Es sollte wohl gar kein Witz sein. Jedenfalls sagte einer von zwei YouTubern mit dem Tourette-Syndrom auf einem im September 2020 online gestellten Video mit dem TV-Moderator Kai Pflaume, als er gerade ein Backblech mit Obstkuchen in den Herd schob: „In den Ofen, grüß Anne Frank von mir.“ So etwas mag wohl wirklich die Auswirkung der tückischen Nervenkrankheit sein, die zum unkontrollierten Ausstoßen von Beleidigungen führen kann.
Zum Fall für ein Gericht wurde das erst, als eine gegen Antisemitismus aktive Nachfahrin von Holocaust-Überlebenden die beiden YouTuber als „Nazis“ bezeichnete. Das wiederum kann man nachvollziehen, denn Bemerkungen über Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns sind prinzipiell immer antisemitisch. Schlimm ist, dass diese Bemerkungen bedenkenlos veröffentlicht wurde. Denn speziell Anne Frank (1929–1945) ist vielen Rechtsextremisten, Holocaust-Leugnern und ähnlichen Leuten ein Dorn im Auge.
Das hat natürlich mit der enormen Wirkung zu tun, die ihr vom 12. Juni 1942 bis zum 1. August 1944 verfasstes und erstmals 1947 auf Niederländisch erschienenes Tagebuch seit den 50er-Jahren weltweit entfaltete. Gerade weil es in ihren Aufzeichnungen nicht konkret um die brutale Verfolgung geht, sondern um deren Folgen für ein junges Mädchen in einem engen Versteck, ermöglicht dieser Text eine Beschäftigung mit dem Holocaust jenseits der schier unvorstellbaren Brutalität des Massenmordes.
So weit bekannt, wurde zum ersten Mal ein diffamierender Angriff auf Anne Frank 1958 gedruckt. Der Lübecker Studienrat Lothar Stielau, der zur rechtsextremen Deutschen Reichspartei gehörte, veröffentlichte in der „Zeitschrift der Vereinigung ehemaliger Schüler und der Freunde der Oberrealschule zum Dom“ einen Artikel, in dem es hieß: „Die gefälschten Tagebücher der Eva Braun, der Königin von England und das nicht viel echtere Tagebuch von Anne Frank haben den Profiteuren der deutschen Niederlage gewiss einige Millionen eingebracht, uns dagegen aber empfindlich getroffen.“
WELT AM SONNTAG reagierte darauf mit einer „Antwort an einen Studienrat“, verfasst von dem Schriftsteller Ernst Schnabel: „Was soll man nun eigentlich scheußlicher finden – die Infamie, mit der dieser deutsche Lehrer Hitlers Geliebte und Hitlers Opfer in einem Atemzuge nennt? Die Heimtücke, die in der Bemerkung von den Nutznießern der deutschen Niederlage steckt? Oder die Feigheit, die er beim Versuch, sich aus der Schlinge zu ziehen, beweist?“
Dieser letzten Vorwurf bezog sich auf eine Äußerung Stielaus, wonach er nicht habe bezweifeln wollen, dass Anne Franks Tagebuch echt sei. Das „Hamburger Abendblatt“, das damals wie WELT AM SONNTAG zum Verlag Axel Springer gehörte, hatte diesen Leserbrief abgedruckt. Stielau wies nun darauf hin, dass der Herausgeber des Tagebuchs, Anne Franks Vater Otto, angab, den Text redigiert und leicht gekürzt zu haben.
Das traf zu und war immer bekannt, stand nämlich schon im Vor- oder Nachwort verschiedener Ausgaben und änderte vor allem an der Echtheit des Textes gar nichts. Es handelte sich vorwiegend um sehr persönliche Bemerkungen des Mädchens über seine Mutter und die Ehe der Eltern, die Otto Frank weggelassen hatte. Nichts, was den Gehalt des Tagebuchs irgendwie veränderte.
Vater Frank hatte Anfang 1959 Strafanzeige gegen Stielau erstattet. Nach ausführlicher Prüfung der handschriftlichen Originale befand die Lübecker Justiz, dass das Tagebuch echt sei, womit eine Anklage gegen Stielau möglich wurde. Der widerrief seine Äußerungen und kam ungeschoren davon. Doch die Saat des Zweifels war gesät und trieb seither immer wieder hässliche Blüten.
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1967 erschien in den USA eine Broschüre, der zufolge das Tagebuch ein „Hoax“ sei, eine Fälschung. Acht Jahre später attackierte der britische Holocaust-Leugner David Irving, der damals vielfach noch als ernstzunehmender Historiker galt, Anne Frank und ihre Aufzeichnungen. Im gleichen Jahr 1975 veröffentlichte ein gewisser Heinz Roth Broschüren mit Titeln wie „Anne Franks Tagebuch – eine Fälschung“ und „Anne Franks Tagebuch – Der Große Schwindel“. Otto Frank erwirkte im folgenden Jahr eine einstweilige Verfügung gegen ein weiteres Pamphlet Roths mit dem Titel „Das Tagebuch der Anne Frank – Wahrheit oder Fälschung?“
Abermals wies das Bundeskriminalamt die Echtheit der Aufzeichnungen forensisch nach. Roth legte zwar ein „Gutachten“ des französischen Literaturwissenschaftlers Robert Faurisson vor, das zum entgegengesetzten Ergebnis kam, aber von Sachverständigen Punkt für Punkt widerlegt wurde. Faurisson, damals noch Dozent in Lyon, entwickelte sich bald darauf zum bekanntesten französischen Holocaust-Leugner.
Im August 1980 starb Otto Frank im Alter von 91 Jahren. Er hinterließ die Originalschriften seiner 1945 im KZ Bergen-Belsen elendig zugrunde gegangenen Tochter dem Niederländischen Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien, einem hoch renommierten staatlichen Archiv. Gestützt auf dieses Original, erschien 1986 eine wissenschaftlich-kritische Ausgabe, die vollständig sein sollte.
Wie die Öffentlichkeit erst 32 Jahre später erfuhr, war das nicht ganz richtig, denn seinerzeit mussten zwei Seiten ausgelassen werden, die Anne selbst mit braunem Packpapier überklebt und damit unlesbar gemacht hatte. Erst 2018 konnte mit modernster digitaler Fototechnik der Inhalt dieser Seiten sichtbar gemacht werden. Es handelte sich um vier schlüpfrige Witze und um eine Passage über Sexualität. Für März 2023 ist eine komplett neu bearbeitete und dann wirklich vollständige historisch-kritische Ausgabe angekündigt, herausgegeben vom Präsidenten des Deutschen Historischen Museums Berlin, Raphael Gross.
Gleichgültig, was Rechtsextremisten im Netz und auf sozialen Medien behaupten: Das Tagebuch von Anne Frank ist echt. Es gibt Texte in verschiedenen Bearbeitungsstufen und mit Korrekturen, die aber mit genau zwei Ausnahmen (nämlich Anstreichungen ihres Vaters mit blauem Kugelschreiber) alle nachweislich von der Autorin selbst stammen. Wer sich mit Anne Frank beschäftigt, sollte das wissen. Witze oder Wortspiele über sie sind ohnehin in jeder Form unangemessen – genauso wie über jedes andere Opfer des Holocaust.
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