesem Grabe kam. Sie verbirgt nicht nur den tiefsten, sondern auch den gerechtesten Gedanken, den er dem längst Verstorbenen zuzueignen fand: »Da ich in Jahrtausenden lebe, sagte er, so kommt es mir immer wunderlich vor, wenn ich von Statuen und Monumenten höre. Ich kann nicht an eine Bildsäule denken, die einem verdienten Manne gesetzt wird, ohne sie im Geiste schon von künftigen Kriegern umgeworfen und zerschlagen zu sehen. Coudrays Eisenstäbe um das Wielandsche Grab sehe ich schon als Hufeisen unter den pferdefüßen einer künftigen Kavallerie blinken«. Es gibt Autoren1, für deren Fortleben die Möglichkeit, wieder gelesen zu werden, nicht mehr als ein Standbild zu sagen hat. Ihre Fermente sind für immer in den Mutterboden, in ihre Muttersprache eingegangen. Ein solcher Autor ist Christoph Martin Wieland gewesen.



  1. Die Stadtgemeinde und der Kunst- und Altertumsverein Biberach (Riß) haben zum 200. Geburtstag Wielands eine Festschrift herausgegeben, die in vier Abteilungen eine Auswahl aus den Schriften des Dichters, eine Darstellung von Biberach und Wielands Leben daselbst, eine Folge von Äußerungen schwäbischer Autoren über den Landsmann und eine Reihe von Beiträgen Gelehrter bringt. Diesem letzten Teil, der den neuesten Stand der Wieland-Forschung vermittelt, ist die obige Darstellung in mehreren Zitaten verpflichtet.