Mutter von Rammstein-Sänger veröffentlicht ihr erstes Buch
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Erinnerungen an die Wende

Mutter von Rammsteins Till Lindemann veröffentlicht Buch über DDR-Leben

Mecklenburg-Vorpommern / Lesedauer: 4 min

In ihrem Buch „Meine Fensterplätze“ erzählt die ehemalige Radio-Journalistin Gitta Lindemann aus ihrem Leben in der DDR und den Erinnerungen an die Wende.
Veröffentlicht:17.05.2024, 12:43

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„Meine Heimat geht gerade flöten. Ich fühle mich fremd und kann die Euphorie nicht teilen“, schreibt Gitta Lindemann in ihr Tagebuch. Es ist der 3. Oktober 1990. Gitta Lindemann ist damals Leiterin der Kulturredaktion von Radio MV. „Wir senden und senden und überlegen, wie lange noch?“

Dreiunddreißig Jahre später. Gitta Lindemann schreibt ein Buch. Inhalt: Mein Land, meine Liebe, meine Lebenslüge.

Gitta Lindemann, Jahrgang 39, studierte Journalistin, Arbeit bei Radio DDR im Studio Neubrandenburg und in Rostock, steht am 3. Oktober 1990 wie 17 Millionen DDR-Bürger vor der Frage: Wie soll es weitergehen? Was ist meine Biografie wert?

Tagebucheintragungen aus den Jahren 1990 bis 1992

Wir lesen ihr Tagebuch von Mai 90 bis Januar 92. „Geschichte erleben. Dabeisein. Veränderung… Vergangenheit  landet im Eimer… Ich bin jetzt Leiter der Kulturredaktion... ungutes Gefühl, wie immer: ich mogle mich durch“. - Noch gibt es die Landessender. Ihre Auflösung liegt in der Luft. Permanente Spannung. Tagsüber Hektik. Nachts die Ängste: Wo ist mein Land? Wo kann ich leben? Christa Wolf und ihr Aufruf „Für unser Land“ sind kurzzeitig ein Ruhepol für Nachdenkliche. Die große Dichterin wirft ihre Haltung in den Ring. „Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ziele, von denen wir einst ausgegangen sind…“. Die Schreiberin des Tagebuches gibt dem „Revolutionsdrama“ in diesen Tagen, Monaten, Jahren die Wort-Marke: Wahnsinn.

Wie viele Erzählungen, Romane, Geschichten gibt es über diese Zeit?! Nun auch Gitta Lindemann. Ja, nun auch Gitta Lindemann. Sie hat aufgeschrieben, was in den Wende-Jahren passierte. Minutiös, „frei von der Leber weg“, in der Sprache des Alltags, die Sorgen des Alltags.  Wir lesen ihre Notizen, nicht gewendet, nicht geschönt. Sie haben noch Geruch und Farbe, sind fast so alt wie die DDR an Jahren geworden ist. Aber aktuell wie die Nachrichten von heute. Vergangenheiten haben kein Verfallsdatum.

Tagebuch vom Januar 91: „Die Bomber sind an den Golf geflogen. Piloten aus der ehemaligen DDR waren auch an Bord. Es geschieht vor aller Augen. Wir halten nicht einmal den Atem an.“ - Auch heute reden wir über Krieg, über Waffenlieferungen. Menschen sterben. Ukrainer. Russen. Es ist ein anderer Krieg, aber die gleiche Frage: Halten wir den Atem an? Werfen wir unsere Haltung in den Ring? Oder mogeln wir uns weg?

Schonungslose Selbstkritik: „Ich habe mich weggemogelt“

Die Öffentlichkeit kennt Gitta Lindemann als engagierte Rundfunkjournalistin. Mit den Sendereihen „Literaten im Kreuzverhör“ und „Literaturcafé“ hat sie Persönlichkeiten von Kunst und Kultur auf die Bühne gehoben. Wer in den letzten fünfzig Jahren Radio gehört hat, kennt die Stimme von Gitta Lindemann. Aber diese Wahrheit reicht ihr nicht. „Wer bin ich gewesen, und wer bin ich heute“, will sie wissen.

Schonungslos betrachtet sie ihre Falten im Gesicht: „Ich habe mich gern weggemogelt. Bin an der Oberfläche geblieben. In meiner Arbeit und in meiner Liebe.“ Im Kapitel „Bruchstücke“ schreibt sie in einem Brief an ihren Mann Werner Lindemann: „Ich hab‘s vermasselt…Eigentlich habe ich erst nach deinem Tod damit begonnen, mit dir zu leben. Jahrzehntelang habe ich den Satz gesucht, der unser Leben beschreibt. Ich habe ihn nicht gefunden. Nun muss es ohne ihn gehen.“

Liebeserklärung an Sohn Till Lindemann

Das Buch von Gitta Lindemann ist ihre Lebens-Beichte. Im Privaten und im Gesellschaftlichen. Sie musste es schreiben. Musste ihr „Wegmogeln“ laut aussprechen. Bisweilen gelingt es ihr, sich „Fensterplätze“ zu bewahren. Wo die Seele ausruht. Wo sie mit ihren „Lebenslügen“ nachsichtig sein kann. Wir finden solche Fensterplätze in allen Kapiteln des Buches, immer dort, wo die Journalistin eine Landschaft oder eine Stimmung, ganz ohne Schuldgefühl, poetisch beschreibt.

Zu ihrer Beichte gehört auch die Liebeserklärung an ihren Sohn Till Lindemann. „Schön, wenn er da ist.  Er bringt Vergangenheit mit“.

Ein berührendes Stück Literatur

„Fensterplätze“ – hier traut sich eine, den Spiegel recht blank zu putzen, in den sie schaut. „Wer war ich, wer bin ich gewesen in den achtzig Jahren meines Lebens, im Umgang mit den Konflikten zweier Gesellschaftsmodelle, als Journalistin, als Frau und als Mutter“. Ihre Aufzeichnungen sind ein Blick zurück nach vorn: „Versäumt, vermasselt, gekämpft, gestritten, glücklich verloren oder unglücklich gesiegt – l e b e n, ja, l e b e n  kann man nie genug. Aber man sollte seine Haltung in den Ring werfen“.

Ein berührendes Stück Literatur über die Schwierigkeiten, ein Leben zu leben. Keiner wird es aus der Hand legen, ohne zu denken: Und ich?

Die Bilder von Rosa Loy, in warmen Farben, gegenständlich und in jugendstilistischer Anmutung gemalt, begleiten das Buch wohltuend.

Lesung in Neubrandenburg

Gitta Lindemann liest am Mittwoch, 29. Mai, in der Neubrandenburger Kunstsammlung aus ihrem ersten Buch „Meine Fensterplätze“. Zu der Veranstaltung ab 19 Uhr laden die Mecklenburgische Literaturgesellschaft und die Kunstsammlung zum Bücherfrühling. Mehr dazu hier.