Interview mit der Schauspielerin Ruth Reinecke: "Wir Schauspieler sind von einer kindlichen Naivität beseelt"

"Wir Schauspieler sind von einer kindlichen Naivität beseelt"

Ruth Reinecke tritt seit 36 Jahren im Maxim Gorki Theater auf. Sie erlebt, wie eine unbegreiflicher gewordene Welt auch das Spiel auf der Bühne verändert. Ein Gespräch über ironische Lippen und das Glück, eine Liebesgeschichte zu spielen.

Wir sitzen im kleinen Garten des Maxim Gorki Theaters auf einer Bank. Zwischen uns das Aufnahmegerät. Ab und zu kommen Leute vorbei, oder man hört ein Auto. Das Band hat auch viele Vogelstimmen festgehalten. Die Vögel sind inzwischen in ihre Winterquartiere geflogen. Ruth Reinecke dagegen ist aus ihrem Urlaub zurück und steht jetzt wieder im Gorki auf der Bühne. Im Fernsehen war sie gerade in der dritten Staffel der ARD-Serie „Weissensee“ als Marlene Kupfer zu sehen. Ich brauchte sehr lange, um dieses Interview dem Tonband wieder abzuluchsen. Das kommt manchmal vor. Gerade, wenn ein Gespräch mich besonders beeindruckt.

Der älteste Beleg Ihrer schauspielerischen Tätigkeit, den ich im Netz fand, ist „Harmloser Anfang“, eine Folge der damaligen DDR-Krimireihe „Polizeiruf“ aus dem Jahr 1981. Ist das nicht schrecklich, wenn man so verfolgbar ist? Vor dem Fernsehen ging das ja nur bei ein paar wirklich großen Filmstars. Jetzt, mit dem Internet, mit Youtube, ist man ein Leben lang, ja über den Tod hinaus, präsent. Denken Sie manchmal daran? Verändert das Ihr Spiel?

Nein. Nie. Es ist mir nicht so wichtig. Ich komme doch vom Theater, und was man dort macht, spielt sich Abend für Abend zwischen uns auf der Bühne und dem Publikum ab. Da ist keine Kamera, die aufzeichnet. Im Theater spielt man für den Augenblick. Inzwischen gibt es viele Möglichkeiten, diese Momente aufzuzeichnen. Ich weiß das. Aber mein Spiel hat sich dadurch nicht verändert. Ich selbst bin durch diese vielen medialen Möglichkeiten eher zurückhaltender geworden. Ich bin nicht bei Facebook oder auch sonst auf keiner der Plattformen. Ich habe noch nie nachgeschaut, ob man etwas von mir auf Youtube findet. Heute Morgen, als ich zu diesem Interview ging, dachte ich: Ich hätte mal bei Wikipedia nachschlagen sollen, was da über mich steht. Meine Community ist, wenn Sie so wollen, das Gorki.

An Ihrer Art zu spielen, ändern die neuen Medien, die Möglichkeit permanenter Beobachtung, nichts?

Überhaupt nichts. Aber es ändert sich das Bewusstsein, wie man wahrgenommen wird. Darüber denke ich manchmal nach. Dann aber spielt es auch wieder gar keine Rolle.

Sie spielen in der Inszenierung von Fassbinders „Angst essen Seele auf“ die Emmi Kurowski, die Rolle, die er mit Brigitte Mira besetzt hatte. Für Leute unserer Generation spielen Sie in ständiger Konkurrenz zu Brigitte Mira.

Als ich das Angebot bekam, freute ich mich sehr. Es ist eine großartige Liebesgeschichte. In meinem Alter noch eine Liebesgeschichte spielen zu dürfen, ist einfach ein Geschenk. Ich habe einen wunderbaren Kollegen, Taner Sahintürk, an meiner Seite. Natürlich sah ich mir noch einmal Fassbinders Film an. Einmal. Dann wendet man sich dem zu, was man in die Hand bekommt: dem Text. Man spürt, das er bis in die einzelnen Formulierungen hinein von Brigitte Mira bestimmt ist. Es ist ja bekannt, wie viel bei Fassbinder improvisiert wurde. Der Text, wie wir ihn heute haben, wurde ja erst, nachdem der Film fertig war, fixiert. Die Fassbinder Foundation ist sehr streng, was die Texte betrifft. Ich bin dann erstmal mit viel Respekt rangegangen. Dann habe ich aber gemerkt: Wenn ich mich nicht von der Mira und allem, was in diesem Text von ihr eingeschrieben ist, löse, habe ich verloren. In diesem Moment wird es spannend. Jetzt beginnt die Arbeit. Man sucht nach etwas Eigenem, ohne die Figur zu verletzen und ohne aus dem Kontext der Inszenierung auszuscheren.

Fassbinders Inszenierung lebte von der absoluten sexuellen Unattraktivität von Brigitte Mira.

Das sagen Sie!

Damit können Sie nicht dienen. Darum mussten Sie völlig anders spielen.

Lassen Sie mich anders darauf antworten. Schauen Sie sich den Werdegang von Brigitte Mira an. Sie war ja etwas ins Abseits geraten, als Fassbinder ihr die Rolle der Emmi Kurowski auf den Leib schrieb. Auf Youtube können Sie ein Interview mit ihr sehen. Großartig. Wir sind ja zwei völlig verschiedene Schauspielerinnen. Wir kommen aus ganz unterschiedlichen Zeiten und Traditionen. Unser Denken und unser Spiel unterscheidet sich sehr. Gerade das Spiel auf der Bühne hat sich doch in den letzten Jahrzehnten gewaltig verändert. Alles ist offener geworden. Es wird viel mehr gesucht und improvisiert und das eigene Tun kommentiert. Die Welt scheint uns unkontrollierbar, unerfassbar, verrückt geworden zu sein. Das drückt sich in der Art aus, wie wir heute Theater spielen. Brigitte Mira dagegen kommt mir in ihrer Art zu spielen wie ein Monolith vor. Ich glaube, das reizte Fassbinder; schon durch ihre Biografie war sie für ihn das Spiegelbild einer älteren deutschen Frau. Das bin ich eher nicht. Ich könnte auch gar nicht so spielen wie Brigitte Mira. Sieht man unsere Aufführung und denkt über die Unterschiede von Brigitte Mira und Ruth Reinecke nach, ist das doch in Ordnung. Die Differenz ist eben das Interessante.

Sie haben also nichts gegen den Vergleich?

Im Gegenteil. Es kann doch nicht darum gehen, etwas nachzuspielen, was 1974, vor mehr als 40 Jahren, gespielt wurde. Die Figur des Ali ist bei uns gespeist von den Erfahrungen, die die Generation seiner Eltern in Deutschland gemacht hat. Und wenn Taner das spielt, bringt er das mit und wertet diese Figur ungeheuer auf, so wie es im Film nicht war. Aus der historischen Differenz und dem eigenen Erleben ergibt sich etwas Neues.

Und Sex?

Wir wollten die Liebe der beiden so erzählen, dass es glaubwürdig ist, dass Emmi und Ali ins Bett gehen miteinander und Freude aneinander haben. Wenn das nicht gelingt, braucht man den Abend nicht zu machen.

Wer sich kurz vor dem Theaterbesuch noch einmal den Film angesehen hat, dem wird auch deutlich, dass die Schauspielerei im Theater und im Film zwei unterschiedliche Sachen sind.

Natürlich.

Die Bühne ist ein Raum, der gefüllt werden muss. Mit Gängen und Gesten. Sie kommen von ganz hinten bis ganz nach vorn und fangen dann an zu sprechen. Das Gehen gehört schon zu Ihrem Auftritt.

Es ist nicht nur der Bühnenraum. Der Zuschauerraum gehört auch dazu. Publikum und Schauspieler sind doch in einem Raum. Jeder Zuschauer sieht das ganze Geschehen, jeden Schauspieler und nicht nur den, der vorne in der Mitte steht. Im Film ist das anders: Die Kamera ist das Auge des Zuschauers. Im Theater entscheidet der Zuschauer, was er sieht oder nicht sieht.

Wenn Sie einen Film drehen, arbeiten Sie für die Kamera?

Ja. Natürlich auch für die Kollegen und mit ihnen. Ein Dialog muss ein Dialog mit dem Partner sein, ganz gleichgültig, ob der Kinobesucher ihn in diesem Moment auch sieht. Ich komme vom Theater und arbeite sehr szenisch. Mir ist auch bei einer Filmszene wichtig, was wir alle gerade machen. Auch im Film macht es einen Unterschied, ob ich, wenn ich zum Beispiel eine schlechte Nachricht erhalte, irgendwo in einer Ecke klemme oder mitten im Raum stehe. Im Kino sieht man dann nur den Raum, den die Kamera zeigt. Dennoch brauche ich als Schauspieler auch meinen Raum.

Beim Dreh brauchen Sie die Kollegen, auf der Bühne auch noch die Zuschauer. Auch in den oberen Rängen?

Selbstverständlich.

Sie sehen sie doch gar nicht.

Ich spüre sie, wir sind ja in einem Raum. Das klingt vielleicht ein wenig esoterisch, ist es aber nicht. Ich spüre, ob sie bei mir sind, oder mit dem Niesen kämpfen. An dem Abend, als Sie „Angst essen Seele auf“ sahen, waren alle erschöpft von der Sommerhitze. Das spürt man sehr wohl. Uns läuft das Wasser herunter, und wir spüren die Trägheit im Zuschauerraum. Man muss sich drauf einstellen und dagegen anspielen.

Was hat sich am Spielen in den letzten Jahren verändert?

Auf allen Bühnen gibt es eine deutliche Verschiebung in Richtung Entertainment und Performance. Das war ganz anders, als ich angefangen habe in dem Beruf. Damals war alles viel geschlossener, so würde ich es aus heutiger Sicht beschreiben. Das Spiel hat sich zum Zuschauer geöffnet. Ich beobachte an unserem Haus den Wunsch, sich zu bekennen zu dem, was man denkt, fühlt über diese verzweifelte Welt. Es wird anders mit Stücken umgegangen. Nicht zu jedermanns Freude. Vor ein paar Wochen war ich im Bodemuseum in der „Ein Gott“-Ausstellung. Beim Händewaschen auf der Toilette spricht mich eine Frau an:„ Sie sind ja einer der letzten Mohikaner. Ich bin immer ins Gorki-Theater gegangen, aber bei dem, was die jetzt machen, gehe ich da nicht mehr hin. Damals war es so schön.“ Diese Reaktionen gibt es. Diese Zuschauerin hat Glücksmomente im Theater gehabt. Die will sie wieder haben. Exakt die. Aber das Theater ist kein Museum.

Können Sie diese Glücksmomente näher beschreiben? Welches Glück haben wir abgeschafft?

Antworten zu geben. Die von den Älteren immer wieder beschworenen Inszenierungen der Siebziger- und Achtzigerjahre am Gorki oder anderswo waren geprägt von großen Regiepersönlichkeiten und großen Ensembles. Denen ging es um Aufklärung im besten Sinne. Peter Stein, Thomas Langhoff, Benno Besson, Christoph Schroth, Alexander Lang, Peter Zadek und so weiter. Man klopfte die Stücke ab, Satz für Satz, wollte wissen, was das zum Beispiel im 19. Jahrhundert bedeutet hat, erarbeitete sich eine eigene Haltung dazu. Man blieb aber in der geschlossenen Form. Wir lernten damals, uns durch eine geschlossene Form mit dem Publikum zu verbinden. Auch wir suchten damals nach dem wahrhaftigen Ton. Wenn wir zu viel „dampften“, witzelte Langhoff : „Stadtheater..!“

Jetzt sind wir wieder näher am Stadttheater?

Oh, sehr unterschiedlich. Ist ja per se kein schlechter Begriff. Nur, so konfus wie die Welt ist, so konfus ist auch das Theater. Wir haben keine Antworten mehr, nirgends. Inhaltlich nicht und auch nicht, was unsere Spielweisen angeht.

Die Rampensau ist doch heute wieder angesagt.

Das hängt wohl mit dem Entertainment zusammen.

+++ Lesen Sie im nächsten Abschnitt, warum sich Ruth Reinecke immer wieder ein bisschen selbst betrügt +++

Als John Osborne seinen „Entertainer“ schrieb und Laurence Olivier ihn 1960 spielte, da war er das Porträt einer aussterbenden Gattung. Erleben wir gerade eine Renaissance? So wie Fassbinder Brigitte Mira mitten im Regietheater zu einer Wiedergeburt verhalf?

Ich denke manchmal auch: Das hatten wir doch alles schon einmal. Aber das ist falsch. Jede Zeit greift nach dem, was sie braucht. Auch aus der Vergangenheit. Man greift nicht zurück, sondern man sucht sich die notwendigen Mittel. Das sieht manchmal aus wie schon einmal dagewesen. Die Älteren neigen dazu, nur das Alte zu sehen und nicht das Neue darin. Es wird ja was Neues zusammengesetzt. Die Lust am Entertainment hat auch mit unserer Werbe- und Konsumwelt zu tun. Alle wollen gut ankommen, witzig sein, sich wohl fühlen. In jeder Sekunde. Ich mag es nicht, wenn Schauspieler erst einmal ein bisschen Späßchen machen und so den Schulterschluss zwischen sich und dem Publikum herstellen. Ich finde das nicht notwendig. Man kann sich einander nähern, ohne sich anzubiedern. Das ist eine Frage des Respekts, den man voreinander hat.

Hat die von Ihnen konstatierte Konfusion nicht auch Vorteile? Wir entdecken ganz unterschiedliche Formen der Schönheit, ganz unterschiedliche Augenblicke des Glücks. Manchmal sogar auf der Bühne.

Wenn man das schafft – innerhalb eines Hauses – wunderbar. Natürlich ist die Vielfalt der Schauspieler mit unterschiedlichen Herkünften, die aus verschiedenen Schauspieltraditionen kommen, ein großer Gewinn, ein Reichtum. Unbedingt. Es gibt ja diese Truppen, die sich um einen Regisseur scharen und dann mit ihm von Bühne zu Bühne ziehen. Irgendwann erschöpft sich das. Ich bin sehr lange am Gorki. Ich kann das an mir selbst beschreiben. Ich erlebe die fünfte Intendanz und das fünfte Ensemble. Das sind ganz unterschiedliche Arten, Theater zu machen. Mal erfolgreich, mal weniger erfolgreich. Ob man Erfolg hat oder nicht, hängt von sehr vielen Faktoren ab. Das ist nicht nur eine Frage der Begabung der Theatermacher. Das ist eine Frage der Interaktion von Theater und Publikum. Vom Stellenwert des Theaters in der Stadt im jeweiligen historischen Moment. Das Publikum greift auch nach dem, was es braucht. Ob wir das, ob ich das gerade liefere, kann ich nicht wissen. Das lässt sich nicht durch ein Meinungsforschungsinstitut herausfinden. Ich bin neugierig auf das Publikum. Aber das Publikum muss auch neugierig auf mich sein, sonst fehlt etwas.

Sie wollen auch geliebt werden?

Selbstverständlich.

Ohne sich anzubiedern – ist das nicht ein wenig zu viel verlangt?

Es geht auch ohne, muss ohne gehen.

Sie sprechen von fünf Intendanten. Schauspieler sind das Kanonenfutter. Sie stehen auf der Bühne, werden bejubelt oder ausgebuht. Sie spielen nicht ihre eigenen Texte. Sie spielen sie so, wie ein vom Intendanten bestallter Regisseur es will. Normalerweise interessiert sich kein Schwein für den Intendanten.

Kanonenfutter ist deutlich übertrieben. Im Theater wird so gut wie nie mit richtigen Kugeln geschossen. Richtig ist aber, dass wir wochenlang unterwegs sind und einem Ereignis, das Premiere heißt, entgegenfiebern. Der Saal ist voll. Wir wollen zeigen, was wir mal mit Liebe, mal mit Qual, oft mit beidem erarbeitet haben. In einem Ensemble-Theater passieren dann manchmal glückhafte Momente, in denen man auf der Bühne wie eine Mannschaft antritt. Natürlich kommt es auch vor, dass man in einer unglücklichen Inszenierung ist und man weiß: Die ist versemmelt. Das muss man jetzt spielen. Zehn Vorstellungen lang. Das ist eine verdammt harte Arbeit.

Spielen nicht die meisten „normalen“ Menschen dauernd in versemmelten Aufführungen?

Keine Ahnung. Ich war immer nur Schauspielerin. Ich war es und bin es, weil es im Theater Momente des Glücks immer wieder gibt. Aber es gibt einen Unterschied. Wir sind von einer kindlichen Naivität beseelt, von der Spiellust. Das ist verrückt. Aber ohne diese Verrücktheit könnten wir diesen Beruf nicht machen.

Geht das ohne Drogen?

Ja. Absolut. Man muss sich ein wenig selber betrügen. Man muss immer wieder einen Neustart wollen und an ihn glauben. Man muss sich immer wieder neu öffnen und sich einbringen. Sonst hat man keine Freude daran. Wenn ich das nicht schaffe, wird jede Probe und jede Vorstellung zur Qual.

Können Sie mir einen glücklichen Moment aus Ihrem Theaterleben nennen?

Das passiert immer wieder. Dann entsteht beim Zusammenspiel etwas, das mehr ist, als jeder Einzelne von uns vermag. Ich möchte das an einem ungewöhnlichen Beispiel beschreiben: Im vergangenen Jahr haben wir ein Projekt gemacht, „Musa Dagh – vierzig Tage des Widerstands“. Unser Material waren Dokumente und Auszüge aus Werfels Roman über die Vernichtung der Armenier. Inszeniert hat Hans-Werner Kroesinger. Wir Schauspieler standen da und fragten einander und ihn: „Wann fangen wir an zu spielen?“ Diese Reibung zwischen den Texten und uns, die blieb bis zum Schluss. Wir stellten die Texte in den Raum, nicht uns und unser Spiel. Das gelingt nur, wenn man zu einer gemeinsamen Intensität findet. Und das ist dann ein einfacher, glücklicher Moment.

Für mich war es einer der miesesten Theaterabende, die ich jemals erlebt habe.

So unterscheiden sich Außen- und Binnenansicht.

Kommt es vor, dass man auf den Proben Glücksmomente erlebt, die zu wiederholen einem in keiner Aufführung gelingt?

Immer wieder. Aber jede Probe und jede Vorstellung ist ein neues Spiel. Und so löst sich manchmal das, was man zu spielen vorhatte, auf, und man wird völlig frei: Man vergisst, dass man spielt. Wie ein Kind. Am schönsten ist das in Momenten , in denen es den anderen auch so geht. Das sind die großen Augenblicke des Glücks.

Das ist das Gegenteil von dem, was Sie gerade bei „Musa Dagh“ beschrieben haben.

Das stimmt. Ich bin nicht Schauspielerin geworden für das Dokumentartheater, sondern wegen der Möglichkeit der kindlichen Freiheit. Ich liebe die Regisseure, die sie mir ermöglichen, indem sie diese schützen. Wir Schauspieler brauchen diesen Schutz. Man verliert sich so leicht in der Freiheit.

Sie sind seit 1979 Mitglied des Ensembles des Gorki-Theaters. In dieser Zeit hat sich nicht nur das Theater, wie Sie uns erklärt haben, verändert, sondern auch der Frauentypus. Welche Rolle hat das in Ihrem Leben gespielt?

Ist das nicht toll! Ich habe einen Beruf, in dem ich all diese Veränderungen der Zeiten und der Moden veräußerlichen kann. Ich habe sie verkörpert. Das ist ein großes Privileg. Diese Wechsel habe ich mitgemacht, habe sie überlebt, habe immer wieder neu starten können. Ich kam 1979 aus meinem ersten Engagement aus Schwerin ans Gorki, hatte einen Heidenrespekt, traute mich kaum, den Mund aufzumachen. Heute sind meine jungen Kolleginnen weltgewandt und selbstbewusst.

Es hat sich ja auch optisch viel verändert. Waren Ihre ironischen Lippen, die ich schon in dem „Polizeiruf“ sah, immer modern?

Ich war schon als junge Schauspielerin nicht der mädchenhafte Typ. Ich war gleich, um in diesen alten Theaterbegriffen zu sprechen, im Charakterfach. Das Studium schloss ich mit Goethes „Iphigenie“ ab. Meine erste Rolle in Schwerin war die Elisabeth in Schillers „Don Carlos“, und dann kam die Alkmene in Kleists „Amphitryon“. Man traute mir das zu.

Es gibt doch einen Wechsel der Moden. Das Ensemble des Gorki sieht heute ganz anders aus.

Das hat natürlich damit zu tun, wer die Künstler nach welchen Kriterien engagiert. Was habe ich mit einem Ensemble vor? Wen brauche ich? Was fehlt mir? Liebe ich die Unterschiede, oder will ich einen Stil durchsetzen? Man kann auch absehen vom Ensemblegedanken und sich überlegen, mit welchem Star kriege ich ein volles Haus. Das gab es am Gorki auch. Da kam dann Harald Juhnke.

Das war noch mehr Entertainment.

Das war Boulevard. Das ist noch einmal etwas anderes. Am neuen Gorki mag ich, dass es sich öffnet für alle möglichen Formen des Theaters. Das Mixen von Herangehensweisen und die Internationalität der Künstler machen das Gorki aus. Es findet eine große Sinnsuche statt. Es ist sehr lebendig. Ich bin froh, dass mir das noch einmal passiert.

Das Gespräch führte Arno Widmann.