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Film ab – staunen Sie wie vor 120 Jahren!

Im Frühling 1895 nahmen Louis und Auguste Lumière vor der Fabrik ihres Vaters auf, wie die Angestellten ihrem Feierabend entgegeneilen. In Paris ist der weltälteste Film nun wieder im Salon zu sehen.

Was am Abend des 28. Dezember 1895 im „Grand Café“ am Pariser Boulevard des Capucines geschah, ist ziemlich genau überliefert. 33 Schaulustige nahmen im Salon Indien im Keller Platz, was die Veranstalter erst enttäuschte. Immerhin hatten sie in dem umgebauten Billardsaal 100 Sitze installiert. Der Abend wurde dennoch ein Erfolg. Die Zuschauer wohnten einer Zeitenwende bei.

Für einen Sekundenbruchteil war davon noch nichts zu merken. Es war nur die fotografische Ansicht eines Werktors zu sehen. Aber dann bewegte sich das Bild auf der Leinwand. Stattliche Arbeiterinnen in strengen Kleidern und breitkrempigen Hüten, ernste Herren in Arbeits- und Bürokleidung, ein verschmitzt dreinschauender Radfahrer, ein herrenlos durch die Menge springender Hund und schließlich einige Pferde und Kutscher verließen die Fabrik.

Sie waren die ersten Darsteller der Filmgeschichte. Louis und Auguste Lumière hatten sie um die Mittagszeit des 19. März vor den optischen Werken ihres Vaters aufgenommen.

Ein Meisterstück der Rekonstruktion

Wie der Salon Indien aussah, in dem die Vorführung stattfand, kann niemand mehr genau sagen. Es existieren keine Fotos von ihm und die Brüder Lumière versäumten es, ihn mit ihrem Cinématographe (Bewegungsschreiber) zu filmen. In Paris ist er dennoch wieder aufgebaut worden, nun jedoch im Salon d’Honneur, dem imposanten Ehrensaal des Grand Palais. Er bildet das Zentrum einer Ausstellung, die an die epochale Erfindung der Brüder aus Lyon vor 120 Jahren erinnert.

Die Szenographin Nathalie Crinière hat alles fantasievoll wieder aufleben lassen.  Überhaupt ist „Lumière! Le cinéma inventé“ ein Meisterstück der Rekonstruktion: Die Kuratoren Jacques Gerber und Thierry Frémaux versuchen nicht weniger, als das überwältigte Staunen wiederherzustellen, das die arglosen Zuschauer vor 120 Jahren ergriff.

Sie tun es mit einer gewissenhaften Opulenz, die in dem Ausstellungssaal einen prächtigen Verbündeten hat. Am Entree der Schau ist das Bild des Werktors zu sehen, das sich langsam zu den Laufgeräuschen eines alten Projektors in Bewegung setzt. An ihrem Ende werden Remakes dieses ersten Films vorgeführt, die Regisseure wie Pedro Almodóvar, Xavier Dolan und Quentin Tarantino voller Enthusiasmus vor der noch erhaltenen Ruine des Drehorts gemacht haben.

Ihr Name bedeutet „Licht“: Louis und Auguste Lumière
Ihr Name bedeutet „Licht“: Louis und Auguste Lumière
Quelle: © Institut Lumière

So kann ein Kreisschluss zu einer fortschreitenden Bewegung werden, die Historie und Gegenwart verbindet. Schon das Plakat der Schau fängt den Elan ein, der Gegenstand und Präsentation bestimmt: Mit jugendlichem Übermut springt Auguste vor Louis’ Kamera über einen Stuhl. Die Momentaufnahme von 1888 zeigt, wie sehr ihre Schaulust auf die Bewegung drängte.

Die Ausstellung bettet die Erfindung ihres Kinematographen vielfach historisch ein. Sie ist Teil der Familien- und damit auch der Industriegeschichte Frankreichs: Vater Antoine war ein erfolgreicher Fotograf und passabler Maler, dessen optische Werke im Stadtteil Monplaisir während der Belle Époque prosperierten. Die Aufnahme der Arbeiter, die das Werktor verlassen, ist gewissermaßen der erste Werbefilm. Der Hang zur Dynastiebildung, der das französische Kino bis heute prägt, kündigt sich damals bereits an: Gleich vier der Söhne und Töchter Antoines heirateten vier Kinder des Brauereibesitzers Alphonse Winckler.

Raffiniertes Spiel mit der Schärfenverlagerung

Zugleich stellt die Schau den Cinématographe in eine Kontinuität der Erschaffung bewegter Bilder. Sie präsentiert Vorläufer des Kinos wie die Laterna magica und Wegbereiter wie Edisons Kinetoscope. Sodann verweist sie auf Zeitgenossen, die das künstlerische und industrielle Potenzial des neuen Mediums weiterentwickelten; den Magier Georges Méliès sowie die Konzerne Gaumont und Pathé, die unmittelbar nach der ersten Filmvorführung entstanden.

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Darin beweisen die Kuratoren Sinn für Diplomatie, denn die Erfindung des Kinos reklamieren auch andere Pioniere in den USA und Europa für sich. Im Salon d’Honneur wird jedoch greifbar, weshalb die Lumières den Mythos mit der größten Durchsetzungskraft begründeten. Während allen Vorläufern immer ein entscheidendes Element fehlte, kam bei ihrem Apparat technisch alles zusammen. Mit ihm ließen sich Filme aufnehmen, entwickeln und vorführen. Er fand rasante Verbreitung.

So warb man im Jahr 1896 für die neue Lichtspielkunst
So warb man im Jahr 1896 für die neue Lichtspielkunst
Quelle: © Institut Lumière

Die Operateure, die die Brüder zum Filmen und Vorführen in alle Kontinente aussandten, etwa Alexandre Promio oder Gabriel Veyre, gewinnen eigene Kontur als Abenteurer des Bildes. Sie schenkten, wie der ebenfalls in Lyon geborene Bertrand Tavernier sagt, der Welt den Anblick der Welt. Dieser Aufbruch zu neuen Horizonten entspricht einer dortigen Tradition, denn Händler aus der Stadt mit den zwei Flüssen kamen schon vor Marco Polo nach China.

Leben und Werk der Brüder waren eine immerwährende Suche. Die Ausstellung zeigt sie als eine Kaskade der Erfindungen. Auf der Pariser Weltausstellung von 1900 zeigten die Lumières Städtepanoramen im 360-Grad-Winkel (von denen eines unter der Decke des Salons schwebt) und experimentierten mit dem 70-mm-Format. Louis sah nicht den Cinématographe als seine bedeutendste Leistung an, sondern die Entwicklung des Autochrome, des ersten kommerziellen Verfahrens der Farbfotografie.

Da die hauchdünnen Glasplatten extrem zerbrechlich sind, werden nur Duplikate präsentiert. Aber auch auf ihnen sind ein raffiniertes Spiel mit der Schärfenverlagerung und eine Körnigkeit zu erkennen, die an den Postimpressionismus erinnern. 1935 schließlich führte Louis in der Pariser Akademie der Wissenschaften ein 3-D-Verfahren vor, das sich an Experimente mit stereoskopischer Fotografie anschloss, die er bereits vier Jahrzehnte zuvor unternommen hatte. Ein Remake der Einfahrt des Zuges ist, sofern man den richtigen Abstand hält, auch ohne Brille in bewundernswerter Plastizität zu sehen.

Die Erfindung der Fiktion

Das pièce de résistance der Ausstellung nutzt die enorme Deckenhöhe des Salons. An eine Wand werden alle 1400 noch erhaltenen Filme gleichzeitig projiziert. Diese Anzahl bereits ist angesichts der erschreckenden Überlieferungssituation des frühen Kinos phänomenal, denn der Katalog der zwischen 1895 und 1907 gedrehten Lumière-Filme verzeichnet insgesamt 1427 Titel.

Auf dem monumentalen Wimmelbild sowie auf den davor installierten Monitoren lassen sich einzelne Filme nach Genres abrufen. Deren Komposition und Dramaturgie weisen die Brüder als die ersten wirklichen Filmemacher aus, die ein untrügliches Gespür dafür besaßen, die Kamera stets genau an der richtigen Stelle zu postieren. Zugleich wird deutlich, dass sie beide Schulen des Kinos begründet haben, die dokumentarische wie die narrative. Die Brüder filmten burleske Situationen, rekonstruierten historische Szenen.

Die Fiktion hielt nicht erst mit Méliès Einzug ins neue Medium. Sie war schon in der ersten Einstellung da: Die Angestellten der Lumière-Werke werden schließlich nicht schon mittags Feierabend gehabt haben.

Bis 14. Juni 2015.

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