1 Erziehung wozu? Warum diese Frage unweigerlich zu einer philosophischen wird

Wenn wir daran gehen, junge Menschen zu erziehen, und all das tun, was man zu diesem Zwecke so tut oder zu tun geheißen wird, kann uns die Frage überfallen: Ist es denn auch das Richtige, was wir hier tun? Doch das Richtige, gemessen woran? Durch unser Tun sollten die zu Erziehenden – zumindest so viel liegt in unserem Begriff von Erziehung – besser werden, als sie ohne Erziehung oder durch andere Erziehung werden könnten. Aber besser in welcher Hinsicht? In ihrer Funktionstüchtigkeit für das Leben in Wirtschaft und Gesellschaft? Im Zuwachs ihrer Kompetenzen, wie das heute so schön heißt? Doch wenn wir über all diese Dinge im Zweifel sein sollten, ist nicht zumindest klar, wohin wir uns wenden müssten, um uns Klarheit zu verschaffen? An die Bildungsexpertinnen und -experten der OECD z. B., die ja ihre Kompetenz längst unter Beweis gestellt haben im Errechnen der für die Führung eines erfolgreichen Lebens in der heutigen Gesellschaft erforderlichen Kompetenzen.

Die Frage, die uns überfallen hat, könnte aber auch ganz anders lauten, nicht ob wir das Richtige, sondern ob wir das wirklich Wichtige tun. Und das wirklich Wichtige wäre: Werden die jungen Menschen, die wir auf diese Weise erziehen, auch zu besseren Menschen, besser in ihrem Menschsein? Es mag ja sein, dass unsere Bildungsexpertinnen und -experten davon überzeugt sind, dass sie tatsächlich nichts anderes wollen, als die Kinder und Jugendlichen zu besseren Menschen werden zu lassen. Aber wenn man sie befragen würde, worin denn dieses Bessere im Menschsein bestehe, könnte es ihnen ergehen wie seinerzeit den Experten, von denen Platon im Dialog Laches berichtet, jenem Dialog, den man auch heute noch lesen sollte, wenn man sich vergegenwärtigen will, warum wir im pädagogischen Geschäft, sobald wir ernsthaft zu fragen beginnen, sehr bald ins Philosophieren und philosophierend an unsere Grenzen geraten.

Ausgangspunkt des Dialogs ist die Sorge zweier attischer Väter um die Erziehung ihrer Söhne: Diese sollen zu möglichst guten Männern im Sinne der aristokratischen Tugendvorstellungen werden. Die beiden Väter erwägen deshalb, ihre Söhne von einem Fechtmeister, dem Hoplomachen, in der Kunst des Fechtens-in-voller-Rüstung unterrichten zu lassen. Doch zuvor wollen sie sich durch zwei Fachleute, die Feldherren Laches und Nikias, über den Nutzen dieses Unterrichts beraten lassen. Sie ziehen – auf deren Wunsch und mit freudiger Zustimmung ihrer Söhne – auch noch Sokrates hinzu. Wie sich bald zeigt, sind sich die beiden Feldherren völlig uneins über die Vorteile und Nachteile der Kunst des Hoplomachen. Durch das Eingreifen von Sokrates nimmt der Dialog dann die auf das Grundsätzliche zielende Wendung. Die Entscheidung in einer solch strittigen Frage fordert Sachverstand. Wer aber ist der für diese Frage zuständige Fachmann? Da es darum gehen soll, dass Kinder und Jugendliche zu guten Menschen werden, kann dies nicht ein Fachmann im Fechten sein, sondern einer, der sich auf das ‚Gutsein‘ (die arete) der Seele versteht, ein „‚Kunstverständiger‘ in Behandlung der Seele“Footnote 1, wie Sokrates ihn bezeichnet. Nur dieser könnte beurteilen, ob die Fechtkunst zum Bessersein der Seele beiträgt. Ein solcher „Kunstverständiger“ aber will sich nicht finden lassen. Es bleibt darum nichts anderes übrig, als selbst zu bestimmen, worin das Gutsein der Seele besteht. Angesichts der Schwierigkeit dieser Frage beschränkt man sich auf eine scheinbare Teilfrage, die Frage, was denn eigentlich Tapferkeit sei, die ja einen Teil dieses ‚Gutseins‘ ausmache und jeden Soldaten auszeichnen müsste.Footnote 2 Bei allen Antworten, die von den nunmehr examinierten Feldherren gegeben werden, zeigt jedoch Sokrates, dass keine der Prüfung standhält. Das Gespräch endet, wie es so endet, wenn man an Sokrates gerät, nämlich ergebnislos, mit dem Eingeständnis des Nichtwissens.Footnote 3 Und der gesuchte Lehrer ist noch immer nicht gefunden.

Alle Beteiligten sind sich zwar einig darin, dass Sokrates selbst der gesuchte Lehrer wäre. Doch er weist dies weit von sichFootnote 4 – er habe sich nicht als guter Lehrer erwiesen und könne es auch nicht sein, denn er habe nie das Geld gehabt, sich einen Lehrer für sich selbst zu besorgen und aus eigener Kraft habe er noch nicht zu dieser Kunst gefunden.Footnote 5 Sokrates erklärt sich aber dazu bereit, das Gespräch an einem anderen Tag fortzusetzen. Ob er sich wohl erhofft, dass dies am Ende doch noch zu einem Resultat führen wird? Dann wäre er nicht jener Sokrates (der frühen platonischen Dialoge), dessen einziges Wissen darin besteht, nichts zu wissen.Footnote 6 Wozu soll dann ein Gespräch überhaupt gut sein, wenn man am Ende doch nie wissen kann, worin das wahrhaft Gute besteht? Die Antwort auf diese Frage gibt uns Sokrates in der Apologie, seiner Verteidigungsrede vor dem Asebiegericht, vor das man ihn wegen angeblicher Gottlosigkeit gestellt und das ihn dann auch verurteilt hat. Wir haben, sagt er dort, die Wahrheit über das Gute nicht, aber wir können uns um diese Wahrheit bemühen. Gerade dies sei darum „das größte Gut für den Menschen […] [,] täglich über die Tugend sich zu unterhalten und über die anderen Gegenstände, über welche ihr mich reden und mich selbst und andere prüfen hört“Footnote 7; ein Leben ohne Selbsterforschung aber verdiene nicht gelebt zu werden.

Ein geprüftes Leben führen, dies allein ist es, worauf es ankommt. Wir sind nicht Wissende, aber Freunde des Wissens, nicht sophoi, aber philosophoi. Inbegriff einer solchen immerwährenden Prüfung ist das, was im sokratischen Sinn philosophieren heißt. Da es dabei um nichts weniger als um die Frage geht, was ein menschliches Leben ausmacht und wie man dahin gelangen kann, ein menschliches Leben führen zu können, ist die Philosophie, die diesem Philosophieren entspringt, was dann John Dewey von ihr behaupten wird: Theorie der Erziehung in ihrer allgemeinsten Gestalt.Footnote 8 Dies zeigt, warum der Titel Bildungsphilosophie in die Irre führt. Bildungsphilosophie, die diesen Namen verdient, ist nicht irgendeine Spezialdisziplin der Philosophie, sondern die Philosophie selbst. Man kann dies an kaum einem Philosophen unserer Zeit so gut aufzeigen wie an Karl Jaspers.Footnote 9

2 Warum die Philosophie von Karl Jaspers in sich selbst schon Bildungsphilosophie ist

Karl Jaspers hat das pädagogische Erbe von Sokrates so getreu wie kaum ein anderer Philosoph in unsere Zeit getragen. Um dies zu sehen, genügt es nicht, nur auf das zu achten, was sich in seinem Werk unter einschlägigen Stichworten wie Bildung und Erziehung zusammentragen lässt, auch wenn dies allein schon einen stattlichen Band ergibt, wie die Textauswahl von Hermann Horn aus dem Jahr 1977 zeigt.Footnote 10 Man muss – mit Blick auf das sokratische Erbe – sein philosophisches Werk als Ganzes ins Auge fassen.Footnote 11 Ich kann dies alles allerdings bloß andeuten und konzentriere mich auf drei Aspekte seines Philosophierens:

  1. 1.

    Jaspers und das sokratische Nichtwissen

  2. 2.

    Worauf es ankommt

  3. 3.

    Warum Philosophie, Politik und Erziehung dasselbe Ziel haben

2.1 Jaspers und das sokratische Nichtwissen

An die Grenze zu gehen, war treibendes Motiv in Jaspers Denken.Footnote 12 Die Grenze, um die sein Denken von Anbeginn kreist, ist die Grenze, vor der jeder steht, der, wie Sokrates, den ‚kleinen‘ Unterschied zu machen weiß zwischen dem, was man wissen, und dem, was man nicht wissen kann.

Für Jaspers ist unbestritten: Es gibt eine Realität und es gibt Dinge, die man wissen kann. Keiner kann Philosoph sein, der sich nicht um dieses Wissen bemüht – dem methodisch disziplinierten Erkenntnisweg folgend, den die neuzeitlichen Wissenschaften gewiesen haben. Sein Wissensdrang trieb ihn dazu, dass er – seiner Neigung zur Philosophie zum Trotz – erst Jura, dann Medizin studierte und sich in Psychopathologie spezialisierte.

Doch wer entschieden und ernsthaft wissen will – und eben darum ging es Jaspers –, weiß auch um die Grenze, an der unser Nichtwissen beginnt. Dieses Nichtwissen ist nicht das zufällige Noch-nicht-Wissen im aktuellen Prozess des Erkennens, das mit weiterer Anstrengung, anderer Methode oder nochmaligem Nachdenken morgen schon überwunden sein kann. Es ist ein prinzipielles Nichtwissen, das uns unüberwindbar umgibt.

Jaspers sieht drei solcher Grenzen: Die erste und wohl die entscheidendste ist die Grenze, die ihm Kant eröffnet hat. Er deutet sie auf seine Weise: Wissenschaft ist immer partikular und perspektivisch, sie erkennt nur bestimmte Gegenstände in der Welt, aber nie die Welt als ganze. Hinter jedem Horizont eröffnet sich ein weiterer Horizont, bis ins Unendliche. Dies gilt auch für uns selbst. Wir können immer nur Teilaspekte unseres Daseins erkennen, aber wir wissen nie, wer oder was wir letztlich, im Ganzen unseres Wesens sind. Wir sind immer mehr, als wir von uns wissen und von uns wissen können. Bewusst machen können wir uns dies durch einen einfachen Gedanken: Soweit unser Bewusstsein reicht, finden wir uns vor als auf irgendwelche Gegenstände gerichtet, die wahrgenommen, gedacht, hervorgebracht und beurteilt werden. Wenden wir den Blick zurück auf den Fragenden selbst, werden wir gewahr, dass es Gegenstände nur geben kann für ein dieser Gegenstände sich bewusst werdendes Subjekt und dass es ein Subjekt nur geben kann durch die ihm gegenüber stehenden Gegenstände, kurz, dass alles, was für uns Gegenstand wird, uns nur im Medium der umfassenden Subjekt-Objekt-Spaltung gegeben sein kann. Diese aber können wir nie verlassen, wir sind, solange wir denken, immer schon in dieser Spaltung. Das erkennende Ich bleibt das Auge, mit dem wir sehen, aber das sich selbst nicht sieht. Auf die zweite Grenze aufmerksam gemacht wurde Jaspers durch seinen verehrten Lehrer, den Soziologen Max Weber. Sie besteht in der Kluft zwischen Sein und Sollen. Wissenschaft kann nur erkennen, was der Fall ist, aber sie wird uns nie sagen können, was der Fall sein soll und was wir wollen sollen. So kann keine Wissenschaft uns sagen, warum überhaupt Wissenschaft sein soll. Die dritte Grenze hat Jaspers selbst aufgezeigt: Es ist der Umstand, dass wir uns in Situationen wiederfinden, die wir nicht verändern und denen wir nie entkommen können. Situationen dieser Art sind: dass wir nicht leben können, ohne zu leiden, zu kämpfen und uns schuldig zu machen, dass wir immer in Situationen verstrickt sind und dass wir sterben müssen. In diesen Grenzsituationen, wie Jaspers sie nennt, sind wir mit all unserem Weltwissen und all unseren Techniken am Ende. Was uns als Letztes unabwendbar bleibt, sind Scheitern und Leiden.

Genau besehen sind diese drei Grenzen aber nur Erscheinungsweisen ein und derselben Grenze, die uns Menschen als Menschen umgibt. Sie werfen Fragen auf, die wir mit den Erkenntnismitteln unseres Verstandes nicht beantworten können.

Zum einen ist es die Frage nach dem Ursprung des Seins überhaupt: Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? Zum anderen ist es die Frage nach uns, nach dem Fragenden selbst: Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Die Radikalität dieser Fragen verunmöglicht es, sie voneinander zu trennen: Der Ursprung von allem müsste ja auch mein eigener Ursprung sein, der Ort, von dem ich komme und zu dem ich gehe. Die Grenze, an die wir mit solchen Fragen stoßen, zeigt sich, wie bei Sokrates, nicht darin, dass wir keine Antworten zu geben wüssten, sondern dass sich alle diese Antworten, wenn wir sie weiter zu denken versuchen, zuletzt immer wieder als unhaltbar, als widersprüchlich, tautologisch oder zirkelhaft erweisen.

2.2 Worauf es ankommt

Wer existentiell oder philosophierend an die Grenze gestoßen ist, für den ist das Bewusstsein da, dass es ein Jenseits dieser Grenze geben muss, dass die erkennbare „Welt nicht alles, nicht Sein an sich, nicht das Letzte ist“Footnote 13. In Jaspers’ Begriff des UmgreifendenFootnote 14 findet dieses Seinsbewusstsein seinen adäquatesten Ausdruck. Das Sein, das wir in der natürlichen Einstellung für das eigentliche halten, kann nur Teil sein eines umfassenden Ganzen, das wir nie durchschauen und nie gänzlich überschauen können, weil wir dieses Ganze immer nur von innen her, von unserem Standpunkt her sehen. Es ergeht uns wie dem von Geburt in einer Höhle Gefangenen, wenn ihm bewusst wird, dass es eine unendliche Welt außerhalb der Höhle geben muss. Er weiß zwar nicht, was diese Welt ist und ob sie in ewiges Dunkel gehüllt ist oder lichtvoller als jedes Licht in der Höhle. Der Glaube aber, dass es eine Welt voller Licht sein muss, und dass alles, was leuchtet in der Höhle, von dorther sein Licht empfängt, kann wie eine Befreiung wirken und ungeahnte Freiheit verheißen:Footnote 15 Dort erst ist die eigentliche Wirklichkeit. All das, was ihn in seiner Höhlenwelt bestimmt und beengt, die Interessen und Bedürfnisse seines leiblichen Daseins, die vorgegebenen Zwecke und die abstrakten Gebote, haben dort keine absolute Geltung mehr.

Gewonnen ist damit keine neue Erkenntnis, die man besitzen und als Lehre mitteilen kann. Wenn mir dies zur Gewissheit wird, ändert sich jedoch meine Grundeinstellung, „es geschieht“, wie Jaspers dies ausdrückt, „ein Ruck in mir, der meine Haltung zu allem Gegenständlichen […] wandelt“Footnote 16. Was sich verändert, das bin ich selbst: Ich selbst werde zu einem anderen. Diese innere Umkehr – Revolution der Denkungsart, wie Kant sie genannt hat – ist der Punkt, an dem das philosophische Denken, aber auch jeder moralische und politische Wandel erst beginnt. Es ist die Art von Umkehr, von der nicht nur die Religion, sondern auch die Philosophie spricht, so exemplarisch Platon im Höhlengleichnis: Die an ihre Stühle gefesselten Menschen in der Höhle müssen befreit und umgedreht werden, damit sie erkennen, dass das, was sie bisher für Wirklichkeit hielten, nur Schatten einer ganz anderen Wirklichkeit sind. Von dem Licht des hinter ihnen lodernden Feuers geblendet vermögen sie aber zunächst überhaupt nichts zu sehen, und dann erst recht nichts, wenn sie das Licht der Sonne erblicken. Es ist diese Blendung, in die Sokrates seine Zuhörer in ihrer Ratlosigkeit versetzt, und in die uns Jaspers mit seiner Schärfung des Grenzbewusstseins versetzen will.

Wie aber kommen wir als Geblendete dazu, in der neuen Wirklichkeit zurechtzukommen? Die Antwort von Jaspers ist durch und durch sokratisch: Die Philosophie kann uns keine neuen Augen einsetzen, sie kann uns nur ermutigen, die Augen zu öffnen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, ob wir das, was wir nunmehr sehen, für Anzeichen jener anderen Wirklichkeit halten wollen oder nicht. Und was es zuvorderst und an erster Stelle zu sehen gilt, das bin ich selbst – wer ich in Wahrheit bin. Gnothi seauton, erkenne dich selbst, lautet der bekannte delphische Spruch. Aber da ich nicht einfach und ein für alle Mal schon bin, sondern als ein der Zeit unterworfenes Wesen immer nur werde, heißt erkennen, wer ich bin, Gewissheit darüber erhalten, was aus mir werden soll, wofür ich leben und – pathetisch ausgedrückt – auch sterben will.

Doch wer oder was sagt mir, was ich wollen soll? Als sokratisch geschulter Grenzgänger weiß ich: Niemand in dieser Welt, keine Instanz und keine Person, kann mir dies sagen. Verlockende Stimmen gibt es zwar genug, die mir glückverheißende Lebensziele vorgaukeln: Um Reichtum gehe es, um Macht, Ruhm und Ehre und dergleichen mehr. Doch mein Grenzwissen sagt mir: Alle diese Ziele taugen nichts. Sie sind an Bedingungen geknüpft, die nicht in meiner Macht stehen und die mir im Augenblick vielleicht gegeben, aber jederzeit wieder genommen werden können. Trügerischer noch, sie gelten selbst nur bedingt; unter der Bedingung nämlich, dass sie meinem Glücksverlangen dienen. Wahrhaft Geltung haben kann aber nur, was ich bedingungslos, d. h. unbedingt will. Nur wenn es kein Um-zu und kein Wenn-dann mehr gibt, keine Spaltung mehr zwischen mir und meinen Gründen, bin ich ganz bei mir selbst. Und nur so erfahre ich mich auch als Grund meiner selbst und mithin als frei.

Das philosophische Schulbeispiel für diese Art von Unbedingtheit ist Kants kategorischer Imperativ als Faktum der Vernunft: bei allem, was ich tue, zu prüfen, ob die Maxime meines Handelns zu einem allgemeinen Gesetz, zu einem Gesetz für alle werden könne, und jedes Handeln zu unterlassen, das diese Bedingung nicht erfüllt. Die Unbedingtheit dieser Stimme der Vernunft zu hören und zu verstehen, ist jedoch eines, ein anderes, ihr bedingungslos, selbst wenn noch so große Daseinsinteressen auf dem Spiel stehen, auch zu folgen. Dieses andere, das erst unsere Moralität ausmacht, ist der gute Wille, von dem wir nie wissen, ob es ihn je schon gegeben hat, und von dem der Einzelne, gerade dann, wenn er ihn zu haben glaubt, am weitesten entfernt ist.

Sich um diesen guten Willen zu bemühen, ist unabdingbar für ein Leben in Unbedingtheit. Doch der kategorische Imperativ allein genügt nicht. Er bestimmt nur die Form unseres Handelns, er warnt uns, wie das Daimonion des Sokrates,Footnote 17 wenn wir etwas Falsches zu tun beabsichtigen, aber er sagt nicht, was wir wollen sollen. Gegenstand meines Wollens kann nur etwas inhaltlich Positives sein: die Aufgabe für mich in dieser Welt, das, was ich liebe, das, von dem ich will, dass es sei – nicht für diesen oder jenen Zweck und nicht aus diesem oder jenem Grund, sondern grundlos – unbedingt eben. Wenn feststeht, was ich unbedingt will, kann ich vielleicht auch feststehen in einer Situation, in der es darauf ankommt. So wie Luther im Reichstag zu Worms: Hier stehe ich, ich kann nicht anders – so wie Jaspers selbst: In der schlimmsten Nazizeit hat er an seiner unverbrüchlichen Treue zu seiner jüdischen Frau festgehalten, trotz Verlust seines Amtes, seiner Wirkungsmöglichkeiten und der jederzeit möglichen, am Ende des Krieges kurz bevorstehenden Deportation.

Doch wie erlangt ein Mensch diese Gewissheit und Festigkeit? Auch dies wissen wir nicht. Objektiv gesehen bleibt für den Einzelnen immer ungewiss, was denn dieses Eine ist, das in Unbedingtheit zu lieben ihm aufgegeben ist. Und dennoch kann ihm auf unerklärbare Weise gewiss werden, was er will – als ob eine innere Stimme zu ihm spräche. Ausdruck dafür, dass diese Stimme nicht bloß subjektiv, nicht bloß Einbildung ist, sondern – gleichsam von außen kommend – Objektivität beansprucht, sind überkommene Wendungen wie: Es ist das, was die Gottheit mit mir will, was das Schicksal mir bestimmt hat.Footnote 18

Nur, was die Gottheit will, weiß – im objektiven Sinn – keiner. Und allzu leicht täuschen wir uns selbst, ob wir wirklich das Unbedingte wollen und dies auch in Unbedingtheit wollen. Darum brauchen wir das Gespräch mit dem geliebten Menschen, der mit uns um das Unbedingte auch in seinem Leben ringt und in radikaler Offenheit immer wieder gegenhält, wenn wir es uns zu leicht machen wollen. Existentielle Kommunikation nennt Jaspers diese Form des Gesprächs. Sie ist das Medium jeder Selbsterziehung.

Wenn der ,Aufschwung‘ gelingt, so die wiederkehrende Formel von Jaspers, ist es, als ob ich mir selbst geschenkt würde.Footnote 19 Denn immer ist ja auch die gegenteilige Erfahrung möglich: dass ich ‚mir ausbleibe‘, dass ich ratlos bleibe und nicht weiß, was ich eigentlich will. ‚Mir geschenkt werden‘ bedeutet: Ich bin, was ich bin und sein will, nicht durch mich selbst – so wenig wie ich durch mich selbst in die Welt gekommen bin. In dem Maße, wie ich mir meiner selbst bewusst werde, werde ich mir darum auch jenes Anderen bewusst, durch das ich bin: der Transzendenz, aber nicht als abstraktem Gedanken, sondern als einem in mir wirkenden Sein – als eine Wirklichkeit eben. Es ist, als ob die innere Gewissheit darüber, was für mich unbedingt gilt, noch einmal überstrahlt würde durch das Licht einer ganz anderen, in dieser Gewissheit aufscheinenden Wirklichkeit. Und wenn mir, in der Grenzsituation, alles entgleitet, was bisher zu gelten schien, und ich verzweifelt frage, wofür und wozu ich noch leben will, kann ich vielleicht in dieser Gewissheit und in diesem Vertrauen auch den Halt wiederfinden, der mich über alle Bodenlosigkeit hinweg trägt.

Doch ist dies alles nicht allzu heroisch eingefärbt, allzu sehr nur eine Angelegenheit von Ausnahme-Existenzen? Jaspers würde dies vehement bestreiten. Nach dem zu suchen, was wir in Unbedingtheit wollen, und so zu dem zu werden, der wir sind: dies ist der Anspruch, den er in seinem Philosophieren an alle und über alles stellt. Und er mutet jedem zu, diesem Anspruch auch gerecht werden zu können. Diesen Anspruch zu hören und ihm zu folgen, macht uns erst zu dem, was Jaspers Existenz nennt. Aber da wir, als zeitliche Wesen, mit dieser Aufgabe nie fertig sind, spricht er immer nur von möglicher Existenz. Wir sind nicht Existenz, wir werden es erst, und dass wir es werden, ist keine Notwendigkeit, sondern eine Möglichkeit – die Möglichkeit eines jeden Menschen, Unbedingtheit in sein Leben zu bringen. Und diesem Unbedingten durch ständige Wiederholung des einmal gefassten Entschlusses Dauer zu verleihen.

Die zu Beginn dieses Beitrags gestellte Frage – was es heißt, besser zu werden im Menschsein – hat hier ihre Antwort gefunden. Zu einem Menschen zu werden, der er selbst ist, darauf allein kommt es an. Daran zu erinnern, ist Aufgabe der sokratisch-jaspers’schen Philosophie. Sie öffnet uns den Blick für das, was Menschen über alle Zeiten hinweg als unbedingten Anspruch erfahren und worin sie ihren Glauben gefunden haben. Zugleich weist sie jede Philosophie in ihre Schranken, die sich anmaßt, ein Wissen zu haben von dem, was jenseits der Grenze liegt, und über Gott, Freiheit und Welt sprechen zu können glaubt, als wären dies Gegenstände einer möglichen Erkenntnis. Ihren Wert haben solche Spekulationen allein darin, dass sie uns chiffernhaft zu verstehen geben können, an was wir vernünftigerweise glauben dürfen.

Zur Illustration dieses Gedankens mag eine schöne Stelle aus Platons Phaidon dienen, die schon den jungen Jaspers beeindruckt hat.Footnote 20 Sokrates hat lange über die Unsterblichkeit der Seele gesprochen und fügt am Ende hinzu:

Daß sich nun dies alles gerade so verhalte, wie ich es auseinandergesetzt habe, das ziemt sich wohl einem vernünftigen Manne nicht zu behaupten; daß es jedoch, sei es nun diese oder ähnliche Bewandtnis haben muß […] – dies, dünkt mich, zieme sich gar wohl und lohne auch zu wagen, daß man glaube, es verhalte sich so. Denn es ist ein schönes Wagnis, und man muß mit solcherlei gleichsam sich selbst besprechen.Footnote 21

Dieser Appell des Sokrates bringt uns den sokratischen Geist nochmals ein Stück näher: Auf welchen Glauben hin man sein Leben wagen kann, eben dies ist die große Frage. Was ich glaube, bestimmt am Ende auch, wie ich mit mir selbst umgehe und wer ich selbst bin. Sorge um sich selbst, epimeleia tes psyches, hat Sokrates darum dieses gemeinsame, permanente Ringen um sich selbst genannt. Es ist das, was Jaspers unter Selbsterziehung versteht.

2.3 Warum Philosophie, Politik und Erziehung dasselbe Ziel haben

Selbstprüfung, Selbstsorge, Selbsterziehung – mit welchen Formeln wir den Sinn des Philosophierens auch einholen mögen, sie scheinen weit entfernt vom alltäglichen pädagogischen Geschäft und den gesellschaftlich-politischen Verhältnissen, wie sie nun einmal sind. Unter welchen Voraussetzungen kann ein solches sokratisches Gespräch überhaupt stattfinden? Gibt es nicht auch äußere Bedingungen existentieller Freiheit? Jaspers hat am eigenen Leib erfahren, was es heißt, unter einem totalitären Regime zu leben, das jede Freiheit erstickt. Seine Devise nach diesen Erfahrungen war klarer noch als zuvor: Ich kann nur frei sein, wenn auch die anderen frei sind. Keine innere Freiheit ohne politische Freiheit. Darum gibt es nur eine Alternative, jene nämlich, die uns auch heute wieder auf den Nägeln brennt: entweder Demokratie oder Totalitarismus.

Das eigentlich Vernichtende des Totalitarismus liegt darin, dass er die Lüge zum Prinzip erhebt. Indem er die Macht über die Wahrheit stellt, sind Lüge und Wahrheit nicht mehr unterscheidbar, das Sprechen wird selbst schon zur Täuschung, es geht nur noch darum, wie man den anderen vernebeln und betrügen kann, mit der Folge, dass schließlich jeder auch sich selbst vernebelt.

Wahrheit und mit ihr auch Freiheit kann es nur geben durch Verwirklichung des dem Totalitären radikal entgegengesetzten Prinzips: des Prinzips der Demokratie. Jaspers denkt dabei nicht an institutionelle Fragen, nicht an eine spezifische Staatsform, sondern an jene Regierungsart, die Kant die ‚republikanische Regierungsart‘ genannt und der ‚despotischen‘ als radikalen Gegensatz gegenübergestellt hat.Footnote 22 Demokratie als ‚republikanische Regierungsart‘ ist eine Idee, ein regulatives Prinzip, wie Kant sagen würde, das zu realisieren uns aufgegeben ist, das wir aber immer nur graduell und nie vollkommen realisieren können. Als Gegenprinzip zum Totalitarismus bejaht Demokratie alles, was dieser verneint: Sie will nicht Täuschung, sondern Wissen, nicht nützliche Irrtümer, sondern Wahrheit, selbst dort, wo diese unbequem ist und schmerzt. Ihr erster Kampf ist darum der Kampf gegen die Lüge in all ihren Formen.

Bedingungsloses und umfassendes Erkennen- und Wissen-Wollen muss aus diesem Grund oberstes Ziel des demokratischen Staates sein. Wer aber sagt uns, was wahr und was wichtig ist? Es gibt keinen, der es schon wüsste, und darum müssen wir uns alle gemeinsam auf die Suche begeben. Jaspers antwortet damit auf die provozierende These Platons, dass es kein Heil für die Staaten und die Menschen in ihnen gebe, wenn nicht die Philosophen, d. h. jene, die die Einsicht in das Gute besitzen, Könige oder die Könige Philosophen sind. Platon, so seine Antwort, hat recht, ohne Verbindung von Politik und Philosophie kein Heil im Staat, aber diese Verbindung muss auch das Volk erfassen, „dergestalt daß es […] ein Volk von Philosophierenden wird“Footnote 23.

Dies ist nun seinerseits eine provozierende These. Verständlicher wird sie nur, wenn wir beachten, dass Jaspers hier Philosophie nicht im Sinne einer Fachwissenschaft versteht, „die von Philosophieprofessoren an den Universitäten betrieben wird“ – diese „Schulphilosophie“ sei ein bloßes „Hobby“Footnote 24 von Spezialisten, die nur für Spezialisten schreiben – gemeint sei vielmehr das Philosophieren, das Sache eines jeden Menschen sei, denn jeder philosophiere, „ohne daß er sich dessen bewusst ist, ohne es selber Philosophie zu nennen“Footnote 25. Was wir brauchen, sei allein, dass wir noch „besser philosophieren lernen“Footnote 26. Dann würden wir „gleichzeitig menschlich und politisch besser.“Footnote 27

Doch worin besteht dieses Besserwerden im Philosophieren? Jaspers’ Antwort klingt zunächst bescheiden: Es bedeute nichts anderes, als einsichtiger, ernsthafter, vernünftiger zu werden. Aber dieser Anspruch ist hoch. Zum Vernünftigerwerden gehört in Bezug auf das politische Denken all das, was wir über die individuelle Selbsterziehung erfahren haben: Schärfung des Grenzbewusstseins, Abkehr von bloßer Interessenorientierung und reinem Zweckdenken und Hinwendung zu dem, was Jaspers ‚das Überpolitische‘ nennt: die Bindung an unverbrüchliche, Einheit stiftende und Menschen dauerhaft verbindende Prinzipien. Mit einem Wort also: die philosophische Umkehr auch im Politischen.

Wie aber soll Vernunft in die Welt kommen, wenn es, wie in der Demokratie, keine Menschen gibt, welche die Wahrheit schon haben und sich Erzieher des Volkes nennen dürfen? Der demokratische Staat macht aus dieser Not seine Tugend: Weil es keinen gibt, der die Erzieher und Erzieherinnen erziehen könnte, bleibt seinen Bürgern und Bürgerinnen nur eines übrig – sie müssen sich gemeinsam selbst erziehen. „Selbsterziehung“ ist wiederum Jaspers’ Schlüsselwort, wenn er von demokratischer Erziehung spricht, „Selbsterziehung“ ist aber auch Inbegriff jeder demokratischen Politik, denn diese setze nicht nur Selbsterziehung voraus, sie sei in sich selbst schon eine „Selbsterziehung zur Vernunft“Footnote 28.

Demokratische Selbsterziehung beginnt mit dem Anspruch, den der Einzelne nicht an den Staat, sondern an sich selbst stellt. Und niemand ist davon ausgenommen, denn jeder und jede ist zur Selbsterziehung fähig, da dies allein eine Frage des Wollens und nicht der Begabung sei. Begabung sei nur von Belang, wo es um die „Ausbildung zum Zwecke technischen Könnens“ gehe, aber diese dürfe nicht verwechselt werden mit der allein durch Selbsterziehung möglichen „Erweckung zum eigentlichen Menschen“Footnote 29.

Ist ein solcher unbedingter Glaube an den Menschen nicht jenseits aller Realität? Verfehlt wäre er in der Tat, wenn er dem Menschen gelten würde, wie er faktisch ist. Doch Jaspers redet hier nicht deskriptiv, sondern appelliert an das, was der Mensch aus sich selbst heraus noch werden kann. Und was aus dem Menschen werden kann, weiß niemand im Voraus, wir wissen es auch von uns selbst nicht. Der Einzelne bekommt es nur auf eine Weise zu wissen: indem er es mit diesem Besserwerden versucht. Dies gilt auch für die Demokratie: Sie muss immer wieder neu gewagt werden. Für Jaspers ist dies die einzig mögliche Antwort auf den „unauflösbaren Knoten“ der Demokratie, dass Demokratie die Vernunft im Volk immer schon voraussetzen muss, „die sie erst hervorbringen soll“Footnote 30. Dieses Dilemma ist eine der Antinomien unseres Daseins, die es zu ertragen gilt und der wir nur auf eine Weise begegnen können: indem wir, selbst wenn alles aussichtslos erscheint, weiterhin an die Vernunft glauben und so mithelfen, dass Vernunft in die Welt kommt – an dem Punkt, an dem wir uns gerade befinden.

Bei allem Nachdruck auf die unabdingbare Gleichheit der Menschen in einer Demokratie, auf Gleichheit der Rechte und Gleichheit der Chancen, verkennt Jaspers nicht, dass es zwischen den Menschen unaufhebbare Ungleichheiten gibt: Ungleichheiten in Bezug auf die natürlichen Anlagen, die Kraft persönlicher Existenz, auf ethische Verlässlichkeit, sittliche Qualität der Urteilskraft und die Vernunft.Footnote 31

Aus diesen faktischen Ungleichheiten erwachsen die unverkennbaren Rangunterschiede zwischen den einzelnen Menschen. Niemand zwar hat das Recht, einen solchen Rangunterschied gegenüber anderen für sich selbst einzufordern. Doch Redlichkeit verlangt, dass wir diese Unterschiede dort, wo sie sich zeigen, auch anerkennen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir uns Höherrangigen unterwerfen und unser Schicksal in ihre Hände legen. Wir wenden uns ihnen zu, um durch sie – wie Jaspers dies ausdrückt – zu erfahren, was wir selbst wollen, um in „Liebe zum Besseren“, das aus ihnen spricht, „kräftiger“ zu werden in der „Liebe zum Größeren“Footnote 32 in uns selbst. An den Besten soll uns erfahrbar werden, was uns selbst wichtig ist. Auslese der „Besten in allen Bereichen des Lebens“Footnote 33 müsse darum die Hauptsorge einer Demokratie sein.

Doch ist dies nun nicht wieder Personenkult oder – schlimmer gar – „Menschenvergötterung“Footnote 34? Gegen diesen Einwand spricht nicht nur Jaspers’ Mahnung, wir sollten auch in großen Menschen nicht mehr sehen als Menschen wie wir selbst,Footnote 35 sondern auch seine fundamentale Überzeugung, was Selbstbestimmung überhaupt erst ermöglicht: Der Mensch, der meint, sich unmittelbar aus sich selbst bestimmen zu können, unterliegt einer Täuschung, er verwechselt Freiheit mit Willkür. Was ihn führt, ist immer umfassender als alles, was er selbst erkennen und begründen kann. Es tritt von außen an ihn heran, als eine Macht, die ihn zugleich in seinem Innern ergreift und trägt. Was aus dem Einzelnen – und auf großartige Weise aus dem großen Menschen – spricht, ist darum immer mehr als er selbst, es sind die Glaubensmächte, in deren Dienst er steht. Was uns zum anderen hinzieht – oder von ihm abstößt – ist nicht der andere als solcher, es ist die Gemeinsamkeit oder die Verschiedenheit der ihn bestimmenden Mächte.Footnote 36

Die Traditionen, in denen wir stehen und mit denen wir aufgewachsen sind, überpolitisches Ethos und die Idee der Demokratie mögen als Beispiele dienen für solche übergreifenden, unser Leben und Denken bestimmenden geistigen Mächte. Wo diese unmittelbare innere Zustimmung finden, werden sie zu dem, was Jaspers „Autorität“ nennt. Ohne Ehrfurcht vor einer Autorität, so sein pädagogisches Credo, ist „keine Erziehung möglich“, sie ist die „Substanz aller Erziehung“Footnote 37 – Ehrfurcht herrsche darum in jeder Form von Erziehung, sei es Ehrfurcht vor der Persönlichkeit des Lehrers in der Meistererziehung, Ehrfurcht vor der Tradition in der scholastischen Erziehung oder Ehrfurcht vor der Idee des unendlichen Geistes in der sokratischen Erziehung.

Die letztere, die sokratische Erziehung ist – universalisiert – das Modell der demokratischen Selbsterziehung. Ihrer bedürfen wir, wenn Autoritäten für uns zweifelhaft werden und wir ihre Ansprüche in Frage zu stellen beginnen. In einer Zeit wie der heutigen, in der alle bisherigen, fraglos akzeptierten Autoritäten zerbrochen sind, ist die Ehrfurcht vor der sokratischen Erziehung für Jaspers die einzig mögliche Antwort auf die „Schicksalsfrage“ der „politisch freien Welt“, auf die Frage nämlich, wie in dieser Welt eine Autorität wirksam werden kann, „die die Freiheit in sich schließt“, eine neue „Gemeinschaft des Glaubens an die Möglichkeit menschlicher Daseinsordnung“ zu stiften, und die „zur Freiheit und Verantwortung aller erzieht“Footnote 38.

3 Was sich daraus an pädagogischen Konsequenzen ergibt

Mit dem Hinweis, dass „alle große Politik […] eine Selbsterziehung zur Vernunft“Footnote 39 sei, ist es nicht getan. Der Selbsterziehungsprozess muss auf Dauer gestellt werden. Damit dies gelingen kann, gibt es, wie Jaspers betont, in einer Demokratie nichts Wichtigeres als die Erziehung der nachfolgenden Generationen. „An dieser Erziehung hängt die Demokratie und die Freiheit und die Vernunft. Nur durch diese Erziehung kann der geschichtliche Gehalt unseres Daseins bewahrt werden und als fortzeugende Kraft unser Leben in der neuen Weltsituation erfüllen.“Footnote 40

Wie aber müsste die schulische Erziehung zur Selbsterziehung konkret aussehen? Was dies für die wichtigste Institution der demokratischen Wahrheitssuche, die Universität, bedeutet, hat Jaspers in seinen Schriften zur Idee der Universität wiederholt dargelegt.Footnote 41 Was die Schulen betrifft, sei hier in Kürze nur auf die Grenzen pädagogischen Wirkens hingewiesen. Es sind dies zunächst die Grenzen jeder Erziehung überhaupt. Ähnlich wie das Pflegen sei das Erziehen eine Art des Wirkens, die zwischen der freien Kommunikation und dem technischen Machen liege: „[D]as Andere wird zwar noch als Objekt behandelt, aber zugleich in seinem Eigenwesen anerkannt“Footnote 42. Man wartet „auf eine Ursprünglichkeit im Anderen […]; dem Erzogenen gegenüber erwachsen Ziele und Methoden durch ein Hinhorchen und Sichleitenlassen von ihm, ohne daß er es weiß.“Footnote 43 Darin liegt die „Grenze dieses Handelns“: „Die Eigenständigkeit des Anderen bleibt Bedingung des zweckhaften Zielsetzens seitens dessen, der pflegt oder erzieht.“Footnote 44 Ein „neues Offenbarwerden der Eigenständigkeit seines Gegenstandes“Footnote 45 kann ihn veranlassen, nicht nur die Methode, sondern auch sein Ziel zu ändern. Der Ausgang seines Tuns ist darum immer ungewiss, ungewiss insbesondere auch darum, weil der Mensch „als geschichtliches Wesen sich mit jeder Erfahrung, die er macht, und deren er sich bewußt wird, auch selbst wandelt, darum sich selbst kein festes Objekt wird“, sondern sich „in unberechenbarer Weise ändert“Footnote 46.

Wo es schließlich um Selbsterziehung geht, hängt alles davon ab, wie „die Geistigkeit der Ideen“Footnote 47 in die Situation des Einzelnen hineinwirkt und was er in Freiheit aus sich selbst macht. Hier bleibt für die Lehrenden das immer wieder neue Wagnis „in andauernder, sich stets erneuernder und wandelnder Fühlung“Footnote 48 mit ihren Schülerinnen und Schülern. Dies macht Erziehung zur Selbsterziehung vollends unberechenbar, entgegen der als selbstverständlich vorausgesetzten Annahme einer in linearem „Kausalzusammenhang“ denkenden Pädagogik – „als ob der Erziehende schon wüßte, was die rechte Erziehung sei, welchen Inhalt sie habe und wie sie zu planen sei.“Footnote 49 Auch die Lehrenden – darin liegt einmal mehr die schon erwähnte Not der Demokratie – können nicht schon als erzogen gelten, auch sie haben sich dem „Selbsterziehungsprozeß aller“Footnote 50 zu unterziehen.

Die Voraussetzung, der Lehrer sei erzogen und gebe als Fertiger an die unfertigen Kinder weiter, ist im ganzen so absurd wie die Voraussetzung, das Volk der Erwachsenen sei erzogen und urteile daher über alle Dinge recht. Nur der erzieht, der noch erzogen wird in der Selbsterziehung vermöge der Kommunikation. Nur der wird recht erzogen, der zu dieser Selbsterziehung erzogen wird im Medium strengen und hartnäckigen Lernens.Footnote 51

Dieser „Zirkel von Erziehen und Erzogenwerden“ wird auch nicht fruchtbarer dadurch, dass man – in gesteigertem „Erziehungsbetrieb“ – mit immer neuen Reformen und Methoden aufwartet. Fruchtbar wird er nur – so Jaspers’ Grundüberzeugung –, „wenn er erfüllt ist von dem Gehalt des Glaubens, Wissens und Könnens“Footnote 52. „Gehalt des Glaubens“ ist der umfassende Glaube an den Menschen und an die Vernunft, und mit „Wissen und Können“ ist jene „Klarheit des Wissens“ gemeint, die den Lehrer in die Lage versetzt, jeden Einwand zuzulassen und „in freier Diskussion Rede und Antwort zu stehen“Footnote 53.

Das Entscheidende aber geschieht nach Jaspers immer nur indirekt – in der Philosophie ohnehin,Footnote 54 aber auch in der Erziehung, denn das Entscheidende ist „das Bild des Menschen, all das, was nicht geradezu gelehrt, sondern in der Lehre durch Vorbild und durch die Auswahl des Lern- und Übungsstoffs verwirklicht wird“Footnote 55. Was erzieht, ist darum nicht die auf Psychologie sich stützende Didaktik, sondern das bei der Sache selbst Sein: getragen von der geglaubten Autorität des überlieferten Gehalts.Footnote 56 Und was ist dieser überlieferte Gehalt? Die Antwort von Jaspers: Die „tiefsten menschlichen Gehalte in reinster Form und einfachster Fassung“Footnote 57 sind für uns Europäer noch immer die des ersten, des griechischen Humanismus. Mit den Schriften und der Kunst des Altertums, aber auch mit der Bibel, vertraut zu werden, sei darum auch heute noch der Weg abendländischer Erziehung.

Diese These ist keine nostalgische Verbeugung eines alternden Professors vor dem sogenannt humanistischen Gymnasium – dessen Realgestalt Jaspers übrigens nur in schlechtester Erinnerung hatte –; aus ihr spricht die Einsicht, dass der ganze Reichtum der Gedanken, aus denen wir leben, sich diesem europäischen Denken verdankt. Dessen Wichtigkeit für uns zeigt sich voll und ganz aber erst in Kenntnis der alternativen Wege, die zeitgleich, aber unabhängig von Europa, vorderasiatische, indische und chinesische Denker gegangen sind, mit denen sich Jaspers intensiv auseinandergesetzt hat, lange bevor man in der westlichen Welt von interkultureller Philosophie zu sprechen begann. Die Frucht dieser Arbeit ist seine These von der Achsenzeit, jener, gemäß seiner Beobachtung, zwischen 800 und 200 v.Chr. liegenden Periode in der Geschichte der Menschheit, in der in China, in Indien, in Vorderasien und Europa mit den ersten großen Denkern und Religionsstiftern die Menschheit zu erwachen beginnt und von dort aus im Verlauf der Jahrhunderte die ganze Welt zu ergreifen vermag. Das Neue dieses Zeitalters sieht er in allen diesen Kulturen darin,

daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. Er erfährt die Furchtbarkeit der Welt und die eigene Ohnmacht. Er stellt radikale Fragen, drängt vor dem Abgrund auf Befreiung, Erlösung. Indem er mit Bewusstsein seine Grenzen erfaßt, steckt er sich die höchsten Ziele. Er erfährt die Unbedingtheit in der Tiefe des Selbstseins und in der Klarheit der Transzendenz.Footnote 58

In jener Zeit, mit anderen Worten, beginnt die Umkehr und das neue Seinsbewusstsein, von dem zu Beginn dieses Beitrags die Rede war. Es wurden die Kategorien hervorgebracht, in denen wir heute noch denken, und die Fragen gestellt, die uns auch heute bewegen. Wo immer die Freiheit im einzelnen Menschen neu erwacht, wird er sich konfrontiert sehen mit seinen eigenen, aus diesem Denken erwachsenen Traditionen und sich entscheiden müssen, wie er zu ihnen steht: ob sie ihn gleichgültig lassen, ob er sich ihnen unterwerfen oder sie sich zu eigen machen will – sofern er ihnen in Freiheit glaubt folgen zu können. Dieser Prozess der bewussten Aneignung des aus den achsenzeitlichen Ursprüngen sich fortzeugenden Philosophierens ist, wenn man so will, der Selbsterziehungsprozess der Menschheit im großen Maßstab, an dem teilzunehmen jeder Einzelne zu seiner Zeit und an seinem Ort sowohl genötigt als auch aufgerufen ist. Seine eigene Selbsterziehung beginnt damit, dass er diesem Ruf folgt.