Karl Kraus 150 Jahre Serie
Barbaren, die sich wider die Sprache wie auch gegen die Moral versündigen, bei der Arbeit: Die Nazis verbrennen am 1. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz Bücher der von ihnen verpönten Autoren.
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Sein Bekenntnis, dass ihm zu Hitler "nichts einfalle", schien Karl Kraus dann doch selbst erklärungsbedürftig. Die besorgten Anfragen hatten ihn ausgerechnet vonseiten seiner Anhänger erreicht: Mit der Machtergreifung der Nazis in Deutschland 1933 schien sich der schärfste Kritiker des grassierenden Ungeists in sein Schneckenhaus zurückgezogen zu haben.

Kraus ließ die Fackel pausieren. Als sie im Oktober desselben Jahres endlich wieder erschien, war sie aufsehenerregend dünn. Das Heft enthielt neben einem Nachruf auf Adolf Loos nur ein achtzeiliges Gedicht und das Bekenntnis, ausgerechnet jetzt, in der finstersten Stunde, die das deutsche Nachbarland erlebte, um das treffende Wort verlegen zu sein: "Ich bleibe stumm; / und sage nicht warum." Die Conclusio war indes noch deutlicher: "Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte."

Das Dementi war keineswegs ein Kapitulationsangebot. Kraus' bedrückende Aufarbeitung des Nazi-Terrors in dessen eigenen Gedanken, Worten und Werken umfasste rund 400 Buchseiten.

Serie Karl Kraus Jubiläum
Zuletzt entsetzt über den "Aufbruch der Hölle" anno 1933: Karl Kraus (1874–1936).
ÖNB-Archiv

Auf die Welt kam das Konvolut posthum – und durch glückliche Überlieferungsumstände. Der "Aufbruch der Hölle", wie Kraus die "völkische Revolution" nannte, war es dann doch wert, bei zahlreichen Namen genannt zu werden. Noch heute greifbar bleibt Kraus' tiefe Erschütterung angesichts eines Grauens, dessen Verursachung bereitwillig angekündigt worden war. Und Hitler, Goebbels, Göring, sie hielten, mitsamt ihren barbarischen Gefolgsleuten, allesamt Wort.

Der Satiriker konstatierte "persönliches Erschlaffen bei Erweckung einer Nation". Und blieb dennoch nicht den Nachweis schuldig, wie im Falle der Nazis Wort und Untat schlüssig auseinander hervorgingen. Schlimmer noch: Der braune Terror überstieg alle Vorstellungskräfte.

"Erweckung einer Nation"

Kraus berichtet, zitierend und glossierend, über die "Erweckung einer Nation und Aufrichtung einer Diktatur, die heute alles beherrscht außer der Sprache". Brüsk weist er jeden Verdacht von sich, mit der Gleichschaltung der veröffentlichten Meinung könnten Hitler und dessen Spießgesellen ihm, Kraus, einen Gefallen getan haben. Kraus' Hass auf die Presse war notorisch; doch das eine Übel dünkte ihn nicht darum geringer, weil das andere jedes moralische Maß überstieg.

Natürlich übte Karl Kraus an den Nationalsozialisten zuvörderst Sprachkritik. Noch aus den Zeugenberichten der verschiedenen Gräuel stieg ihm ein Gestank in die Nase, dessen Zustandekommen ihm durch die Anlagerung von Sprachunrat hinlänglich bewiesen schien.

Die Kraftmeierei des völkischen Diskurses verkörperte einen Tatendrang, der sich gegen alle richtete, die den Nazis nicht genehm waren. Zum Lippenbekenntnis der "Willensbildung" gesellte sich alsbald der "schlagende Beweis": Kraus erschrak zutiefst über die Tatsache, dass das Unmaß der Barbarei die Fassungskraft der Worte übertraf. Metaphern verloren binnen Monaten ihre Beweiskraft. Wie sollte man der höhnischen Versicherung von Barbaren trauen, sie würden keinem Juden "ein Haar krümmen", wenn es diesem doch gleich ausgerissen würde?

"Ideologie der Abmurksung"

Kraus lässt sich auf keinerlei Geplänkel ein, auch dann nicht, wenn er die Ergebenheitsadressen von Nazi-Gefolgsleuten wie dem Dichter Gottfried Benn zerpflückt. Nichts daran ist genüsslich. Hinter Benns hohlen Sätzen erkennt der Satiriker das Walten einer "Ideologie der Abmurksung". Benn lobte verzückten Blicks die irrationale Natur der Nazi-Diktatur: "Es handelt sich um das Hervortreten eines neuen biologischen Typs, die Geschichte mutiert und ein Volk will sich züchten."

Kraus nannte dergleichen "abgründig seichten Schmus". Und stellte fest, dass die Nazis nur schlecht ausdrücken konnten, was sie gegen andere im Schilde führten. Indem sie Juden erschlugen, in den Selbstmord trieben, sie enteigneten, in "Schutzhaft" nahmen. Oder gestandenen alten Kommunisten in den eilig errichteten Konzentrationslagern buchstäblich und tatsächlich Salz auf die Wunden streuten.

Kraus und Dollfuß

Die Sprache selbst schien dem Höllenzauber nicht gewachsen. Kraus vermutete, "dass viele, die der Bücherverbrennung zustimmten, das Autodafé vom Autor ableiten, wenn nicht vom Auto". Manchmal verbürgt eben doch die Rohheit der Sprache die Gewaltsamkeit derer, die, je schlechter sie denken, desto beherzter zupacken. Aus diesem Entsetzen heraus muss man Kraus' Eintreten für das heimische Dollfuß-Regime verstehen – als Minibollwerk wider die benachbarte Barbarei.

Nichts an der 1952 erstmals erschienenen Dritten Walpurgisnacht hat sich überholt. Man darf ohne falschen Alarmismus festhalten, dass nichts und niemand davor feit, dass aus der Sprache der Hetzer nicht doch noch Menschenhatz wird. Die dritte und letzte aller Walpurgisnächte bildet, nach den beiden faustischen Goethes, Karl Kraus' Vermächtnis an die Nachwelt. Mitunter machen "Begleiterscheinungen" das Wesen einer Sache aus. Auf die Genesungskräfte einer zuletzt sprachlich auf den Hund gekommenen Welt setzte der 1936 verstorbene Kraus nur geringe Hoffnungen. (Ronald Pohl, 15.5.2024)