Peaches: „Lasst uns verdammt nochmal in der Gegenwart leben!“
Teaches of Peaches Anniversary Tour ©Avanti Media Fiction

Peaches: „Lasst uns verdammt nochmal in der Gegenwart leben!“

Seit zwei Jahrzehnten steht die kanadische Künstlerin Peaches für den kompromisslosen Kampf gegen Genderstereotype und für einen intersektionalen Feminismus. Der Film „Teaches of Peaches“ würdigt ihr Schaffen, ihr Leben – und er bringt das Publikum an einen guten und freien Ort. Wir trafen die Regisseur*innen Philipp Fussenegger und Judy Landkammer zum Interview in Berlin.

Fuck the Pain away. Mit diesem Song öffnet sich eine zuckende Bühne, die das Auge überfordert und sämtliche Normen dieser Welt von einem kleinen Punkt aus sprengt und für unwichtig erklärt. Fuck the Pain away. Mit diesen Bildern beginnt auch der Dokumentarfilm „Teaches of Peaches“: Körperflüssigkeiten. Klebrige Haut. Wuchernde Schambeharrung. Kreischende Lichteffekte. Vagina-Kopfbedeckungen. Brüste. Schreie. Liebe.

Peaches-Konzerte sind weit entfernt von der Welt, in der man zur richtigen Zeit am richtigen Ort geboren, schön sein und sich patriarchalen Strukturen unterordnen muss, um dazuzugehören. „Ich komme aus einer ziemlich kleinen, engen Welt“, sagt Peaches aus dem Off, während wir in einer Archiv-Aufnahme sehen, wie sie als junge Erwachsene eine Horde 5-Jähriger dazu bringt, wild zu tanzen und gegen jede Regel aufzubegehren. „In meiner Kindheit gab es keinen Raum für Kreativität. Ich ging zur Schule, da sagten sie im Musikunterricht: Sing mal diese Note. Man hatte keine Wahl.“

Dunkelheit, in Freude getränkt

Peaches hat etwas herausgeschrien, was vollkommen neu und befreiend war für alle, die den Mut hatten, sich darauf einzulassen. Sie hat Menschen auf der ganzen Welt erst sprachlos gemacht und dann innerhalb ihrer Kunst dazu gebracht, ihre eigenen sichtbaren und unsichtbaren Fesseln zu zertanzen. Fuck the Pain away. Fuck the Pain away.

Der Song ist für viele Menschen der erste Zugang zum Werk von Peaches. Im Film beschreibt Shirley Manson, Leadsängerin und Songschreiberin der Band Garbage, ihren Mind Blowing Moment, in dem sie ihn zum ersten Mal gehört hat: „Peaches spricht hier über die Dunkelheit. Aber diese Dunkelheit ist in Freude getränkt. Sie berührt also den Schmerz, die Scham und Dunkelheit der Menschen auf eine feierliche Art. Deswegen ist dieser Song für so viele so wichtig.“

Peaches performt „Fuck the Pain Away“ – Foto: Andres Fuentes Cannobbio

Wir treffen die beiden Filmemacher*innen Philipp Fussenegger (Regie) und Judy Landkammer (Regie und Montage) in Berlin-Friedrichshain, Peaches schaut unserem Gespräch von einem Plakat aus zu.
Philipp hatte den Plan, der Ikone Peaches, die 1966 in Toronto als Merrill Beth Nisker geboren wurde, filmisch wirklich nahe zu kommen. Zu erfahren: Wie ist Peaches privat? Wie lebt sie als queere Person queere Beziehungen? „Peaches selbst hielt von diesem Plan zuerst weniger“, sagt Philipp. „Aber dann sahen wir uns den Rohschnitt zusammen an. Und das war der Knackpunkt. Hier hat sie gesehen: ,Ich muss mehr von mir zeigen’.“
Peaches, so erzählen es Judy und Philipp, begann also nach und nach, sich zu öffnen. „Das war ein sehr wichtiger Schritt, weil sie immer sehr kontrolliert ist – das sagt sie auch selbst über sich.“

Philipp erinnert sich an die ersten Begegnungen: „Zu Beginn wollte Peaches alle Beteiligten kennenlernen, das Team musste divers sein. Es gab dieses eine Versprechen: Okay, wir machen das gemeinsam! Das wird nicht der klassische Top to Bottom Approach, den man aus der Dokumentarfilmszene vielleicht kennt. Es ging also nicht darum, am Ende einen Film zu präsentieren und dann zu sagen: Friss oder stirb! Wir wollten uns von Anfang an gemeinsam überlegen: Wie können wir das alles am besten erzählen?“

„Es gab dieses Versprechen: Okay, wir machen das gemeinsam! Das wird nicht der klassische Top to Bottom Approach.“

Philipp Fussenegger

Am besten erzählen: Wie macht man das, wenn das Material überwältigend ist? – Erinnerung im menschlichen Gehirn erfolgt ja auch eher assoziativ. Da ist ein Geruch in einem Aufzug, eine Familienszene auf der Straße, ein bestimmter Song – und all das löst Bilder aus. „Wir haben sehr schnell gemerkt, dass wir hier nicht chronolgisch erzählen können. Wir müssen das anders machen. So kann man alle Aufnahmen mit dem Archiv mischen und dadurch thematisch durch den Film gehen. Daraus ist das Konzept entstanden. Außerdem war klar, dass wir uns auf die ,Teaches of Peaches’-Zeit beschränken. Also die Zeit rund um die Veröffentlichung des Albums im Jahr 2000 – und die Anniversary Tour im Jahr 2022. Wir wollten beide Stränge im Kontrast zueinander zeigen.“

Das Album „Teaches of Peaches“

Peaches hat gerade eine Krebserkrankung hinter sich, da ist sie 30 Jahre alt. Diese Erfahrung löst in ihr eine radikale Vorwärtsbewegung aus. Peaches weiß jetzt: „Ich muss mein Leben leben. Ich will Musikerin sein. Das ist es, was ich machen will.“

Das Album erscheint beim legendären Berliner Kitty-Yo Label. „Teaches of Peaches“ ist ein bahnbrechendes Werk in der Elektroclash-Musik und es hat sich durch seinen rohen, experimentellen Sound und die provokativen Texte einen überragenden Status erarbeitet. Bis heute. Es war Peaches wichtig, dass ihre Stimme eher monoton ist, sie wollte, dass die harte, klare Sprache, dass jedes einzelne Wort beim Publikum wirklich ankommt. Es sollte gar nicht erst diese Diskussion entstehen, ob sie singen kann oder nicht. „Das Album ,Teaches of Peaches’ hat mein Leben verändert“, sagt Peaches. Im Film beschreibt sie die in Teilen schmerzhafte Arbeit, eine Anniversary Tour zu entwickeln, die diesem Album auch aus heutiger Sicht gerecht wird: „Wie kann ich die Leute auf eine neue Art und Weise fühlen lassen? Wie kann ich dieses Jetzt-Gefühl in den Songs rüberbringen?“

„Sobald Peaches auf der Bühne ist, brennt sie.“

Black Cracker

Dabei ist es genau dieses Jetzt-Gefühl, das ihre Welt, ihr ganzes Werk ausmacht. Begriffe wie Diversität, Inklusion, Gleichberechtigung, die heute pastellig die Startseiten von Unternehmensberatungen verzieren, wurden durch und mit Peaches wirklich gelebt, seit sie auf der Bühne steht. „Sobald Peaches auf der Bühne ist, brennt sie“, sagt Black Cracker, der Partner von Peaches, im Film. Und dieses Brennen hat immer zwei Seiten: die schöne und die schmerzhafte.

Das ist das Besondere an diesem Film: dass man sich als Zuschauer*in sehr oft in einem Zustand zwischen Lachen und Weinen befindet, zwischen Euphorie und Traurigkeit. „Das war auch unser Ziel, dass dieser Humor beibehalten wird, weil du Menschen über den Humor wichtige Themen viel besser vermitteln kannst“, erklärt Judy. „Zum Beispiel geht es an einer Stelle um die sexuelle Identität von Peaches, dazu kommen von außen immer wieder Fragen wie: ,Ich dachte, du bist lesbisch?’. Und Black Cracker sagt: ,If it’s not in your mouth, it’s none of your business.’ In dem Moment lachen die Leute und verstehen dabei besser und tiefer als vorher.“

Teaches of Peaches Anniversary Tour ©Avanti Media Fiction

In der Dokumentation starten gleich mehrere Zeitstränge gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen. Die Schnitte sind so großartig gesetzt, dass im Kontrast der Zeitebenen die wirklich wichtigen Aussagen in den Zuschauenden zu arbeiten beginnen. Dadurch tritt der Film nicht in die Nostalgiefalle, sondern zeigt, wofür wir alle jetzt sofort kämpfen sollten. Judy erläutert das im Interview: „Wir haben uns auf die Themen fokussiert, die Peaches in ihrer Kunst anspricht: Sexpositivität, Bodypositivität, intersektionaler Feminismus usw. Die Sprache von vor 25 Jahren hat sich geändert, und Peaches ist mit ihr gewachsen. Aber der Kern ist derselbe geblieben, und so hatten wir viele Ansatzpunkte, wodurch man gut zwischen damals und heute springen und diese Reise begreifbar machen kann.“

Die auszumachenden Unterschiede zwischen den Bühnensituationen „damals“ und „heute“ sagen vor allem etwas über die Gesellschaft aus, in der wir leben. Wo ein ganzes Wirtschaftsystem zusammenbrechen würde, wenn sich plötzlich sämtliche Menschen in ihren Körpern wohlfühlten. Wo das Gendern verboten wird. Wo marginalisierte Menschen täglich angegriffen, bedroht und getötet werden. Wo Kinder reicher Eltern die besten Bildungschancen haben. Vor diesem Hintergrund betritt Peaches mit einem quietschenden Rollator selbstironisch die Bühne, lässt die Haare sprießen, lässt die Brüste hängen und fängt einfach an. Was gesellschaftlich als hässlich gilt, ist normal. Wo etwas nicht studiert und trotzdem gemacht wird, gibt es keine Nachfrage. Das ist nur ein kleiner Teil ihres großen Raums.

„Wir haben uns auf die Themen fokussiert, die Peaches in ihrer Kunst anspricht: Sexpositivität, Bodypositivität, intersektionaler Feminismus… Die Sprache von vor 25 Jahren hat sich geändert, und Peaches ist mit ihr gewachsen.“

Judy Landkammer

„Menschen finden sich meistens zur richtigen Zeit, wenn sie etwas lernen müssen“, sagt der Musiker Chilly Gonzales an der Stelle im Film, als er sich an das gemeinsame „Berlin Fairytale“, seine gemeinsame Zeit mit Peaches in Berlin erinnert. Er beschreibt damit sehr gut, wie Peaches Menschen um sich versammelt und zusammen mit ihnen wächst und im Kollektiv große, tief berührende und revolutionäre Dinge entstehen lässt. Überhaupt schaffen es Philipp Fussenegger und Judy Landkammer, dass wir auch durch die Stimmen der Wegbegleiter*innen mit jeder Minute näher an Peaches heranrücken.

Kostüm by Charlie le Mindu ©Avanti Media Fiction

Auch mit der Sängerin und Gitarristin Leslie Feist verbindet Peaches eine lange Freundschaft, Peaches bezeichnet sie als „ungezogene kleine Schwester“, mit der sie in Kanada in einer einfachen und billigen Wohnung lebt, gemeinsam Auftritte macht und das Erwachsenwerden übt. Sie machen Musik, töten Kakerlaken, eskalieren in ihrer Künstler*innenbude.
Feist sagt über Peaches: „Sie wollte ganz offensichtlich keine Kompromisse machen: Lasst uns verdammt nochmal in der Gegenwart leben! Lasst uns die Wahrheit sagen!“ Und es war und ist eben diese Wahrheit, die die Hauptrolle auf der Bühne und im „echten Leben“ spielen sollte.

„Den Aktivismus von Peaches in einen Film zu übersetzen, ohne belehrend zu sein, war eine Herausforderung.“

Philipp Fussenegger

Zur Wahrheit gehört auch oft, dass man sich von äußeren Beurteilungen und Normen lenken lässt. Zu Beginn, als Peaches als Erzieherin arbeitet, um Geld zu verdienen, erzählt sie von Programmen, die sie für Kinder entwickelte. Sie wollte ihnen ermöglichen, „Spaß zu haben, Neues zu lernen und die Person sein zu können, die sie sein wollten“. Für Peaches war lange bevor sie sich Peaches nannte – der Name ist dem Song „Four Women“ von Nina Simone entnommen – ganz offensichtlich, dass sie sich für intersektionalen Feminismus, für die LGBTQI* Community, gegen Rassismus, für Diversität einsetzen muss. „Aber ihren Aktivismus in einen Film zu übersetzen, war eine Herausforderung“, erinnert sich Philipp Fussenegger. „Man muss es machen, ohne belehrend zu sein und damit Leute wieder auszuschließen.“

Kompromisslosigkeit und Neugier

Tatsächlich sind die Musik, die Show und ihre Person mit Worten schwer zu beschreiben. Ja, die Sprache zu all den Themen und Kämpfen, für die Peaches steht, ist jetzt vorhanden. Aber da liegt noch immer sehr viel in der Luft, in der Mimik, in den Kostümen, in den Beats, für die es keine Worte gibt. Dafür aber ein Gefühl. Und dieses Gefühl transportiert der Film „Teaches of Peaches“ auf die beste Weise.

Peaches hat immer einfach gemacht. Es ist eine Ganzheitlichkeit im Denken, eine große Neugier und ein Getriebensein von der Überzeugung, dass Menschen gleichberechtigt miteinander leben und kreativ sein können. Und da ist diese Kompromisslosigkeit in allem, was sie tut. „Das ist auch eine Gemeinsamkeit, die uns verbindet. Sie hat erkannt, dass wir ein Team sind, das nicht leicht aufgibt, sondern alles versucht, damit der Film gelingt. Das haben wir auch getan, und wir sehen uns sehr in dieser Neugier und dem Drang, alles Mögliche auszuprobieren“, sagen Judy und Philipp am Ende.

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Als ich das Kino verlasse, ist mir nach Schreien zumute. Aber es ist kein wütendes Schreien. Es ist eher ein Freiheitsdrang. Oder ein Aufrüttelnwollen einer Welt, die fest in Händen von Macht, Geld und Ungleichheit scheint. Peaches lebt demokratische Strukturen in ihrer Kunst, mit ihren Wegbegleiter*innen und mit ihrem diversen und seit über 20 Jahren wachsenden Publikum. In einer Zeit, in der wir weltweit einen antifeministischen Backlash erleben, der geprägt ist von Unmenschlichkeit, Empathielosigkeit und Hass, brauchen wir Peaches mehr denn je. Ihre Welt sollte unser aller Welt sein.

Der Film schafft etwas, was ich gerade bei Dokumentarfilmen oft vermisse: Er traut seinem Publikum etwas zu, lässt an den richtigen Stellen Lücken und ermöglicht es, diese Lücken mit den eigenen Gedanken zu füllen.

Es ist nicht entscheidend, ob ihr die Musik von Peaches fühlt oder nicht fühlt: Plant jetzt euren Kinobesuch. Es geht um viel mehr als die Musik. Und Peaches empfängt euch mit kompromissloser Wärme.

Die „Teaches of Peaches“-Crew

  • Regie: Philipp Fussenegger, Judy Landkammer
  • Buch: Cordula Kablitz-Post, Schyda Vasseghi
  • Kamera: Dino Osmanović
  • Montage: Judy Landkammer
  • Dramaturgie: Susanne Heuer
  • Musik: Peaches
  • Sound Design: Torben Seemann, Reemt Allerding, Paul Eisenach, Jonas Hofer
  • Produzentin: Cordula Kablitz-Post
  • Auführende Produzentin: Cordula Kablitz-Post

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