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Bei Thomas Manns Tod war sein Enkel froh

Thomas Mann mit Enkel Frido Thomas Mann mit Enkel Frido
Quelle: Privatarchiv von Frido Mann
Nachkomme der berühmten Mann-Familie zu sein ist ein Segen und Fluch zugleich. Frido Mann ist Thomas Manns jüngster Enkel. Im Gespräch mit WELT ONLINE erzählt der Psychoanalytiker von den Neurosen seiner Familie und wie er mit der Erblast umging. "Ich fürchtete, meinen Verstand zu verlieren" sagt er.

"Jemand wie ich sollte keine Kinder haben", schrieb der sechsfache Vater Thomas Mann in sein Tagebuch. Seine Lieblingstochter Erika erzählte dazu gern eine Episode aus dem Ersten Weltkrieg: "Wir hatten nichts zu essen, absolut nichts. Jede Winzigkeit wurde mathematisch geteilt. Eines Tages war eine Feige übrig geblieben. Es war ganz klar, dass diese Feige zwischen uns Kindern geteilt werden musste. Was tat mein Vater? Er gab mir allein diese Feige und sagte: 'Da Eri, iss. Man soll Kinder früh an Ungerechtigkeit gewöhnen.'"

Zu den ungeliebten Kindern gehörte neben Golo und Monika auch Michael Mann, dem die Ärzte als Kind Bier verordneten, um seine nervösen Störungen zu therapieren. Dessen Sohn Frido hingegen wurde von Thomas Mann vergöttert. Er schwärmte von dem Jungen gar als seine "letzte Liebe". Dieser legt jetzt seine Autobiografie "Achterbahn" vor.

Wenn der 68-Jährige von den blühenden Neurosen der Mann-Dynastie erzählt, merkt man schnell, dass er studierter Psychoanalytiker ist. In seiner Wohnung am Zürichsee bewahrt er jenen berühmten Flügel aus der Villa des Großvaters in Pacific Palisades, an dem dieser sich für seinen "Doktor Faustus" von Theodor W. Adorno und Arnold Schönberg die Zwölftonmusik erklären ließ.

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WELT ONLINE: Herr Mann, Sie sind das Vorbild für den engelhaft schönen Nepomuk Schneidewein aus Thomas Manns "Doktor Faustus". Ihr Großvater ließ Sie in seinem Roman mit vier Jahren qualvoll sterben. Wie sind Sie mit Ihrer Todesrolle zurechtgekommen?

Frido Mann: Als "Doktor Faustus" 1947 erschien, war ich sieben Jahre alt und lebte oft bei meinen Großeltern in Los Angeles. Zu deren Besuchern zählten Exil-Größen wie Theodor W. Adorno, Otto Klemperer, Artur Rubinstein, Arnold Schönberg, Franz Werfel und Lion Feuchtwanger. Meine Kinderohren und -augen haben aufgenommen, dass da etwas seltsam war. Es wurden immer wieder Sachen getuschelt wie: "Das ist doch der kleine Nepomuk, der vom Teufel geholt wird." In den verstohlenen Blicken lag Entsetzen, Mitleid, Neid und Sensationslust. Erst als ich mit 13 "Die Entstehung des Doktor Faustus" las, wusste ich, was los war. Das habe ich dann jahrzehntelang wie ein Geheimnis mit mir herumgetragen.

WELT ONLINE: Fühlten Sie sich durch Ihre Rolle in "Doktor Faustus" geadelt oder missbraucht?

Mann: Damals eher missbraucht und ausgenutzt. Und das verletzte mich. Aber meine literarische Vereinnahmung war ein Tabu, über das niemand in der Familie mit mir sprechen wollte. In der Familie hatte sich wohl unterschwellig ein schlechtes Gewissen breitgemacht. Bei mir klickte es erst, als mein Großvater schon lange tot war und ich aus der Familie ausstieg. Danach habe ich mich 20 Jahre lang geweigert, Bücher von Thomas Mann zu lesen. Ich wollte seinem Schatten und der Umklammerung durch die übermächtige Familie entkommen.

WELT ONLINE: Ihr Onkel Golo Mann sagte am Ende seines Lebens über seinen Vater: "Ich habe seinen Tod gewünscht." Was haben Sie gefühlt, als Thomas Mann 1955 starb?

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Mann: Der ständig über mir schwebende und alles verdunkelnde Schatten war plötzlich weg. Ebenso das Erdrückende, das mit seiner Überliebe verbunden war. Deshalb empfand ich neben Traurigkeit auch einen heimlichen Triumph. Ich fühlte mich auf einmal frei.


WELT ONLINE: Thomas Mann nannte Sie in einem Brief seine "letzte Liebe". Haben Sie den homoerotischen Touch seiner Gefühle zu Ihnen je gespürt?


Mann: Nein. Dazu war ich zu jung. Als er starb, war ich ja erst 14.

WELT ONLINE: Wie lautet heute Ihre Erklärung für Nepomuks frühen Tod?

Mann: Ich vermute, dass es die literarisch umgesetzte Angst war, ein besonders geliebtes Kind zu verlieren. Eine weniger freundliche Deutung wäre, dass mein Großvater sich so den sehnsüchtigen Verzicht auf das tabuisierte Objekt erträglicher gemacht hat.

WELT ONLINE: Wann haben Sie von den homoerotischen Neigungen Ihres Großvaters erfahren?

Mann: Ich habe mich erst in den 80er-Jahren wieder mit ihm auseinandergesetzt. Damals erschienen Biografien, die ihn vom Sockel herunterrissen, und es wurde Mode, über seine Homosexualität zu sprechen. Das ging so weit, dass meine Mutter mal sagte: "Was reden die denn alle? Die müssen sich doch mal fragen, woher denn die sechs Kinder kommen!"

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WELT ONLINE: In Ihrer kommende Woche erscheinenden Autobiografie blenden Sie die Homosexualität von Thomas Mann komplett aus. Warum?

Mann: Ich habe keinen Bezug dazu. Außerdem ist das Thema längst ausgereizt. Nehmen Sie Heinrich Breloers Fernseh-Dreiteiler "Die Manns". Der hat den Homosexuellen-Aspekt so hochgespielt, weil er völlig einseitig darauf fixiert ist. Dass die Manns eine Schriftstellerfamilie sind, kommt bei ihm kaum zum Ausdruck - und das ist lächerlich!

WELT ONLINE: In seinen letzten Lebenstagen hat Thomas Mann eine Prosa-Erzählung von Ihnen redigiert. Wie lauteten seine Anmerkungen?

Mann: Das war bloß eine Vier-Seiten-Geschichte, die auf dem Land spielt. Wenn ich schrieb "der Stall des Pferdes", notierte er mit Bleistift an den Rand "der Pferdestall". Bei einem Märchen von mir fand er die Beschreibung der Hölle zu wenig originell. Er fügte hinzu, dass man da Brennnesseln essen müsse.

WELT ONLINE: Wenn Ihre Großmutter Katia nach Hause kam, fragte sie oft: "Was macht das Monstrum gerade?" Gemeint war Thomas Mann.

Mann: Als ich 1940 geboren wurde, war mein Großvater schon 65. Deshalb kenne ich nur den durch Ruhm und Alter verklärten Thomas Mann. Das gängige Bild vom gefühlskalten und pedantischen Geistesriesen war nur eine der vielen Facetten seines Wesens.

WELT ONLINE: Als Thomas Mann bemerkte, dass einer seiner Söhne sich vor Kruzifixen fürchtete, nagelte er wenig später ein Kruzifix an dessen Bett. Begründung: Das Kruzifix sei ein Symbol der abendländischen Kultur, an dessen Anblick man sich gefälligst zu gewöhnen habe. Heute fiele das unter schwarze Pädagogik.

Mann: Seine dunklen und cholerischen Seiten habe ich nur in kleinsten Ansätzen bemerkt. Wenn mein Bruder Toni aus Versehen in das vom Großvater besetzte Bad stürmte, gab es ein Riesendonnerwetter. Als mein Großvater böse auf mich war, hat er mich gezielt für Stunden nicht mehr beachtet. Er konnte mit kleinsten Mitteln ungeheure Effekte erreichen.

WELT ONLINE: Träumen Sie gelegentlich von Thomas Mann?

Mann: Vor einigen Jahren gab es einen Traum, sehr überraschend, sehr plötzlich: Wir gingen spazieren, wie früher in Kalifornien, und es war eine große körperliche Nähe zwischen uns. Dann bricht meine Erinnerung ab.

WELT ONLINE: Golo Mann, von seinem Vater lange verachtet, war für Sie über viele Jahr ein Ersatzvater. Warum werden Sie in seinen Memoiren mit keinem Wort erwähnt?

Mann: Bis in die 70er-Jahre glaubte ich, dass wir ein sehr herzliches Verhältnis haben. Mein erster Schock war, dass er den Familienring seines Vaters bei dessen hundertstem Geburtstag an meinen Sohn weitergab und mich glatt übersprang. 1991 habe ich bei ihm ein Exemplar meines autobiografischen Romans "Professor Parsifal" entdeckt. Das Buch war voll mit gehässigen Randbemerkungen. Dabei hatte er mir nie etwas von seiner schroffen Abneigung gegen mein Buch gesagt.

WELT ONLINE: Eine der Randbemerkungen von Golo Mann lautete: "Courths-Mahler". Warum diese Feindseligkeit?

Mann: Die gab es bei allen Familienangehörigen. Je älter sie wurden, desto mehr haben sich die meisten von mir zurückgezogen. Meine Kusinen haben mir hinterbracht, dass da wohl die Eifersucht auf den verhätschelten Lieblingsenkel mit im Spiel sei. Trotz seiner immensen Verletztheit konnte Golo den bewunderten Vater nie loslassen - und wer nicht loslassen kann, ist schnell auf andere eifersüchtig.

WELT ONLINE: Golo Mann war seit 1955 mit dem mehr als 30 Jahre jüngeren Apotheker Hans Beck liiert. Wann haben Sie von dieser Beziehung erfahren?

Mann: Bei einer Wanderung erzählte Golo meinen Eltern, er hätte jemanden in der Bahn kennengelernt. Er war ganz im Zweifel, ob er den wiedersehen wollte. Meine Mutter sagte: "Dann wirf doch einen Silberdollar hoch und lass den entscheiden." Wir haben ihn dann mit dem Auto bei Hans Beck abgeliefert. Der wohnte noch bei seiner Mutter. Ein Jahr später machte er mit ihm Urlaub in Italien. Ich war auch dabei. Ich sehe die beiden noch beim Sonnenuntergang am Strand stehen. Golo legte ihm die Hand um die Schultern und sagte: "Hans, was sagst du zu so einem wunderschönen Sonnenuntergang?" Hans antwortete: "Im Schwimmbad von Geislingen find' ich es schöner."

WELT ONLINE: Als Golo Mann 1994 starb, fand sich in seinem Testament die Anordnung, dass er abseits des Familiengrabes zu beerdigen sei. Blutsverwandte hätten der Urnenbeisetzung unbedingt fernzubleiben. Sie sind promovierter Theologe und Psychologie-Professor. Wie interpretieren Sie das?

Mann: Die Triebfeder für diese Irrationalität ist die totale Ambivalenz zwischen Bewunderung und Hass, die Golo nie überwunden hat. Es gibt Menschen, die im Alter das, was immer schon unterschwellig in ihnen war, in völlig grotesker und karikaturhafter Form zum Ausdruck bringen. Als Golo mit über 60 Hans Beck adoptierte, sagte er mit hassverzerrtem Gesicht zu meiner Mutter: "Das mache ich nur, damit ihr nichts von meinem Erbe abbekommt!"

WELT ONLINE: Nach dem Tod Ihres Großvaters haben Sie einige Jahre mit Katia und Erika Mann unter einem Dach gelebt. Erika hat damals die Abende mit sechs Underberg auf ex eingeläutet.

Mann: Ja, das wurde dann immer schlimmer. Dazu kam der Drogen-Medikamenten-Mix, den sie nahm. Sie war dann oft nicht mehr ganz bei sich. Am Ende des Abends musste sie manchmal von ihrer alten Mutter über zwei Etagen hoch in ihr Zimmer gebracht werden. Ich begann, in diesem Haus trübsinnig zu werden, und hatte massive Schlafstörungen. Anfang der 60er bin ich dann aus dem Kilchberger Witwenschloss geflüchtet. Das Haus war mehr und mehr zu einem düsteren, erstickenden Museum geworden.

WELT ONLINE: Erika Mann war in ihrer ersten Lebenshälfte eine umwerfend lustige und zu jeder Libertinage aufgelegte Frau. Haben Sie sie nie gefragt, was mit ihr los sei?

Mann: Offene Aussprachen gab es in der Familie nie. Depressionen, Drogen, Homosexualität, der Suizid von Klaus Mann: Das waren alles Tabus.

WELT ONLINE: Dabei waren fast alle Manns gloriose Tabubrecher.

Mann: Das ist wie bei Psychotherapeuten. Bei Patienten sind sie der kluge und allzeit kommunikative Ratgeber. Aber zu Hause läuft es schief. Oder nehmen Sie den großen Pädagogen Pestalozzi. Der soll ein schauerlicher Vater gewesen sein.

WELT ONLINE: Katia Mann benutzte bis zu Ihrem Tod 1980 Briefpapier mit der Aufschrift "Frau Thomas Mann". Haben Sie noch miterlebt, wie sie erst altersdepressiv und dann dement wurde?

Mann: Nein. Zuletzt habe ich sie 1977 bei der Beisetzung meines Vaters gesehen. Mir fiel nur auf, wie verwirrt sie ist. Sie konnte nicht mehr auseinanderhalten, wer wer ist.

WELT ONLINE: Die Beziehung Ihrer Eltern zu Ihnen ist ein trauriges Kuriosum. In den 70ern schrieb Ihr Vater Michael Ihnen: "Väter und Söhne sollten sich viel öfters aus dem Weg gehen, als dies gemeinhin der Fall ist. Und mir scheint, wir haben unsere Sache relativ gut gemacht. Die berühmten 'Blutsbande' halte ich für einen gesellschaftlich überschätzten Faktor."

Mann: Mein Vater wollte möglichst wenig mit mir zu tun haben. Er hatte überhaupt kein Selbstbewusstsein und traute sich wenig zu. Was sollte er dann seinem Sohn zutrauen? Mit 17 hat er meiner Mutter zum Geburtstag eine Ausgabe der "Buddenbrooks" geschenkt. Seine Inschrift lautete: "Weil ich selber nichts bin."

WELT ONLINE: Schon als Kleinkind wurden Sie von Ihren Eltern häufig abgeschoben, mit 13 sogar für fast zwei Jahre.

Mann: Das nie verwundene Trauma meines Vaters war, dass er als Kind und Halbwüchsiger sich von seinem Vater total abgelehnt fühlte. Tatsächlich gab es für ihn viel Schweigen, Strenge, Geringschätzung und Jähzorn. Das war ein Teufelskreis zwischen den beiden. Aus hilflosem Protest hat er sich danebenbenommen und so ständig neuen Unmut provoziert. Und dann musste er erleben, wie sein Vater mich so über alle Maßen schätzte und liebte. Trotz kurzer und seltener liebevoller Anwandlungen mir gegenüber war sein Leben bestimmt von einem fast absurden Abgrenzungsverhalten. Das reichte bis zur völligen Enterbung meines Bruders und mir.

WELT ONLINE: Sie haben als kleiner Junge mit angesehen, wie Ihr Vater Ihrer Mutter brutal ins Gesicht schlug.

Mann: Das war Jähzorn, der aus einer völlig übersteigerten Nervosität kam. Er hat zeitlebens stark unter seiner Zerrissenheit gelitten.

WELT ONLINE: Ihr Vater war von Alkohol und Beruhigungsmitteln abhängig. Wann hat diese Sucht angefangen?

Mann: Anfang der 60er-Jahre. Da hatte er aufgehört, als Violinist und Bratschist zu arbeiten. Er studierte dann Germanistik und ging an die Universität von Kalifornien in Berkeley, um Literatur zu lehren. Er wusste: Die Musikerkarriere ist vorbei. Das ist jetzt die Endstation! Bis zu seinem Tod in der Neujahrsnacht 1977 musste er dann wegen Überdosen häufig in eine Klinik eingeliefert werden.


WELT ONLINE: Ihre 2002 gestorbene Tante Elisabeth Mann Borgese meinte, das Leben Ihres Vaters sei ein "langsamer Selbstmord" gewesen.


Mann: Bis auf Monika und Elisabeth kann man das von allen sechs Thomas-Mann-Kindern sagen.


WELT ONLINE: Ihr Vater starb, angezogen auf seinem Bett liegend, an einer Überdosis Alkohol und Barbiturate. War es ein Freitod?


Mann: Ich glaube nicht, dass er gezielt eine doppelte Dosis genommen hat. Er spielte schon anderthalb Jahrzehnte lang Russisch-Roulette. Beim zweiten Einnehmen hat er vermutlich nicht mehr gewusst, dass er schon eine Dosis genommen hatte.

WELT ONLINE: 1975 begann Ihr Vater, die bis dahin versiegelten Tagebücher von Thomas Mann zu lesen. Aus dem Eintrag vom 28. September 1918 erfuhr er, dass er ein unerwünschtes Kind war, dessen Abtreibung diskutiert wurde. Hat ihn die Lektüre der Tagebücher umgebracht?

Mann: Wenn ich "umgebracht" definiere im Sinne von "den letzten Rest gegeben", dann: ja.

WELT ONLINE: Wie haben Sie auf die Tagebücher reagiert?

Mann: Bei der ersten Lektüre war ich Mitte 30. Damals hatte ich ein eher negatives Bild von meinem Großvater. Ich dachte, er hätte mich während meiner Pubertät fallen lassen, weil ich nicht mehr der liebreizende kleine Junge war. Ich war völlig überrascht und auch beschämt, dass mein Bild falsch war. Als ich las, wie er bis zum letzten Atemzug zu mir stand, habe ich Abbitte getan.

WELT ONLINE: Ihre aus der Schweiz stammende Mutter Gret bleibt in Ihrer Autobiografie seltsam konturlos. Warum?

Mann: Ich habe kein Bild von ihr. Sie hatte keine Gefühle. Zumindest zeigte sie sie nicht. Sie hat meinen Bruder Toni und mich als Kinder in erster Linie verwaltet. Nach dem Tod meines Vaters habe ich mehrere Annäherungen versucht, denn sie hat es immer mehr oder weniger subtil auf ihn geschoben, dass unsere Eltern mit uns nichts zu tun haben wollten. Ihr letztliches Desinteresse ist aber geblieben.

WELT ONLINE: Ihre Eltern haben von Mutter Teresa ein damals siebenjähriges indisches Findelkind namens Raju adoptiert. Wollten sie sehen, was aus einem Kind wird, das nicht die problematischen Gene von Thomas Mann hat?

Mann: Das ist sicher ein Grund. Dazu kommt eine Art Wiedergutmachung. Ein ausgesetztes Mädchen gütig anzunehmen, sollte vergessen machen, was sie an ihren eigenen Kindern versäumt hatten. Sie haben gar nicht gemerkt, was sie diesem Kind antaten. Ein Waisenkind aus der asiatischen Kultur kommt nach Kalifornien zu einer verrückten deutschen Familie: Mehr Identitätskuddelmuddel gibt es nicht. Die ersten Jahre hat mein Vater Raju gehegt und gehätschelt und auf seine Reisen nach Europa mitgenommen. Später hat er sich sehr viel weniger um sie gekümmert. Nach seinem Tod hat meine Mutter Raju nur noch verwaltet. Und das hieß: essen, essen, essen. Jahrzehntelang konnte sie machen, was sie wollte.

WELT ONLINE: Im Mai letzten Jahres wurde Ihre 90-jährige Mutter tot in ihrem Swimmingpool gefunden. Der Obduktionsbefund lautete: Tod durch Ertrinken. Rätselhaft blieben allerdings die Kratzspuren und Schürfverletzungen im Gesicht der Toten. War es Mord?

Mann: Ich möchte dazu nur so viel sagen: Der Tod meiner Mutter wird für uns immer obskur bleiben.

WELT ONLINE: Waren Sie bei ihrer Beerdigung?

Mann: Nein. Raju hat uns über Dritte telefonisch mitteilen lassen, sie werde anstelle einer regulären Bestattung eine Party mit 60 Leuten veranstalten.

WELT ONLINE: Was macht Ihre Adoptivschwester heute?

Mann: Sie lebt immer noch im Haus meiner Eltern in Orinda bei Berkeley. Das hat sie geerbt. Das Haus ist ziemlich verfallen, aber das Grundstück ist Millionen wert. Sie lebt allein mit ihrer Tochter, denn ihr Mann ist schon vor Jahren ausgezogen.

WELT ONLINE: Raju ist nie einem Beruf nachgegangen. Ist man reich, wenn man an den Rechten von Thomas Manns Büchern partizipiert?

Mann: Allein wäre man es. Aber das teilt sich durch rund zehn Personen.

WELT ONLINE: Es heißt, Sie würden monatlich das Gehalt eines Gymnasiallehrers erlösen?

Mann: So ungefähr.

WELT ONLINE: Ihr Bruder Toni, der zwei Jahre jünger ist als Sie, musste bei seiner Geburt mit der Zange geholt werden. Ein Auge von ihm ist fast blind, und seine Sprechfähigkeit ist eingeschränkt. Was macht er heute?

Mann: Bis zu seiner Frühpensionierung war er Stadtgärtner in Zürich. Mit Ausnahme seines kleinen Wanderkreises ist er völlig ohne Anhang. Er hat unsere Eltern weniger gut verkraftet als ich, weil er nicht die Kompensation durch den Großvater hatte. Bei ihm hatte ich die Liebe, Zärtlichkeit und Anerkennung, die mir meine Eltern versagten.

WELT ONLINE: Hasst Ihr Bruder seinen Großvater bis heute?

Mann: Seine Ablehnung gegen alles, was nur irgendwie mit der Mann-Familie zu tun hat, hält jedenfalls bis heute an.

WELT ONLINE: Was hat den tragödienhaften Niedergang so vieler Mann-Nachfahren bewirkt: Fragwürdige Erziehung oder marode Gene?

Mann: Wie soll man das auseinanderhalten? Hinzu kommt sicher die kulturelle Entwurzelung durch die Emigration nach Hitlers Machtergreifung.

WELT ONLINE: Zwei Schwestern von Thomas Mann haben sich umgebracht. Auf seine aus Südamerika stammende Mutter Julia da Silva-Bruhns anspielend, sagte Thomas Mann einmal, die "seltsame Blutmischung aus Lübeck und Brasilien" sei verantwortlich für die seelischen Malaisen der Familie.

Mann: Tja, eine Schwester von Julia hat auch nach Lübeck geheiratet und elf Kinder bekommen. Von denen ist keines auffällig geworden. Es kann also nicht nur das südamerikanische Blut gewesen. Lübecker Senator plus der Urwald Brasiliens: Das muss das Golden Crossing gewesen sein.

WELT ONLINE: Um seine lähmenden Selbstzweifel zu lindern, nahm Golo Mann vor öffentlichen Auftritten Tranquilizer. Ein Standardsatz von ihm über seine gemütskranke Familie lautete: "Na ja, wir sind alle etwas meschugge, das liegt im Blut." Auch Sie hatten Depressionen, Todessehnsucht und quälende Halluzinationen.

Mann: Mit Anfang 20 machte ich eine immense Krise durch. Ich fürchtete, meinen Verstand zu verlieren. Ich wusste genau, meine einzige Rettung ist, mich geistig völlig neu zu orientieren. In einem langen Prozess konvertierte ich in die katholische Kirche und studierte dann als Laientheologe katholische Theologie. Ich fühlte mich maßlos stolz, ganz Neuling zu sein. Endlich mal ein Mann-Nachfahre, der sich mit etwas völlig anderem beschäftigt: Religion! Ich dachte: Jetzt habe ich etwas, mit dem ich meine Leutchen ärgern kann!

WELT ONLINE: Glauben Sie nach Ihrem Tod Ihren Großvater wiederzusehen?

Mann: Nein. Dieses Religionsverständnis habe ich heute nicht mehr. Wenn es ein Wiedersehen gibt, dann in einer Weise, die man sich nicht vorstellen kann und will.

WELT ONLINE: Sie sind mit der Tochter des Physik-Nobelpreisträgers Werner Heisenberg verheiratet. Hatten Sie je Sorgen, dass Ihr 1968 geborener Sohn Stefan, heute habilitierter Agrar-Wissenschaftler, einen Hau haben könnte?

Mann: Ich dachte immer: Wer weiß, was ich hervorbringe, aus diesem Dunstkreis kommend? Aber Stefan war von Anfang an so ein Prachtkerlchen, dass ich wusste, er fällt aus dem Rahmen - im besten Sinne. Er ist auch sehr der Sohn seiner Mutter. Inzwischen hat er selber drei gelungene Kinder. Ich bin froh, dass bestimmte Gene aus der väterlichen Linie gestoppt scheinen. Hoffentlich für immer.

WELT ONLINE: Was überwiegt bei Ihnen in der Rückschau: Familienfluch und dynastische Erblast oder das Privileg, von einem der berühmtesten Schriftsteller 14 Jahre lang verwöhnt worden zu sein?

Mann: Für mich war Thomas Mann ein größerer Segen als für seine sechs Kinder. Nach 30 Jahren Abgrenzung bin ich ihm heute sehr dankbar. Ich glaube, ich kann es mir langsam wieder leisten, Enkel zu sein.

Frido Mann: Achterbahn. Ein Lebensweg. Rowohlt, Reinbek. 256 S., 19,90 Euro.

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