1 Der Dualismus von Mehrheit und Opposition

a) Funktionswandel des Parlamentarismus

Demokratie, verstanden als unmittelbare Volksherrschaft wie im antiken Athen, galt in Flächenstaaten über viele Jahrhunderte als unmöglich: Da könne das Volk ja nicht zusammentreten. Erst neue Vorstellungen, wie sie sich mit dem Anspruch des englischen Unterhauses entwickelten, für das ganze Land zu sprechen, brachen den Bann. Es waren dies

  • das Prinzip einer „Repräsentation“, bei der das Handeln von Vertretern einer größeren Gesamtheit zugerechnet und von dieser als legitim akzeptiert wird (Weber 1922, S. 171)Footnote 1 – Repräsentanten können vollgültig anstelle der Repräsentierten entscheiden (Marschall 2018, S. 23 ff.).

  • zum zweiten das freie Mandat der Abgeordneten, das sie von zuvor üblichen Instruktionen ihrer örtlichen Basis entband und damit die Voraussetzung für ein handlungsfähiges und dem Ganzen verpflichtetes Parlament schuf.

  • Drittens setzte sich seit der Opposition Bolingbrokes im England des frühen 18. Jahrhunderts die Vorstellung einer legitimen Opposition mit dem akzeptierten Ziel der Regierungsübernahme durch – weder Rebellion (in den Augen der Regierenden) noch Widerstand gegen illegitime Herrschaft (im Selbstverständnis der Oppositionellen) (Kluxen 1956, S. 1 ff., 158 ff.).

Gemeinsam machten es diese drei Erfindungen möglich, politische Differenzen in zivilisierten Formen auszutragen und eine parlamentarische (= von der Parlamentsmehrheit abhängige) Regierung zu etablieren. Das bedeutete viel – allerdings noch nicht Demokratie. Denn das Wahlrecht zum britischen Unterhaus blieb noch lange auf Minderheiten beschränkt. Parlamentarische Repräsentation stellte somit ein institutionelles Gehäuse dar, das erst später durch die englischen Wahlrechtserweiterungen demokratisiert wurde – ähnlich wie in den USA und Frankreich, die sich schon 1787/88 bzw. 1791 RepräsentativverfassungenFootnote 2 gegeben hatten, aber erst viel später von Zensuswahlrecht und Sklaverei Abschied nahmen. Demokratie im Flächenstaat wurde somit Wirklichkeit in Form der repräsentativen Demokratie. Wo sie heute besteht, da überall in dieser Form. Das repräsentative Prinzip dominiert auch dort, wo Volksentscheide eine ergänzende Rolle spielen – die Schweiz mag als Sonderfall gelten.

Je mehr repräsentative Legitimation von Wahl abhängt, desto mehr wird auch Responsivität eingefordert, d. h. Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft gegenüber den Fragen und Problemen der Wählerschaft. In diesem Zusammenhang mutieren die Abgeordneten zu „Politikvermittlern“ (Knaut 2011, S. 61, 103), die Forderungen entgegennehmen, Entscheidungen erklären und deren Kommunikationsnetze in die ganze Gesellschaft reichen sollten.

Dementsprechend steht im heutigen Deutschland das Parlament, der Bundestag (in den Bundesländern die Landtage), im Zentrum der politischen Institutionen. Er ist als einziges Bundesorgan direkt vom Volke gewählt, verfügt damit über die entscheidende demokratische Legitimation und erfüllt folgende Funktionen (in Anlehnung an Thaysen 1976, S. 12 f.):

  • Er ist es, der die personelle Besetzung aller anderen zentralstaatlichen Organe direkt oder indirekt vornimmt, teilweise gemeinsam mit Vertreter/-innen anderer Organe (Wahlfunktion).

  • Seiner Kontrolle unterliegt das Regierungshandeln (Kontrollfunktion).

  • Ihm obliegt, bei Mitwirkung des Bundesrats, die Gesetzgebung (Legislative Funktion).

  • Er soll den im Volke vorhandenen Meinungen Ausdruck geben (Artikulationsfunktion).

Entscheidend dafür, in welcher Weise diese Aufgaben tatsächlich erfüllt werden, ist jedoch die veränderte Rolle des Parlaments im parlamentarischen Regierungssystem. Einst primär Volksrepräsentation gegenüber einer obrigkeitlichen Regierung, stellt nun das Parlament selbst, genauer: die Parlamentsmehrheit, durch Personen ihres Vertrauens, die Regierung. Diese wirkt im Sinne des Principal-Agent-Modells als „agent of the assembly majority“ (Matthew Shugart zit. nach Blumenthal 2009, S. 14). Anstelle klassischer Gewaltenteilung existiert, wie schon Bagehot konstatierte, eine „nearly complete fusion, of the executive and legislative powers“ (Bagehot 1963, S. 65). Anstelle eines Dualismus von Gesamtparlament und Regierung („alter Dualismus“) ist damit ein „neuer Dualismus“ von Parlamentsmehrheit (einschließlich Regierung) und parlamentarischer Opposition getreten. In dessen Rahmen stehen für die Parlamentsmehrheit die Wahl- und Gesetzgebungsfunktion im Vordergrund, für die Opposition hingegen Kontrolle und Artikulation.

Eine solche Dualität hat sich in der Weimarer Republik nicht entfalten können. Sie war infolge der Stärke antidemokratischer Parteien ausgeschlossen, welche auch die demokratischen Kräfte außerhalb der Regierung immer wieder zwang, diese zumindest „tolerierend“ zu stützen; anders als in der Bundesrepublik. Günstige Bedingungen hierfür bildeten die seit 1947 deutliche Konfrontation zwischen den beiden großen Parteien sowie die Schwäche extremistischer Parteien. Zwar blieb die sozialdemokratische Opposition angesichts des „Wirtschaftswunders“ zahlenmäßig abgeschlagen (1949–60), schlug dann aber den Weg zur Regierungsmacht über eine Politik der Gemeinsamkeiten und einer Großen Koalition ein (1960–69) und erreichte 1969 erstmals den Regierungswechsel (Friedrich 1962). Auch 1982 und 1998 konnte eine der beiden großen Parteien mit kleineren Koalitionspartnern die andere in der Regierung ablösen. Das Modell alternativer Regierung und Opposition hatte sich eingespielt (vgl. Tab. 7.1).

Mit einer koalitionsunfähigen Partei, der PDS bzw. der Linken, ist das alternative Modell seit einigen Jahren infrage gestellt. Nachdem man 1994 an einer parlamentarischen Schlüsselstellung dieser Partei knapp vorbeigeschrammt war, trat dieser Fall 2005 und 2013 tatsächlich ein. 2017 ist mit der AfD eine weitere, von keiner Seite als möglicher Koalitionspartner angesehene Partei in den Bundestag eingezogen. Die Folge: Hinreichend homogene Koalitionsbildungen zwischen den übrigen Parteien sind unwahrscheinlich geworden, große und inhomogene Koalitionen sowie Minderheitsregierungen wahrscheinlicher. Überdehnte Kompromisszwänge zehren an regierenden Parteien, die Opposition ist inkohärent und ohne Mehrheitschancen. Dies bewog die Mehrheit, der schwachen Opposition im Bundestag 2013–17 durch Ausnahmeregelungen zu mehr Effektivität zu verhelfen, indem bereits 120 Abgeordnete hinreichten, um einen Untersuchungsausschuss oder eine Subsidiaritätsklage vor dem Europäischen Gerichtshof u. a. durchzusetzen (Cancik 2017, S. 534). Angesichts großer Koalitionen machte die Rede von einer „Auflösung des Dualismus“ Regierungsmehrheit/Opposition die Runde (Niclauß 2015, S. 417, 426). Ob die Koalition von 2021 die Schwalbe ist, die noch keinen Sommer macht?

b) Parlamentarische Verhaltensmuster von Mehrheit und Opposition

Allgemein, nicht allein in Deutschland, bilden Regierung, Regierungsfraktionen und Spitzen der Ministerialbürokratie eine politische Handlungseinheit. Regierungsfraktionen leben von Vorlagen der Regierung und Informationen aus Ministerien, ihre Mitglieder decken in Plenum und Ausschüssen des Bundestages die Regierung. Selbst die Unterscheidung zwischen Regierungs- und Fraktionsvorlagen im Bundestag ist zuweilen nur formaler Natur:

„Es wurden Fälle beobachtet“, berichtet Domes schon über die Praxis der Jahre 1953– 61 (wie sie auch heute noch geübt wird), „in denen Regierungsentwürfe tatsächlich aus den Kreisen der Abgeordneten der Mehrheitsfraktion angeregt und recht weitgehend vorberaten werden konnten, andererseits gibt es im Untersuchungszeitraum Initiativentwürfe der Mehrheitsfraktion, zu denen die bedeutsamsten Anregungen aus den Verwaltungsapparaten bestimmter Ministerien kamen“ (Domes 1964, S. 135).

Die Opposition steht grundsätzlich vor der Frage, sich primär auf den Austrag öffentlicher Kontroversen oder mehr auf Beeinflussung der Regierungspolitik zu konzentrieren. Die Antwort bestand meist in einer gemischten Strategie der großen Oppositionsparteien. Der Konfliktaustrag bei hochrangigen Fragen blieb dabei stets erhalten. So hat selbst die kompetitive SPD-Opposition im 1. Deutschen Bundestag nur 14,1 % aller Gesetzesvorlagen abgelehnt, im Übrigen durch Mitarbeit Gesetzesinhalte auch beeinflussen können (Kralewski und Neunreither 1963, S. 84 ff., 168 ff.). Während der kooperativen Opposition Anfang der sechziger Jahre erhöhte sich der Anteil der Gesetzesvorlagen, die auch die Zustimmung der SPD fanden, auf über 90 % (Loewenberg 1969, S. 465). Die SPD-Fraktion konzentrierte sich auf „eine Modifikation der Politik in den Ausschüssen“ des Bundestages (Hereth 1969, S. 16).

Ähnlich die CDU/CSU-Opposition 1969–82: Sie stimmte anfänglich – bei Auseinandersetzungen um die Ostpolitik – etwa 93 % aller Gesetzesvorlagen im Bundestag zu. In der Rolle einer „Opposition als Gesetzgeber und Mitregent“ scheiterte sie allerdings insofern, als die eigenen Gesetzentwürfe erfolglos blieben und ihre Mitarbeit in den Bundestagsausschüssen kaum Einfluss eröffnete (Veen 1976, S. 48, 65, 76 f., 187, 191, 202). Mehr Berücksichtigung fand sie erst, als eine Mehrheit unionsgeführter Länder im Bundesrat bestand. Dies bedeutete allerdings auch Mitverantwortung für ungeliebte Gesetze: Wie hätte man eine Steuerreform scheitern lassen können, wenn sie neben Ungewünschtem zugleich Steuersenkungen für breite Schichten enthielt?

Eine andere, auf totale Konfrontation abzielende Oppositionsstrategie haben dann ab 1983 die neu in den Bundestag eingezogenen Grünen verfolgt. Wenn 1983–90 nur noch 15–17 % der verabschiedeten Gesetze einstimmig beschlossen wurden (Schindler 1994, S. 845 f.), war das eine der Auswirkungen ihrer Opposition. Für die Sozialdemokraten in der Ära Kohl hingegen hat sich mit zunehmendem Gewicht SPD-geführter Regierungen im Bundesrat langsam eine Konstellation entwickelt, die sie aus der völligen Machtlosigkeit erlöste, ab Mitte der neunziger Jahre aber vor die Alternative Blockade oder Mitverantwortung stellte; einiges ließ man nun scheitern. Gegenüber der rot-grünen Regierung Schröder 1998–2005 praktizierte die CDU/CSU zunächst eine konfrontative Opposition, wenngleich es in Sachen Kosovo-Politik auch oppositionelle Stützungen der Regierung gegenüber grüner Kritik gab. Ab Februar 1999 wuchs aber die Anzahl christdemokratisch geführter Landesregierungen und dementsprechender Stimmen im Bundesrat mit der Folge, dass sich die beiden großen Parteien Verhandlungen zu manchen Sachfragen nicht verschließen konnten (Helms 2000, S. 529 ff.). Das ist bis heute so.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Befugnisse des Bundesrates und die Rolle des Bundestages als Ausschussparlament rein konfliktorientierten Oppositionsstrategien entgegenwirken. Bei oppositionsgeführter Mehrheit im Bundesrat entsteht Kooperationsdruck, der eine Opposition um klare Konturen bringen kann.

Tatsächlich kann die Bundesrepublik angesichts von Verhältniswahlrecht und Mehrparteiensystem keine Mehrheitsdemokratie à la Großbritannien sein. Aber in diesen Grenzen trug man der neuen Dualität Rechnung:

  • Konnten im Bundestag einst Regierungsmitglieder jederzeit zu Worte kommen, ohne dass ihre Redezeit auf die der Regierungsfraktionen verrechnet wurde (was der alten Dualität Regierung/Parlament entsprach), so ist letzteres seit 1972 nicht mehr der Fall (Blischke 1984, S. 62).

  • Seit 1969 sieht die Geschäftsordnung des Bundestages vor, dass die Rednerfolge auch dem Grundsatz aufeinander folgender „Rede und Gegenrede“ entsprechen und nach Regierungsmitgliedern eine „abweichende Meinung“ zu Wort kommen sollFootnote 3.

  • Handhabbarer für die oppositionelle Minderheit sind auch die Kontrollrechte des Bundestages gestaltet worden.

Inkonsequent blieb die verbreitete Sprechweise von „Legislative“ und „Exekutive“, die dem alten Dualismus entspricht. Irritierend blieb, dass in den Köpfen der Abgeordneten der Dualismus von Regierungsmehrheit und Opposition nur wenig Anklang fand. Wohl sahen, so eine Umfrageuntersuchung von 1988/89, 85 % der Bundestagsabgeordneten, dass der Dualismus die Wirklichkeit bestimme – doch nur 34 % wünschten ihn auch (Herzog et al. 1990, S. 103 ff.)Footnote 4. Ein ähnliches Parlamentsverständnis trat 1994 bei befragten Bundestags-, Landtags- und Europaabgeordneten zutage (Patzelt 1996, S. 471)Footnote 5. Derzeit relevant ist dies alles nicht, da infolge des veränderten Parteiensystems seit 2005 auch die parlamentarische Wirklichkeit eine andere geworden ist.

2 Die Organisation des Fraktionenparlaments

a) Aufgaben und Kapazitätsgrenzen der Abgeordneten

Prüft man, wie und wieweit der Bundestag seine Funktionen erfüllt, so muss man seine vor allem zeitlichen Kapazitätsgrenzen berücksichtigen (Bergner 2018, S. 127). Auszugehen ist hier von der Arbeitssituation seiner Mitglieder, der einzelnen Abgeordneten. Sie sind, ähnlich wie die Mitglieder von Landes- und Kommunalparlamenten, in zwei, teilweise drei verschiedene Handlungsfelder eingespannt:

  • einerseits in die Arbeit im Parlament: Dort sieht sich der/die Abgeordnete einer Flut von Drucksachen des Deutschen Bundestages (Gesetzentwürfen, Anträgen, Berichten etc.) gegenüber, je vierjähriger Wahlperiode etwa 12 000 Stück unterschiedlichster Größe (z. B. Bundeshaushaltsplan mit über 3 000 Seiten), die das Parlament zu verarbeiten hat. In der 19. Legislaturperiode waren es gar über 31 000 Drucksachen.

  • andererseits in die außerparlamentarische politische Öffentlichkeit, d. h. vor allem im Wahlkreis (auch die große Mehrheit der Landeslistenabgeordneten kandidiert in einem Wahlkreis oder hat einen solchen zu „betreuen“). Kontakte mit örtlichen Parteifreunden, Bürgern und Journalist/-innen sind Routine. Dazu gehören, wie ein Abgeordneter berichtete, die „abendlichen Versammlungen und sonntäglichen Frühschoppen im Wahlkreis. Dort muß man über alle Fragen der Politik reden […]. Emsiges Studium der Lokalpresse gehört zur Alltagsexistenz, trotz regionaler Pressekonzentration sind dies in meinem Wahlkreis 10 Zeitungen pro Tag.“ (Sperling 1976, S. 18)

Für einen Teil der Abgeordneten kommt noch in einem Beruf ausgeübte Tätigkeit hinzu. Das gilt vor allem für Freiberufler und Selbstständige (wie Rechtsanwälte/-innen und Landwirte/-innen), aber auch für manche Angestellte in Wirtschaft und Organisationen. Unabhängig davon fungieren gewöhnlich hunderte Abgeordnete als Vorstandsmitglieder oder Ähnliches. Arbeitszeiten wie in Tab. 7.2 wurden bei Befragungen von Bundestags-, Landtags- und Europaabgeordneten 2005 und 2011 genannt (Pontzen 2013, S. 180 ff., 293): Danach kommt man im Bundestag auf 65,7 Wochenstunden (außerhalb der Sitzungswochen 52,8), in Landtagen auf 60,6 h (bzw. 51,1) und im Europäischen Parlament auf 58,6 h (bzw. 50,6).Footnote 6 Nach einer weiteren Abgeordnetenbefragung beträgt die mandatsbezogene Arbeitszeit bei Bundestagsabgeordneten 59–67, bei Landtagsabgeordneten 47–58 Wochenstunden (Best und Jahr 2006, S. 67)Footnote 7. Eine erhebliche Beanspruchung wird sichtbar. Vor allem fällt ins Auge, wie wenig Zeit für informative und innovative Tätigkeiten verbleibt. Vor dem Hintergrund dieser Zeitknappheit sind auch die Informationsbeschaffung mithilfe von Mitarbeiter/-innen, wissenschaftlichen Diensten und Interessenvertreter/-innen sowie die fraktionsinterne Arbeitsteilung zu sehen (Bergner 2018, S. 230, 239, 257, 280, 339). Der/Die Abgeordnete erscheint primär als Sitzungs- und Veranstaltungsteilnehmer/-in, als Kontaktpfleger/-in und Konsensbeschaffer/-in. Er/Sie ist im Parlamentsalltag in einen „Diskussionsmarathon“ der immer wieder die gleichen Themen behandelnden Gremien eingebunden, während von ihm/ihr im Wahlkreis das „Wunder der Allgegenwart“ erwartet wird (Blüm 1976, S. 24).

Tab. 7.1 Regierungskoalition und Opposition Zahl der Bundestagsmandate (bis 1990 ohne Berlin) bzw. der Regierungsmitglieder der Parteien
Tab. 7.2 Das Zeitbudget der Bundestagsabgeordneten (in Stunden je Woche)

Zerrissen zwischen der Rolle als lokaler Zaunkönig, Akteur im parlamentarischen Prozess und teilweise privat Nebentätige/-r kann ein Abgeordneter/eine Abgeordnete also nur einen Teil seiner/ihrer Arbeitskraft auf die Arbeit im Parlament verwenden. Hinzu kommt, dass die Qualifikationen, die ihn/sie zu Nominierung und Wahl verhelfen, keineswegs zu parlamentarischer Arbeit prädestinieren. Erst durch „training on the job“ arbeitet er bzw. sie sich in die Abgeordnetenrolle ein (Patzelt 1997, S. 72).

b) Entlastung durch Arbeitsteilung und Hilfsdienste

Immerhin entlastet Arbeitsteilung die Abgeordneten. Zunächst: Der Bundestag ist in Ständige Bundestagsausschüsse gegliedert, die zumeist dem Zuständigkeitsbereich eines Bundesministeriums entsprechen. Nach der Zahl seiner Ausschüsse gehört der Bundestag im Kreise der 21 OECD-Länder zum obersten Viertel der Parlamente – ein Indiz für seine Rolle als Ausschussparlament (Schnapp 2004, S. 279)Footnote 8. Die Ständigen Ausschüsse bearbeiten alle einschlägigen Vorgänge, um dem Bundestagsplenum fertige Entwürfe zur abschließenden Entscheidung vorzulegen. Jede/-r Abgeordnete gehört nur einem bis zwei Ausschüssen an, möglichst solchen, an deren Aufgaben er/sie aufgrund beruflichen Hintergrunds oder politischer Neigung besonders interessiert und versiert ist. Als bedeutend und attraktiv gelten der Auswärtige und der Haushaltsausschuss – letztgenannter vor allem wegen seiner Karriereoption und seiner Macht: „Die Kanzlerin kann beschließen, was sie will. Die Ministerien können Gesetzesvorlagen ausarbeiten. Die Parteien können sich einig sein. Aber sobald es um Zahlen und Ausgaben geht, kommt am Haushaltsausschuss niemand vorbei. Dort werden die großen Richtungen beschlossen, es wird beschleunigt und abgebremst, es wird wenig gestritten und viel gedealt, es gibt Gewinner und Verlierer; kein Minister und nicht einmal die Kanzlerin ist befugt, hier steuernd einzugreifen. […] Und er darf, auch das eine Besonderheit, sämtliche Minister vorladen. Die wiederum tun gut daran, den Einladungen Folge zu leisten. […] Kein Ausschuss trägt deshalb auch so viel Selbstbewusstsein vor sich her“ (Dausend und Knaup 2020, S. 70 f.). Gering geschätzt ist dagegen etwa der Petitionsausschuss; in erstgenannten sammeln sich alte Hasen, im letztgenannten abgedrängte Neulinge (Münzing und Pilz 2001, S. 67 f.; Pilz 2007, S. 17).

Außerdem setzt der Bundestag Sonderausschüsse für bestimmte Fragen ein, auch Enquetekommissionen (bestehend aus Abgeordneten und bis zu neun von den Fraktionen ausgewählten Sachverständigen) zur Klärung komplexer Themen wie digitaler Gesellschaft, nachhaltigem Wirtschaften und künstlicher Intelligenz. Obwohl die politische Auswahl der Sachverständigen deren Unabhängigkeit relativiert und die kommissionsinternen Scheidelinien politische sind, verschaffen diese Kommissionen die Chance, wissenschaftliche Expertise aufzunehmen (Altenhof 2002, S. 336 ff.). Auch Anhörungen von Expert/-innen durch Bundestagsausschüsse können dem dienen. Allerdings, dies gilt nur eingeschränkt, wird doch zwischen politisch gewünschtem „Beratungswissen“ und „akademischem Wissen“ unterschieden – das eine wird „ausgehandelt“ (Korinek und Veit 2014, S. 265; Buzogány und Kropp 2014) und soll politischer Entscheidung dienen, das andere der Wahrheitsfindung. Parlamentarische Kontrollinstrumente stellen die Untersuchungsausschüsse dar, die mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen – etwa zur Endlagerung Gorleben oder zur rechtsextremistischen Terror-Untergrundgruppe NSU.

Welche Stellung die Ausschüsse in der Arbeitsorganisation des Bundestages einnehmen, wird aus Abb. 7.1 und Tab. 7.3 deutlich.

Abb. 7.1
figure 1

Das arbeitsteilige Fraktionenparlament 2018. (Quelle: www.bundestag.de [Abruf: 17. Februar 2018])

Tab. 7.3 Der Bundestag – Organe und Tätigkeit

Innerhalb der Fraktionen bestehen für die verschiedenen Sachgebiete der Politik „Arbeitsgruppen“ bzw. „Arbeitskreise“. Während erstgenannte bei den großen Fraktionen nahezu spiegelbildlich dem Zuschnitt der Ständigen Bundestagsausschüsse entsprechen, umspannen die Arbeitskreise größere Politikfelder. In diesen Gremien klärt man die eigene Position ab, insbesondere für Sitzungen der Bundestagsausschüsse, und entwickelt Vorlagen für die Fraktion.

Trotz solcher Arbeitsteilung wären die einzelnen Abgeordneten inhaltlich kaum hinreichend gerüstet. Zwar kann man im Bundestagsausschuss Ministerialbeamte befragen. Aber darf man erwarten, von ihnen Informationen zu erhalten, die der Linie ihres Ministers/ihrer Ministerin entgegenstehen? Der Bundestag hat sich daher von gouvernementaler Information unabhängig zu machen gesucht. Ein großer Schritt in dieser Richtung wurde während der Großen Koalition 1966–69 unternommen, als sich die Mehrheit in einem distanzierteren Verhältnis zur Regierung als üblich befand:

  • Seither kann jede/-r Abgeordnete die Hilfe der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, etwa 100 der insgesamt ca. 3 000 in der Bundestagsverwaltung Beschäftigten (Wissenschaftliche Dienste 2018, S. 5)Footnote 9, in Anspruch nehmen, um sich Informationen zu beschaffen; in diesem Rahmen stehen auch eine Bibliothek, eine Pressedokumentation und ein Parlamentsarchiv zur Verfügung (Schöler und Winter 2015).

  • Darüber hinaus verfügen die einzelnen Fraktionen des Bundestages über öffentlich besoldete Fraktionsangestellte, die von den Fraktionsführungen selbst ausgesucht werden und über deren Einsatz sie entscheiden. Diese Fraktionsassistenten arbeiten den Fraktionsvorständen, -arbeitskreisen und -arbeitsgruppen zu. In der 19. Wahlperiode waren beispielsweise insgesamt 1 159 Fraktionsmitarbeiter/-innen tätig, darunter 549 im höheren Dienst (Deutscher Bundestag 2021). Insgesamt verfügten die Bundestagsfraktionen 2020 über fast 120 Mio. Euro (Deutscher Bundestag 2021) – Tendenz steigend.

  • Nicht zuletzt können auch einzelne Abgeordnete öffentlich besoldete eigene Mitarbeiter/-innen einstellen (für insgesamt bis zu 23 205 € je Monat)Footnote 10. Zu dieser Kategorie zählten unlängst 5 430 Beschäftigte, von denen knapp die Hälfte im Wahlkreis beschäftigt war, 2 308 arbeiteten als wissenschaftliche Mitarbeiter/-innen; zumeist sind sie Mitglieder politischer Parteien, häufig Politikwissenschaftler/-innen. Sie sehen ihre Stellung als Durchgangsstation bzw. „Karrieresprungbrett“ (Barthelmes 2007, S. 66, 76, 97 ff.; Bergner 2018, S. 215).

Die Mehrgleisigkeit parlamentarischer Hilfsdienste erklärt sich daher, dass zwar fachliche Spezialisierung für eine Anbindung beim Bundestag als Ganzem spräche, aber häufig ein politisches Vertrauensverhältnis erforderlich scheint. Insgesamt zählt der parlamentarische Hilfsdienst in der Bundesrepublik zu den am weitesten ausgebauten Institutionen seiner Art.

c) Politische Komplexitätsreduktion – das Fraktionenparlament

Eine Belastung stellt die Größe des Bundestages mit seinen derzeit 736 Mitgliedern dar. Das ist im internationalen Vergleich, auch unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahlen, zwar beträchtlich, aber – gemessen an der Bevölkerungszahl – auch nicht überbordend (Zeh 2018, S. 748 f.). Der Bundestag wäre kaum entscheidungsfähig, wollten die Abgeordneten als Einzelakteure handeln. Ausschlaggebend für die Handlungsfähigkeit des Parlaments ist daher dessen Gliederung in Fraktionen als parlamentarische Handlungseinheiten – sichtbar darin, dass diese zumeist geschlossen abstimmen. In die Fraktionsdisziplin (nicht: „-zwang“) fügen sich die Abgeordneten aus der Einsicht, nur im Kompromiss mit anderen bei den ihnen wichtigen Fragen Mehrheiten bilden zu können. Nur bei Großen Koalitionen kommt es häufiger zu abweichendem Stimmverhalten. Die Konformität des Abstimmungsverhaltens lässt sich aus innerparteilicher Sozialisation erklären – und dem Druck von oben: „Normalerweise müssen Abgeordnete, die von der Fraktionslinie abweichen wollen, sich vorab beim Fraktionsvorsitzenden oder Parlamentarischen Geschäftsführer melden, wo sie jenes Einzelgespräch erhalten, auf das sie gerne verzichten würden. Denn die Abgeordneten müssen sich erklären, und die Führungskräfte sind dabei in der Regel nicht in Plauderlaune“ (Dausend und Knaup 2020, S. 398). Häufig abweichende Abgeordnete haben zudem weniger Chancen, ein Fraktions- oder Regierungsamt zu erhalten (Saalfeld 1995, S. 356 ff.; Dausend und Knaup 2020, S. 399). Die Durchfraktionierung des Bundestages wird ferner deutlich in:

  • fraktionsinternen Entscheidungsprozessen: Offene Diskussion und Entscheidungssuche verlagern sich hinter die geschlossenen Türen der Fraktionssäle. Im Bundestagsplenum werden dann gewöhnlich nur noch festliegende Standpunkte dargestellt, steht bereits vor der Debatte das Abstimmungsergebnis fest. Der Plenardebatte kommt daher die „Funktion einer notariellen Öffentlichkeit“ (Lohmar 1975, S. 91) zu, die förmliche Beschlüsse fasst und Begründungen für die Bürgerinnen und Bürger liefert.

  • der Leere des Plenums: Dementsprechend gering ist die Attraktivität des Plenums für die Abgeordneten. Solange sich bei Abstimmungen die Mehrheitsverhältnisse nicht verschieben bzw. niemand die Beschlussfähigkeit anzweifelt (sie besteht stets, solange nicht angezweifelt, im Übrigen bei über 50-prozentiger Anwesenheit)Footnote 11, ist es zudem gleichgültig, ob man fehlt. Gesetze und andere Beschlüsse kommen zustande, wenn ihnen die Mehrheit der Anwesenden zustimmt. Nur dann, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse verschieben, entsteht Interesse, die Beschlussfähigkeit anzuzweifeln und außerhalb des Plenarsaales befindliche Fraktionsfreunde herbeizurufen. Ausgenommen davon: die systematische Obstruktion durch sog. „Anti –Parteien“ (Koß 2021, S. 6), welche die Funktionsfähigkeit des Parlaments insgesamt infrage stellt.

  • der (wegen stets drängender „Zeitnot“) „kontingentierten Debatte“ (Lipphardt 1976, S. 9), bei der jeder Fraktion bestimmte Redezeiten zugeteilt sind. Die Fraktion entscheidet, wer für sie sprechen darf, wobei Hauptsprecher/-innen längere Zeit (bis 45 min), anderen normalerweise 15 min zugestanden werden. Dem entspricht, dass Gesetzentwürfe und Anträge die Unterstützung einer Fraktion oder von mindestens 5 % der Abgeordneten (derzeit: 36 Parlamentarier) benötigen. Dies soll verhindern, dass aussichtslose Anträge von Einzelgänger/-innen oder kleinen Gruppen den Bundestag lahmlegen.

  • der personellen Besetzung von Organen des Bundestages durch die Fraktionen: Nach Geschäftsordnung bzw. Absprache benennen die Fraktionen die Mitglieder der Bundestagsausschüsse, des Ältestenrats und des Bundestagspräsidiums. Dies erübrigt langwierige Wahlgänge und unfruchtbare Konflikte – jedenfalls bis die AfD in den Bundestag einzog. Die Partei hat in der 19. Wahlperiode nicht weniger als sechs Kandidaten für den Bundestagsvizepräsidenten verschlissen und blieb bis zur nächsten Bundestagswahl ohne Amt; in der aktuellen Legislatur ist keiner der Fraktion als Ausschussvorsitzender gewählt worden.Footnote 12 Dass im November 2019 mit Stephan Brandner ein Ausschussvorsitzender (hier: Rechtsausschuss) abgewählt wurde, gab es in 70 Jahren Bundestag auch noch nicht. Die Anteile der Fraktionen bemessen sich ansonsten eigentlich nach ihrem Größenverhältnis. So werden üblicherweise nach Absprache der Bundestagspräsident (der nach Konvention von der stärksten Fraktion gestellt wird) und die Vizepräsidenten des Bundestages gewählt. Diese bilden gemeinsam mit weiteren 23, von den Fraktionen nach Proporz benannten Mitgliedern den „Ältestenrat“, der „eine Verständigung zwischen den Fraktionen über die Stellen der Ausschussvorsitzenden und ihrer Stellvertreter sowie über den Arbeitsplan des Bundestages“ herbeiführtFootnote 13. Eine wichtige Rolle in ihm spielen die Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen, für das Management ihrer Fraktionen gewählte und dafür zusätzlich besoldete Abgeordnete (Petersen 2000; Schüttemeyer 1997; Heer 2015).

Die Größe des Bundestages erschwert allerdings auch für seine Ausschüsse, zumindest die wichtigeren, die sachlich-intensive Erörterung. So sympathisch die Rechte des/der Einzelnen erscheinen mögen – nur als Fraktionenparlament vermag ein vielköpfiges Gremium wie der Bundestag Entscheidungsfähigkeit zu erreichen. Unvermeidlich wird diese mit einer Mediatisierung der Abgeordneten durch ihre Fraktionen erkauft.

Umso größere Bedeutung kommt innerfraktionellen Entscheidungsprozessen zu. Doch auch die Fraktionen haben meist zu viele Mitglieder, um ohne Organe auszukommen. So wählen die Fraktionsvollversammlungen aus ihrer Mitte Fraktionsvorstände, zusammengesetzt aus Vorsitzendem/-r und Stellvertreter/-innen, Parlamentarischen Geschäftsführer/-innen, Justitiar/-innen und weiteren Beisitzer/-innen. Die Vorstände haben vor allem zwei Aufgaben zu erfüllen:

  • Sie sichern die Geschlossenheit ihrer Fraktionen nach außen, indem sie zu anstehenden Entscheidungen des Bundestages eine Willensbildung der Fraktion herbeiführen und eine Marschroute für das Vorgehen im Bundestag entwickeln.

  • Sie planen und verteilen die Arbeit der Fraktion, indem sie fraktionsinterne Arbeitskreise bzw. -gruppen bilden und Vorschläge für die personelle Besetzung dieser Gremien wie auch der Ausschüsse des Bundestages machen.

Ihre fraktionelle Führungsrolle sehen zumal die Fraktionsvorsitzenden zwischen Moderator/-in und Gestalter/-in, am ehesten dominiert ein integrierendes Amtsverständnis, das auf die Außenwirkung der Fraktion bedacht ist (Schindler 2019, S. 167). Dabei bleibt das Problem, dass einige Fraktionsvorstände auch ihrerseits zu groß sind, um diese Aufgaben tatsächlich erfüllen zu können. Der Entscheidungsprozess verlagert sich in diesen Fällen auf kleinere Zirkel: in „geschäftsführende Vorstände“ (= Fraktionsvorsitzende, deren Stellvertreter/-innen, Parlamentarische Geschäftsführer/-innen und Mitglieder des Bundestagspräsidiums), gelegentlich auch in informelle Gremien. Somit besteht eine Fraktionshierarchie. Die Obleute einer Fraktion in den Bundestagsausschüssen, Berichterstatter/-innen der Bundestagsausschüsse im Plenum sowie generell Spezialist/-innen und Engagierte können dann bei „ihren“ Themen durchaus die Fraktion führen – solange es nicht um hochrangige, strittige Fragen geht (Schüttemeyer 1998, S. 301 f., 328). Der Spielraum der Fraktionsspitzen wird jedoch durch die Existenz innerfraktioneller Gruppierungen begrenzt. So bestehen in der CDU/CSU-Fraktion neben der CSU-Landesgruppe mehrere Gruppen in Anlehnung an innerparteiliche „Vereinigungen“ der beiden Parteien. Die SPD-Fraktion kennt Richtungsgruppen wie den rechten „Seeheimer Kreis“ und die „Parlamentarische Linke“ (Ismayr 2013, S. 98 ff.).

Nicht unverständlich, dass es in den 1980er Jahren eine Abgeordneteninitiative gab, die gegen die „Ohnmacht des einzelnen“ anzugehen und einzelnen Abgeordneten Rede- und Antragsrecht zurückzuerobern suchte (Werner 1990). Tatsächlich war die Fraktionsdisziplin in untersuchten 16 westlichen Demokratien allgemein hoch, dabei in der Bundesrepublik keineswegs besonders ausgeprägt (Detterbeck 2011, S. 174). Durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts erhielten einzelne fraktionslose Abgeordnete das Recht, im Bundestagsausschuss mit Antrags-, aber ohne Stimmrecht mitzuarbeiten sowie im Plenum zu sprechen. Mehr als eine Marginalie kann das nicht sein.

3 Die Wahlfunktion: Legitimierende Mehrheitsbildung

a) Die zentrale Kanzlerwahl

Denkbar wäre, dass eine Repräsentation des Volkes auch die Regierungsfunktionen übernehmen würde. Vorübergehend hat es in Phasen der Französischen und der Englischen Revolution Ansätze zu einer solchen „Versammlungs-Regierung“ (Loewenstein 1959, S. 75 ff.) gegeben. Als praktikabler und konstitutionell-gewaltenteiligem Denken adäquater setzte sich aber die Regierung als eigenes Organ durch.

Somit ist die Regierungsbildung, wie sie in der Bundesrepublik mit der Wahl des Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin erfolgt, eine zentrale Funktion des Bundestages. Während nach der Weimarer Reichsverfassung die Ernennung des Kanzlers allein beim Reichspräsidenten oblag und der Reichstag auf das Misstrauensvotum beschränkt blieb, stärkte das Grundgesetz das Parlament. Auch im Kreise der Demokratien gehört der Bundestag zu den wenigen Parlamenten mit dem Recht, den Regierungschef bzw. die -chefin zu wählen, bevor er/sie formell ernannt wirdFootnote 14. Darüber hinaus hat er weitere Organe personell zu besetzen, durch

  • die Wahl des/der Bundespräsidenten/-in, gemeinsam mit der gleichen Zahl von Vertreter/-innen der Landtage (= „Bundesversammlung“);

  • die Wahl der Hälfte der Bundesverfassungsrichter/-innen und der Richter/-innen an obersten Bundesgerichten, vorgenommen durch ein Wahlgremium des Bundestages bzw. den Richterwahlausschuss (aus 16 Bundestagsabgeordneten und 16 Landesminister/-innen);

  • die Besetzung von zwei Dritteln der Sitze im „Gemeinsamen Ausschuss“ (Notstandsparlament), wobei die Vertreter/-innen des Bundestages „entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen bestimmt“ werden (Art. 53 a GG);

  • die Besetzung der Hälfte der Sitze im „Vermittlungsausschuss“;

  • auf Vorschlag der Bundesregierung die Wahl des/der Präsidenten/-in des Bundesrechnungshofes (gemeinsam mit dem Bundesrat), des/der Beauftragten für Stasi-Unterlagen (bis 2021) und des/der Datenschutzbeauftragten;

  • die Wahl des/der Wehrbeauftragten;

  • ferner von Mitgliedern der Aufsichtsgremien von Deutscher Welle, Erinnerungs-Stiftungen u. a. m. (Feldkamp 2011, S. 1133 ff.).

Das Verfahren bei Vakanz des Bundeskanzleramtes regelt Art. 63 GG. Abb. 7.2 verdeutlicht die hier nacheinander möglichen drei Fälle. Demnach hat bei einem Scheitern des/der vom Bundespräsidenten zunächst vorgeschlagenen Kandidaten/-in der Bundestag 14 Tage Zeit zur freien Kanzlerwahl gemäß Fall 2. Falls dabei kein Kandidat oder keine Kandidatin gewählt wird, findet ein Wahlgang entsprechend Fall 3 statt, wobei dem Bundespräsidenten bzw. der -präsidentin für die dann bei ihm/ihr liegende Entscheidung: Ernennen des/der Gewählten oder Auflösung des Bundestages, sieben Tage Zeit bleiben. In der bisherigen Verfassungspraxis der Bundesrepublik ist jedoch stets ein aussichtsreicher Kandidat bzw. eine -kandidatinvorgeschlagen worden, also allein Fall 1 aufgetreten.

Abb. 7.2
figure 2

Das Kanzlerwahlverfahren nach dem Grundgesetz. (Quelle: eigene Darstellung)

Wie die Kanzlerwahlergebnisse zeigen, ist man jedoch mehrfach dem Fall 2 nur knapp entgangen. So erhielt Adenauer 1949 gerade die erforderliche Mindeststimmenzahl, nämlich die der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages (nicht der Anwesenden!), Brandt 1969 zwei Stimmen, Schmidt 1976 eine Stimme, Kohl 1987 vier Stimmen mehr als erforderlich. Immer wieder zeigt sich, dass bei der geheimen Kanzlerwahl auch Koalitionsabgeordnete dem Kandidaten bzw. der -kandidatin ihre Stimme versagt haben müssen (Schindler 1999a, S. 1018 ff.). 2013 fehlten Frau Merkel mindestens 39 Stimmen aus den Koalitionsfraktionen. Die Wahl gilt daher zuweilen als „Zitterpartie“. Manchmal geht es ums Durchkommen, manchmal um mehr Reputation.

Ein verfassungsrechtliches Novum auch im internationalen Vergleich sieht das Grundgesetz für die Ablösung eines/einer amtierenden Kanzlers/Kanzlerin vor: das „konstruktive Misstrauensvotum“ (Pfetsch 1990, S. 400). Danach kann der Sturz eines Kanzlers/einer Kanzlerin (der Regierung) allein durch Wahl eines neuen Bundeskanzlers/einer neuen Kanzlerin erfolgen. Eine bloß negative Mehrheit, einig nur in der Ablehnung des Amtsinhabers/der Amtsinhaberin, reicht also nicht zum Sturz. Erfolgreich wurde das konstruktive Misstrauensvotum bisher zur Regierungsablösung bei Koalitionswechseln eingesetzt: in den Bundesländern, einmal im Bund, nämlich 1982 bei der Ablösung der Regierung Schmidt. Erfolglos hingegen blieb 1972 ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Brandt.

Diese Regelung, gedacht als Schutz gegen eine Destruktion von Regierungen durch bloß negative Mehrheiten, stabilisiert freilich den Bundeskanzler/die -kanzlerin auch gegenüber einer potenziellen positiven Mehrheit. Denn die Hürde, die sie setzt, liegt hoch: eine Art Verschwörung zugunsten eines bestimmten Nachfolgers bzw. einer Nachfolgerin. Ein Personenwechsel durch die eigene Partei, wie er bei Adenauer ab 1961 und bei Erhard 1966 anstand (Beyme 1970, S. 623 f.), ist zumindest erschwert. Darüber hinaus hat das konstruktive Misstrauensvotum auch prinzipielle Kritik erfahren. Mit ihm, so Karl Loewenstein (1959, S. 92 ff.), sei die Bundesrepublik ein „demiautoritäres“ System mit „kontrolliertem Parlamentarismus“. Dieses Urteil, aus der Ferne gefällt, hat im Laufe der Zeit immer weniger Zustimmung gefunden. Inzwischen gilt das konstruktive Misstrauensvotum eher als attraktive Regelung und ist von Demokratien wie Spanien und Belgien übernommen worden.

b) Vertrauensfrage und vorzeitige Bundestagsauflösung

Fühlt sich ein Bundeskanzler/eine -kanzlerin seiner bzw. ihrer Mehrheit nicht sicher, so kann er/sie nach Art. 68 GG seiner-/ihrerseits die Initiative ergreifen und dem Bundestag die Vertrauensfrage stellen. Wird das Vertrauen ohne anschließende Wahl eines neuen Kanzlers/einer neuen Kanzlerin verweigert, so kann der Bundespräsident bzw. die -präsidentin auf Vorschlag des Kanzlers/der Kanzlerin binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen und Neuwahlen ausschreiben. Der Bundespräsident bzw. die -präsidentin muss dies aber nicht tun. Die Vertrauensfrage mag so in einer unsicher gewordenen Lage Klärung schaffen, eine drohende Neuwahl Abgeordnete an die Seite des amtierenden Kanzlers/der Kanzlerin treiben.

In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist sie bisher sechsmal virulent geworden:

Im Herbst 1966, als Bundeskanzler Erhard durch den Abfall der FDP seine Mehrheit verloren hatte, beantragte die SPD, ihn zur Vertrauensfrage aufzufordern. Ein Antrag von CDU/CSU, dies für unzulässig zu erklären, unterlag mit 246 zu 255 Stimmen. Faktisch war Erhard das Misstrauen ausgesprochen (Knorr 1975, S. 60 ff.).

Als 1972 die Regierung Brandt (SPD/FDP) keine Mehrheit mehr besaß, andererseits das konstruktive Misstrauensvotum zugunsten Barzels (CDU) gescheitert war, wurde die Vertrauensfrage als Ausweg aus dem Patt eingesetzt. Die Stimmenthaltung der Regierung führte ihre Niederlage herbei und öffnete den Weg zur vorzeitigen Neuwahl des Bundestages (Busch 1973).

Anfang 1982 stellte Bundeskanzler Schmidt (SPD) angesichts schwindender Übereinstimmungen mit der FDP die Vertrauensfrage, die ihm positiv beantwortet wurde. Der Auflösungsprozess der Koalition setzte sich jedoch fort.

Ende 1982 führte Bundeskanzler Kohl (CDU) durch eine Vertrauensfrage, bei der die Regierungsmehrheit Enthaltung übte, seine formelle Niederlage herbei, um die vorzeitige Bundestagsneuwahl auszulösen.

Im Jahre 2001 verband Bundeskanzler Schröder (SPD) mit der Truppenentsendung nach Afghanistan die Vertrauensfrage; er erreichte, dass die Zahl der Abweichler aus der rot-grünen Koalition gering blieb.

Als 2005 mit der Landtagswahl in NRW eine massive Oppositionsmehrheit im Bundesrat entstanden war, erreichte Schröder mit einer gezielt herbeigeführten Vertrauensverweigerung die Entscheidung des Bundespräsidenten zugunsten vorzeitiger Neuwahl.

Somit hat die Vertrauensfrage bisher kaum im intendierten Sinne einer Stabilisierung der Mehrheit oder einer Klärung der Mehrheitsverhältnisse gewirkt, sondern primär den Weg zu vorgezogenen Neuwahlen eröffnet. In diesem Sinne sind die Präzedenzfälle von 1972, 1982 und 2005 zu verstehen. Das bedeutet mehr Macht für den Kanzler bzw. die Kanzlerin (bei Zustimmung des Bundespräsidenten/der -präsidentin), eröffnet aber auch einen Weg aus der Handlungsunfähigkeit.

Im Vergleich zur Weimarer Republik und zu anderen parlamentarischen Demokratien hat der Bundestag seine Wahlfunktion bisher erfolgreich ausgeübt, d. h. mehrheitsgetragene Regierungen hervorgebracht. Entbehrten die Kabinette der Weimarer Republik während 58 % ihrer Zeit einer parlamentarischen Mehrheit und erreichten sie eine durchschnittliche Amtsdauer von nur 287 Tagen (Erdmann 1959), so erlebte die Bundesrepublik nur in Übergangsphasen Regierungen ohne Mehrheit. Erst mit dem Wandel des Parteiensystems ist seit 2005 die Mehrheitsbildung zum Problem geworden.

4 Kontrollfunktion und Mitregierung

a) Parlamentarische Kontrollinstrumente und ihr Einsatz

Kontrolle obrigkeitlicher Regierungen hat in der Geschichte des Parlamentarismus eine wichtige Rolle gespielt, und die Erfahrungen mit totalitären und autoritären Systemen des 20. Jahrhunderts haben das Bewusstsein dafür geschärft (Höpfner 2004). Dabei ist „Kontrolle“ nicht mit Handeln gleichzusetzen, sondern bedeutet laufendes Überprüfen eines/-r Handelnden mit der Möglichkeit von Sanktionen seitens des KontrollierendenFootnote 15. Sie bedeutet also das Recht, der handelnden Regierung prüfend über die Schultern zu schauen und eingreifen zu können (Krause 1999). Der Bundestag, seine Ausschüsse und Gremien verfügen hierzu über investigative Rechte, so zum Herbeizitieren von Regierungsmitgliedern, Befragen der Regierung, Vorladen von Zeugen, auf Herausgabe von Beweismitteln (wie Akten), bis hin zu Einsichts- und Fragerechten der sogenannten G 10-Kommission und des Parlamentarischen Kontrollgremiums gegenüber Nachrichtendiensten (Bräcklein 2006, S. 56, 86, 95).

Parlamentarische Kontrolle erfolgt in drei Richtungen:

  • als politische Richtungskontrolle, bei der Mehrheit und Opposition politisch urteilen;

  • als Effizienzkontrolle unter der Frage, ob die Regierung zielentsprechende und wirksame Mittel ökonomisch einsetzt;

  • als Rechtskontrolle, bei der geprüft wird, ob sich das Regierungshandeln im Rahmen des Rechts bewegt.

Selbstverständlich nehmen Regierungsmehrheit und Opposition diese Kontrollaufgaben in unterschiedlicher Weise wahr. Es überrascht auch nicht, dass Kontrollinstrumente überdurchschnittlich vonseiten der Opposition eingesetzt werden.

Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen Regierungshandeln sind bisher nur von Oppositionsfraktionen eingereicht worden (Stüwe 2001), von einzelnen Kritikern aus Reihen der Regierungsparteien abgesehen.

Die „Große Anfrage“, die von mindestens fünf Prozent der Abgeordneten schriftlich einzubringen ist, wird ganz überwiegend von der Opposition genutzt (siehe Tab. 7.4). Oppositionelle „Große Anfragen“ dienen der politischen Richtungskontrolle.

„Kleine Anfragen“ von ebenfalls mindestens fünf Prozent der Abgeordneten, ebenso wie „Aktuelle Stunden“ tragen zwar vielfach den Charakter einer Effizienzkontrolle bzw. bringen Gravamina vor und haben insofern politische Bedeutung. Mündliche oder schriftliche Anfragen einzelner Abgeordneter hingegen dienen als „Instrument regionaler und lokaler Schrebergartenarbeit“, vielfach nur der „Profilierung“ vor Ort (Thaysen 1976, S. 58; Witte-Wegmann 1972, S. 201 f.). Die Auszählungen lassen auch hier eine überdurchschnittliche Nutzung von oppositioneller Seite erkennen.

Viele zahlenmäßige Veränderungen lassen sich vor dem Hintergrund der jeweiligen Situation erklären. So wirken sich Große Koalitionen aus, geht der ab 1983 inflationäre Anstieg der Anfragen auf die Grünen zurück, die sich hier als neue parlamentarische Opposition besonders intensiv betätigten. Von ihrer Seite kamen 1983–90 nicht weniger als 48,4 % aller Großen und 83,5 % aller Kleinen Anfragen (Schindler 1999a, S. 2640 ff.). Allgemein stellt sich angesichts der Anfragenflut die Frage, ob deren Ergebnisse noch verarbeitet werden und in einem angemessenen Verhältnis zum Aufwand stehen; ganz abgesehen von den beträchtlichen Ressourcen, die sie in den Ministerien binden. Teilweise scheinen es auch angeschwollene Arbeitsstäbe der Fraktionen und Abgeordneten, die hier ein Betätigungsfeld suchen.

Tab. 7.4 Der Einsatz parlamentarischer Kontrollinstrumente. Anzahl je Legislaturperiode, darunter allein von oppositioneller Seite in Prozent der jeweiligen Instrumente

Ein zuweilen spektakuläres Kontrollinstrument stellt schließlich der parlamentarische Untersuchungsausschuss dar. Er ist auf Verlangen bereits eines Viertels der Mitglieder des Bundestages einzusetzen (in der 18. Wahlperiode genügte auf Forderung von Grünen und Linken hin wegen der kleinen Opposition bereits ein Quorum von 120 Abgeordneten). Dieses faktische „Oppositionsrecht“, vorgeschlagen von Max Weber, gilt als „eine deutsche Erfindung“, die eine Reihe europäischer Staaten „übernommen“ hat. Von insgesamt 39 Untersuchungsausschüssen des Bundestages 1949–2013 verdanken 33 einem solchen „zwingenden Minderheitsantrag“ ihr EntstehenFootnote 16. Mit einem Untersuchungsausschuss -bis 2021 gab es derer 48 -zieht der Bundestag die Informationsbeschaffung an sich, da er wie ein Gericht Zeugenaussagen erzwingen und Auskünfte von Behörden verlangen kann. Untersuchungsgegenstand sind meist Skandale, Korruptionsverdächtigungen bei der Rüstungsbeschaffung oder bei der Abstimmung zum konstruktiven Misstrauensvotum 1972; skandalbezogen waren auch der Flick-, der Parteispenden- und der Wirecard-Ausschuss. Allerdings stößt Aufklärung auf Schranken, wenn parallel die Strafjustiz untersucht, da dann potenziell Beschuldigte als Zeugen die Aussage verweigern können (Wolf 2005).

Auch Untersuchungsausschüsse werden ganz überwiegend von Oppositionsseite beantragt (Deutscher Bundestag 2021). Ihr Problem besteht freilich darin, dass sie zwar deren Einsetzung erreichen kann, die Mehrheit dort jedoch bei Gefolgsleuten der Regierung liegt: „Wir werden doch kein Eigentor schießen“, war die einprägsame Formel, auf die einst der Vorsitzende des Fibag-Ausschusses die Interessenlage der Mehrheit gebracht hat (Matthias Hoogen zit. nach Rausch 1976, S. 295). Insofern kann es – trotz zwischenzeitlich verstärkter Minderheitsrechte bei Beweiserhebung und Berichterstattung (Minderheitsbericht) – nicht überraschen, dass das Instrument des Untersuchungsausschusses bisweilen als „schärfstes Holzschwert des Parlamentarismus“ gilt (Chacón et al. 2019). Doch erzeugt er öffentliche Aufmerksamkeit für den Untersuchungsgegenstand – ein wichtiger Effekt.

b) Mischung von Kontrolle und Mitsteuerung

Besondere Kontrollprobleme zeigen sich auf bestimmten Sachgebieten. So überfordert der Vollzug eines Haushaltsplans mit seinen zahllosen Einzeltiteln die Kapazität von Kontrollinstanzen. Selbst das hierfür geschaffene Organ, der Bundesrechnungshof, vermag nur stichprobenartige Überprüfungen durchzuführen (Heuer 1989, S. 120). Dabei tendiert er seit neuerem dazu, nicht allein die Ordnungsmäßigkeit (Übereinstimmung mit dem Haushaltsplan), sondern auch die Wirtschaftlichkeit der Ausgaben zu prüfen. Letzteres empfinden Kritiker aber als „schillernden Prüfungsmaßstab“, der zu einer „Politisierung“ der Prüfungen führe (Holtmann 2000). Außerdem haben das zeitliche Hinterherhinken der Prüfberichte und die Überlastung des Haushaltsausschusses zur Folge, dass die Berichte zwar Presseartikel für einen Tag hervorrufen, im Übrigen aber wenig geschieht (Diederich et al. 1990, S. 23, 254).

Der Haushaltsausschuss des Bundestages kontrolliert aber nicht bloß im Nachhinein. Vielmehr ist er an Haushaltsvorbereitung und -ausführung beteiligt, bemerkenswerterweise dabei eher in einer „Ausgabenbremserfunktion“ gegenüber Regierung und Fachausschüssen, die „Wohltaten zu verteilen“ suchen (Sturm 1988, S. 43, 66). Ohnehin führen unerwartete Einnahme- und Ausgabeentwicklungen zur „permanenten Revision des Plans im Vollzug“. Der Haushaltsausschuss sichert sich durch „Sperrvermerke“ bei bestimmten Haushaltsmitteln eine Mitwirkung bei deren Ausgabe. Eine derart „begleitende Haushaltskontrolle“ (Sturm 1997, S. 654) ist eingespielte Praxis (Mandelartz 1980, S. 30 ff.).

Nicht weniger ausgeprägt ist die Vermischung von Kontrolle und Mitwirkung im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich. Kontrollbemühungen veranlassen den Verteidigungsausschuss dazu, schon wichtigen Beschaffungsaufträgen des Verteidigungsministeriums eine faktische Zustimmung zu erteilen (formell sie „zur Kenntnis“ zu nehmen) und sich somit in den Entscheidungsprozess einzuschalten (Mandelartz 1980, S. 28 f.)Footnote 17.

Eine sich aus der Geheimhaltung ergebende Kontrollproblematik besteht bei der Überwachung der Geheimdienste. Hierfür hat man ein aktuell (seit 2021) 13-köpfiges  (inkl. Stellvertreter/-innen) Parlamentarisches Kontrollgremium geschaffen, das seinerseits auch geheim arbeitet. Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis sind fortlaufend zudem der  achtköpfigen „G 10-Kommission“ (weil Art. 10 GG betreffend)  (wobei eine Bundestagsmitgliedschaft nicht erforderlich ist) zu berichten, die über deren Zulässigkeit und Notwendigkeit „entscheidet“, wie das einschlägige Gesetz formuliert (Deutscher Bundestag 2021). Deutlich wird auch hier ein Mitwirken, das über nachträgliche Kontrolle hinausreicht.

Demgegenüber verbleibt der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, der 1956 nach dem Vorbild des schwedischen Militie-Ombudmans eingeführt wurde und dem Kontrollaufgaben hinsichtlich der Inneren Führung der Bundeswehr obliegen, in einer beobachtenden Position gegenüber der Bundeswehr.

Das Ergebnis lautet erstens: Angesichts der ausschlaggebenden Dualität Regierungsmehrheit – Opposition überrascht es nicht, dass die parlamentarischen Kontrollrechte überwiegend von der Opposition genutzt werden.

Zweitens: Die Mischung von Kontrolle und Mitsteuerung, wie sie bei Finanz-, Sicherheits- und Verteidigungsfragen sichtbar wird, durchlöchert zwar die Distanz zwischen Parlament und Regierung, die als Vorbedingung für Kontrolle gilt. Geht man hingegen davon aus, dass Parlamente soweit selbst entscheiden sollten, wie ihre Arbeitskapazität reicht, und berücksichtigt man, dass nachträgliche Kontrolle angesichts vollendeter Tatsachen vielfach ohne Effekt bliebe, so scheint jene Praxis vertretbar.

Drittens: Regierungshandeln wird keineswegs allein durch das Parlament kontrolliert, sondern auch durch recherchierende Medien wie „Der Spiegel“, einschlägige investigative TV-Formate wie „Monitor“ und „Frontal“ oder Interessenverbände wie den „Bund der Steuerzahler“. Auch liegt die eigentliche Sanktionsdrohung bei der Wählerschaft.

5 Legislative Funktion: Zwischen Rede- und Arbeitsparlament

a) Das formelle Gesetzgebungsverfahren

Den Ausgangspunkt des formellen Gesetzgebungsverfahrens im Bund bezeichnet Art. 76 GG: Nach ihm haben allein Bundesregierung, Bundesrat und Bundestagsabgeordnete das Recht, Gesetzesvorlagen beim Bundestag einzubringen (Initiativrecht). Vorlagen der Bundesregierung müssen jedoch, bevor sie den Bundestag erreichen, zuvor dem Bundesrat, solche des Bundesrats der Bundesregierung zur Stellungnahme zugeleitet werden (Abb. 7.3).

Abb. 7.3
figure 3

Der Gesetzgebungsprozess im Bund. (Quelle: eigene Darstellung)

Rationalisierungsbedürfnisse haben dazu geführt, dass der Bundestag dann nicht mehr die klassischen drei Lesungen (Plenardebatten mit Abstimmungen) praktiziert. In der Bezeichnung haben sich zwar diese Stationen erhalten, ihre Funktion ist jedoch seit 1969 verändert:

  • Allgemeine Aussprachen finden nur auf Empfehlung des Ältestenrates oder auf Verlangen einer Fraktion bzw. von fünf Prozent der Abgeordneten statt. Aussprache und Abstimmungen zu den Einzelpunkten einer Vorlage erfolgen in der 2. Lesung. Eine Einzelberatung in der 3. Lesung ist nur zu den in 2. Lesung vorgenommenen Änderungen und auf Empfehlung oder Verlangen möglich.

  • Eine Einzelberatung in den Ausschüssen findet also nur zwischen der 1. und 2. Lesung statt.

  • Darüber hinaus kann mit 2/3-Mehrheit beschlossen werden, die 2. und 3. Lesung sofort an die vorangegangene anzuschließen, d. h. auf erneute Ausschussberatungen zu verzichten. Für die 3. Lesung ist dies bei dringlich erklärten Vorlagen der Bundesregierung bereits mit der Mehrheit der Abgeordneten möglichFootnote 18.

Hat der Bundestag die Vorlage in 3. Lesung angenommen, geht sie an den Bundesrat. Stimmt dieser ihr zu oder nimmt sie ohne Einspruch hin, bedarf die beschlossene Vorlage nur noch der Unterzeichnung durch den/die Bundeskanzler/-in, den zuständigen Bundesminister bzw. die -ministerin und anschließend den Bundespräsidenten bzw. die -präsidentin. Nach dieser Bestätigung ihrer Korrektheit wird sie im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und tritt in Kraft.

Komplexer gestaltet sich das Verfahren, falls der Bundesrat Einwände erhebt. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Materien, zu denen Gesetze der Zustimmung durch den Bundesrat bedürfen (zustimmungsbedürftige Gesetze), und anderen. Im ersteren Fall verfügt der Bundesrat über ein absolutes Veto-, im anderen nur über ein suspensives Einspruchsrecht. In jedem Falle sucht das Grundgesetz eine Einigung zwischen Bundestags- und Bundesratsmehrheit zu fördern, und zwar durch den Vermittlungsausschuss. Dieses Gremium, das von jeder der beiden Seiten angerufen werden kann, besteht aus je 16 von Bundestag und Bundesrat für die Dauer einer Wahlperiode entsandten Mitgliedern. Sein Einigungsvorschlag kann – und dies verleiht ihm Gewicht – von Bundesrat bzw. Bundestag nur unverändert akzeptiert oder verworfen werden. Die durchschnittliche Gesamtdauer der Gesetzgebungsverfahren – von der Einbringung bis zur Verkündung – umfasst (1. bis 17. Wahlperiode) 210 Tage (Karow und Bukow 2016, S. 79).

b) Regierungsstadium – das überspielte Parlament?

Jede Gesetzesinitiative, die den Bundestag erreicht, hat bereits eine Vorgeschichte hinter sich. Von Interesse ist hier vor allem das Frühstadium von Regierungsinitiativen, gehen doch auf sie die meisten Gesetze zurück. Die Impulse können dabei, wie eine Durchsicht für ein Drittel der politischen Schlüsselentscheidungen ergab, von außen her, von der EU, der internationalen Politik, dem Verfassungsgericht oder Beiräten stammen (Beyme 1997, S. 185).

Verschiedene Stationen des innergouvernementalen Entscheidungsprozesses sind zu durchlaufen:

  • Zunächst arbeitet die zuständige Referatsleitung innerhalb eines Ministeriums auf Weisung von Vorgesetzten oder nach Rücksprache mit ihnen einen Gesetzentwurf aus („Referentenentwurf“). Dabei nimmt sie Kontakt mit anderen thematisch berührten Referaten, Ministerien und Interessenverbänden auf.

  • Sie holt dann formelle Stellungnahmen zum Entwurf vonseiten anderer betroffener Referate und von Interessenverbänden ein.

  • Aufgrund dessen kommt es zu veränderten Entwürfen, von denen der letzte den jeweils aktuellen Stand der Absichten enthält. In diese Entwürfe gehen auch Anregungen und Vorgaben der Vorgesetzten (Abteilungsleiter/-innen etc.) ein.

  • Übernimmt der Minister/die Ministerin schließlich den Entwurf, so geht dieser – nach Prüfung seiner Rechtsförmigkeit durch das Justizministerium – als Vorlage an das Kabinett.

  • Beschließt das Kabinett die Vorlage, wird sie zur Regierungsvorlage. Meist handelt es sich im Kabinett nur noch um einen förmlichen Beschluss, da bei umstrittenen Fragen Vorklärungen, notfalls Gespräche von Spitzenvertreter/-innen der Koalitionspartner stattfinden (Ismayr 2013, S. 227 ff.).

In einzelnen Fällen sind es Ministerialbeamte, die Lösungsalternativen auswählen und sich um öffentlichen Konsens bemühen. Gerade wenn ein Gesetzentwurf auf diese Weise umsichtig abgesichert worden ist, schrecken Minister/-innen und Kabinett davor zurück, ihn durch gravierende Veränderungen noch infrage zu stellen.

Zusammenfassend formuliert: Es setzt sich „die Politik gegenüber der Verwaltung immer dann durch, wenn der Minister, die Regierung, das Parlament, Parteien oder die Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Entscheidungsthemakonzentrieren können“ (Scharpf 1973, S. 17), während das Gewicht der Ministerialbürokratie und einschlägiger Interessenverbände in dem Maße wächst, wie das Thema im Schatten des öffentlichen Interesses verbleibt.

c) Die Dominanz der Mehrheitsinitiative

Im Allgemeinen ergreift die Bundesregierung die Gesetzesinitiative. Ihre Vorlagen haben im Bundestag zudem deutlich höhere Erfolgschancen als solche aus dem Bundestag selbst oder solche des Bundesrates. So gingen im Zeitraum von 1949 bis 1998 75,7 % der verabschiedeten Gesetze auf Initiativen der Bundesregierung zurück (Schindler 1999b, S. 963) (zur Folgezeit siehe Tab. 7.5). Dass beschlossene Gesetze mehrheitlich auf Regierungsvorlagen zurückgehen, ist kein deutsches Sonderphänomen, sondern in fast allen westeuropäischen Staaten üblich (Ismayr 2008, S. 20). Vielfach wird hieraus auf eine Dominanz der Exekutive und einen entsprechenden Funktionsverlust des Bundestages bzw. dessen bloß akklamierende Rolle geschlossen. Eine derartige Interpretation geht jedoch fehl, weil es nach der Funktionslogik des parlamentarischen Regierungssystems zweitrangig ist, ob eine Initiative dem Bundestag oder der Bundesregierung entstammt.

Unterscheidet man dementsprechend danach, ob Initiativen aus dem Mehrheits- oder vom Oppositionslager kommen, ergibt sich für die erste Gruppe Folgendes. Ein Teil der parlamentarischen Mehrheitsinitiativen sind in Wirklichkeit solche der Bundesregierung, die sie nur aus Zeitgründen – um den für Regierungsvorlagen vorgeschriebenen Vorlauf beim Bundesrat einzusparen – in die Form parlamentarischer Initiativen kleidet. Umgekehrt entspringen zahlreiche Regierungsvorlagen politischen Anstößen aus den Mehrheitsfraktionen, die der Regierung nur die gesetzestechnische Ausarbeitung überlassen haben. Bei Initiativen, die sowohl tatsächlich aus den Mehrheitsfraktionen stammen als auch formell von ihnen eingebracht werden, arbeiten häufig nahestehende Ministerialbeamte beratend mit. Regierung und Mehrheitsfraktionen operieren als politische Handlungseinheit. Von den 543 in der 19. Wahlperiode verkündeten Gesetzen wurden 17,7 % vom Bundestag initiiert (N = 96). Von diesen 96 Initiativen hatten wiederum 92,7 % beide Regierungsfraktionen (N = 89) gemeinsam eingebracht (Tab. 7.5). Zählt man die 440 erfolgreichen Regierungsvorlagen hinzu, beruhten 97,4 % der Gesetze auf Mehrheitsinitiativen.

Tab. 7.5 Gesetzesinitiativen und ihr Erfolg

Die anderen parlamentarischen Gesetzesinitiativen sind solche der Opposition. Ihr Schicksal wirkt für die Opposition frustrierend: Handelt es sich um populäre Vorschläge, so neigt die Mehrheit dazu, sie unauffällig anzuhalten, um attraktive Inhalte durch eigene Initiativen zu übernehmen. Dies bedeutet, dass gestrandete oppositionelle Initiativen in der Sache „indirekt erfolgreich“ sein können. Die Show aber ist gestohlen, zum Erfolg der Opposition hat sie nichts beigetragen (Sebaldt 2001, S. 122 f., 145).

Letzten Endes scheitern oppositionelle Initiativen an der Regierungsmehrheit. Die Erfolgsquote der Oppositionsentwürfe im Zeitraum von 1972 bis 1983 lag noch bei 9,9 % (Nienhaus 1985, S. 168). Zur Zeit der christlich-liberalen Koalition 1983–90 wurde von den 262 oppositionellen Gesetzentwürfen nur ein einziges Gesetz (Schindler 1994, S. 823 f.), während der rot-grünen Regierung 1998–2002 und der Großen Koalition 2005–09 von 310 oppositionellen Gesetzesinitiativen keine einzige beschlossen (Deutscher Bundestag 2021). Noch am ehesten eine Chance haben Oppositionsinitiativen, wenn die Opposition den Bundesrat beherrscht und es um zweitrangige Fragen geht (Sebaldt 1992, S. 251, 259).

Langjährige Oppositionen haben hieraus gelernt und sich im Laufe der Zeit auf ausgewählte Initiativen beschränkt: „Wir sehen unsere Aufgabe nicht darin“, erklärte Oppositionsführer Barzel 1972 (zit. nach Veen 1976, S. 201), „an jedem Tag und zu jedem Thema den Vorschlägen der Regierung die der Opposition entgegenzusetzen, diesen noch zuvorzukommen.“. Bei Sozialdemokraten und Grünen hingegen waren in den achtziger Jahren derartige Verhaltensänderungen nicht erkennbar: Ihr Ausstoß an Vorlagen blieb hoch – sei es aufgrund einer Konkurrenz oppositioneller Parteien, sei es aufgrund vergrößerter Arbeitsstäbe.

Aussagekräftig ist es also nicht, zwischen Regierungs- und Parlamentsinitiativen zu unterscheiden, sondern zwischen Mehrheits- und Oppositionsinitiativen. Deutlich wird dann die Dominanz der Mehrheitsinitiative: Unter den 1990–2017 verkündeten Gesetzen beruhten auf Mehrheitsinitiativen (= alle Mehrheitsfraktionen oder Regierung) 88,8 %, hingegen auf solchen der Opposition nur 0,1 % (N = 4); der Rest entstammte Bundesrats- und gemeinsamen Initiativen (Deutscher Bundestag 2021). Es ist die Mehrheit, welche die legislative Funktion des Parlaments ausübt, und dies ist eine dem parlamentarischen Regierungssystem durchaus angemessene Praxis.

Bei dieser Dominanz der Mehrheitsinitiative haben es kleinere Fraktionen schwer, sich öffentlich zu behaupten. Die erfolgreichen unter ihnen besetzen konsequent ein oder wenige Themenfelder und profilieren sich auf diese Weise: so die FDP mit Wirtschaft und Steuern, die Grünen mit Ökologie und Pazifismus, der BHE lange mit Vertriebenen- und die PDS mit ostdeutschen Belangen. Solche „Nischen“ ermöglichen Überleben (Kranenpohl 1999, S. 180 ff.).

d) Die Ausschussphase – Züge eines Arbeitsparlaments

Nach der – meist nur formalen – 1. Lesung im Plenum wird ein Gesetzentwurf an die zuständigen Bundestagsausschüsse zur Bearbeitung überwiesen:

  • Der federführende Bundestagsausschuss holt Stellungnahmen anderer berührter Ausschüsse ein und diskutiert den Entwurf Schritt für Schritt. Er beschließt Änderungen.

  • Die so erarbeitete Ausschussfassung der Vorlage bildet die Basis für die 2. (und 3.) Lesung im Plenum. Dort trägt ein/-e Berichterstatter/-in des Ausschusses dessen Entscheidungen und die Begründungen vor. Änderungsanträge und Abstimmungen in der 2. Lesung sind zuvor in Fraktionssitzungen vorberaten, die zwischen dem Abschluss der Ausschussberatungen und 2. Lesung stattfinden.

Die Bundestagsausschüsse sind daher der Ort, wo Vorlagen, nicht zuletzt solche, über die innerhalb des Regierungslagers Meinungsverschiedenheiten bestehen oder zuvor keine abschließende Klärung stattgefunden hat, durchaus noch Änderungen erfahren können. Gewiss handelt es sich dabei meist um Änderungen in zweitrangigen Fragen. Der „Schwerpunkt der parlamentarischen Arbeit“ liegt daher in den Ständigen Ausschüssen des Bundestages, deren Beschlussempfehlungen an das Plenum „faktisch zumeist Entscheidungscharakter haben“ (Ismayr 2009, S. 101).

Stellt man den Typus des „Arbeitsparlaments“, das die Gesetzesvorlagen im Einzelnen durcharbeitet und formuliert, dem des „Redeparlaments“ britischen Musters gegenüber, in dem die Regierung ihre Gesetzesvorlagen unverändert durchbringt und deren parlamentarische Behandlung primär in der rhetorischen Auseinandersetzung für die Öffentlichkeit besteht, so ist der Bundestag als „Mischform“ (Steffani 1967) bezeichnet worden.

e) Bundesrat und Vermittlungsphase

Das Verfahren im Bundesrat ist, schon wegen der gesetzten knappen Behandlungsfristen – sechs bzw. bei eilbedürftigen Gesetzen drei Wochen – geraffter als im Bundestag. Vorlagen gehen sofort in die Ausschüsse und werden dann in einer Plenarsitzung behandelt und entschieden. Dabei prägen Vorklärungen und Rückkopplungen den tatsächlichen Ablauf:

  • Bereits während der Beratung in den Ausschüssen (wo jedes Land einen Sitz hat) stimmen sich deren Mitglieder mit ihren zuständigen Landesressorts, den Bevollmächtigten ihres Landes beim Bundesrat und der Staatskanzlei ihres Landes ab.

  • Die Ausschussempfehlungen werden dann in den Landeskabinetten behandelt, welche die Position des Bundeslandes festlegen.

  • Bei politisch brisanten Angelegenheiten haben die Bevollmächtigten gleicher parteipolitischer Couleur bereits zuvor eine gemeinsame Linie gesucht.

  • In der abschließenden Plenarsitzung begnügt man sich dann mit der Darstellung und Begründung der eigenen Position; polemische Angriffe sind nicht üblich (Schmedes 2019, S. 45 ff.).

Bei Dissens zwischen Bundestag und Bundesrat, wenn der Bundesrat einem vom Bundestag beschlossenen Gesetz die Zustimmung verweigert, ruft dann häufig der Bundestag den Vermittlungsausschuss an. In einzelnen Wahlperioden hat es über 100 solcher Anrufungen gegeben (Kropp 2010, S. 62). Während das Analogon des Vermittlungsausschusses, das US-amerikanische Conference Committee, von Fall zu Fall neu zusammengesetzt wird, stellt dieser ein allzuständiges Gremium dar. Angesichts seiner Größe sehen Akteure die Notwendigkeit, ihm eine vorbereitende „kleine Verhandlungsrunde“ vorzuschalten, um Kompromisse zu finden (Struck 1994, S. 504).

In der Vergangenheit haben Kontinuität, Vertraulichkeit, Weisungsungebundenheit, nicht zuletzt pragmatische Einstellungen den Ausschuss – wenngleich auch dort nach „Parteiblöcken“ getrennt vorberaten wird – befähigt, immer wieder in manchmal langen Pokerrunden „durch einen Tauschhandel erzielte(n) Kompromisse“ zu finden, die von Bundestag und Bundesrat dann unverändert anzunehmen oder zu verwerfen sind (Hasselsweiler 1981, S. 201, 208, 282 ff.). Generell scheint die Tatsache, dass man für einen Kompromiss die Zustimmung beider Gesetzgebungsorgane benötigt, auch zu argumentativen Diskursen beigetragen zu haben (Spörndli 2004, S. 59, 176 f.). Die Quote erfolgreicher Kompromisse, bis 1972 bei 100 %, sank in den folgenden zwei Legislaturperioden auf 93 bzw. 83 %, um dann wieder die 100 zu erreichen (Lhotta 2001, S. 102 f.). 1990–98 scheiterten allerdings von 43 Gesetzen, denen der Bundesrat seine Zustimmung verweigerte, 19 endgültig (Ziller 1998, S. 14).

f) Grenzen parlamentarischer Entscheidung

Die Entscheidungskompetenz des Bundestages ist nicht uneingeschränkt. Über die Grenzen hinaus, die ihm in einem föderalen Verfassungsstaat mit richterlichem Prüfungsrecht und einer zweiten föderalen Kammer mit häufig absolutem Vetorecht (früher bei gut der Hälfte aller Bundesgesetze – Amm 2005, S. 97) gesetzt sind, ist er als Parlament im EU-Verbund kompetenzrechtlich eingeschränkt. Außerdem bestehen mehrere spezifische Begrenzungen:

Erstens: Der Bundestag stößt im Bereich des Haushaltswesens auf das in Art. 113 GG festgehaltene Vetorecht der Bundesregierung gegen Ausgaben erhöhende oder Einnahmen mindernde Parlamentsbeschlüsse. Diese Regelung richtet sich gegen einen allzu spendablen Bundestag.

Zweitens: Wie auch in anderen Staaten üblich, besitzt die Regierung das Recht, internationale Verträge abzuschließen, zu deren Gültigkeit es lediglich einer Ratifizierung bedarf. Bei dieser hat das Parlament nur mit Ja oder Nein abzustimmen. Änderungen sind nicht zulässig, da andernfalls, wenn viele beteiligte Parlamente etwas ändern wollten, ein Abschluss von multilateralen Verträgen faktisch unmöglich würde.

Ferner reduziert sich die legislative Rolle des Bundestages im Falle seiner Handlungsunfähigkeit. Nach Art. 81 GG kann nämlich, sofern es an einer regierungstragenden Mehrheit im Bundestag fehlt, der Bundespräsident/die -präsidentin auf Antrag der Bundesregierung und mit Zustimmung des Bundesrates den „Gesetzgebungsnotstand“ für eine dringliche Gesetzesvorlage erklären. Dies hat zur Folge, dass die Vorlage allein durch Zustimmung des Bundesrates Gesetzeskraft erlangen kann. Deutlich ist hier, wie das Grundgesetz einer Machtverlagerung aus dem Parlament hinaus Riegel vorzuschieben, zugleich aber notwendige Entscheidungen zu ermöglichen sucht.

Die gleiche Zielrichtung verfolgt das Grundgesetz für den Verteidigungsfall, wenn der Bundestag nicht zusammentreten kann. In diesem Fall übernimmt ein 48-köpfiger „Gemeinsamer Ausschuss“ aus je einem weisungsungebundenen Vertreter eines jeden Bundeslandes und der doppelten Anzahl von Mitgliedern des Bundestages (die nach Verhältnis gewählt werden) die Funktionen von Bundestag und Bundesrat (Art. 53a und 115e GG).

Abschließend bleibt festzuhalten:

  1. 1.

    Der Repräsentationsanspruch des Bundestages, für das deutsche Volk zu sprechen, ist unbestritten und legitimiert sich durch freie Wahlen. Umfragen deuten lediglich auf Wünsche nach plebiszitären Ergänzungen, insbesondere bei Kompetenzabtretungen an die EU. Gestärkt wird der Bundestag in seiner Repräsentationsrolle durch einen im Ganzen bisher zufriedenstellenden Gesetzesoutput, hinsichtlich seiner Responsivität durch seine Parteienstrukturierung.

  2. 2.

    Der Dualismus Regierungsmehrheit – Opposition konnte bei der Ausübung der Funktionen des Bundestages (Wahlfunktion, Kontrolle, Gesetzgebung) als empirisch nachweisbare Realität gelten. Seit 2005 ist infolge der eingeschränkten Koalitionsmöglichkeiten (verändertes Parteiensystem!) die Regierungsbildung durch Wahl eines Bundeskanzlers erschwert. Ungewollte Koalitionen mit überdehntem Kompromisszwang implizieren nicht nur für die Regierungsparteien, sondern auch für den Bundestag einen unbefriedigenden Gesetzesoutput. Minderheitsregierungen, auch tolerierte, stellten kaum eine bessere Lösung dar.

Der Deutsche Bundestag ist nach dem Grundgesetz kompetenzrechtlich ein mächtiges Parlament, wie Martin Sebaldt (2009, S. 58, 227, 239 ff.; ders. 2013, S. 223, 226 ff., 235, 248) in einer vergleichenden Untersuchung von 23 etablierten Demokratien (anhand von über 30 Einzelvariablen) gezeigt hat. Er rangiert dabei an neunter Stelle, demgegenüber die Volksvertretungen Japans, Indiens, Kanadas, der USA, Großbritanniens und Frankreichs auf den Plätzen 17 bis 23. Ein Beispiel dafür, dass ein mächtiges Parlament „effektives staatliches Handeln“ unnötig beeinträchtigen kann, scheint das italienische, das den 3. Platz unter den mächtigen Parlamenten einnimmt. Im Übrigen dürfte Übergröße ein leistungsmindernder Faktor sein (die größten Parlamente in Demokratien haben Großbritannien, Deutschland und Italien – größer als die der USA, Indiens oder Japans). Für den Bundestag als Parlament im EU-Verbund kommt hinzu, dass sich seine legislative Macht in dem Maße verringert, wie Gesetzgebungskompetenzen an die Europäische Union abwandern. Berücksichtigt man dies, wäre er wohl – wie andere Parlamente in der EU – in der Machtrangliste zurückzustufen.