Nach mehreren Tagen eines großen russischen Angriffs in der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine befindet sich das ukrainische Militär in einer schwierigen Lage. „Die Situation steht auf der Kippe und wird jede Stunde kritischer“, sagte Kyrylo Budanow, der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes der „New York Times“.
Er zeichnete ein düsteres Bild von der Lage an der Front. Ein Mangel an Personal und Munition erschwert den ukrainischen Streitkräften die Verteidigung. Die Verteidigungssysteme aus dem milliardenschweren Hilfspaket der USA sind größtenteils noch nicht eingetroffen.
Budanow erwartet, dass die ukrainischen Truppen in den nächsten Tagen in der Lage sein würden, die Front zu stabilisieren. Aber er warnte auch vor einem russischen Vorstoß ein Stück weiter nördlich der Millionenstadt Charkiw in Richtung der Gebietshauptstadt Sumy. Russland habe an der Grenze zur Region Sumy bereits Truppen platziert. Das solle die Ukraine zwingen, Soldaten aus anderen bedrohten Frontabschnitten abzuziehen.
„All unsere Truppen sind entweder hier (Region Charkiw, Anm.) oder in Tschassiw Jar“, sagte er mit Blick auf die strategisch wichtige Kleinstadt in der Region Donezk im Osten des Landes. „Ich hatte alles versucht. Doch leider haben wir niemanden in der Reserve“, sagte Budanow.
Am Dienstag traf der amerikanische Außenminister Antony Blinken zu einem Besuch in Kiew ein. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte bei dieser Gelegenheit weitere Patriot-Flugabwehrsysteme für Charkiw. Zum Schutz der Stadt und ihres Umlands vor Drohnen und Raketen seien zwei dieser Systeme notwendig, sagte Selenskyj. US-Hilfe für den Abwehrkampf sei von entscheidender Bedeutung. Dabei sei Flugabwehr das „größte Defizit“, sagte Selenskyj.
Der wie üblich aus Sicherheitsgründen nicht angekündigte Besuch war für Blinken der vierte seit Kriegsbeginn im Februar 2022. Zugleich war es die erste Visite nach Verabschiedung des Hilfspakets in Höhe von 61 Milliarden US-Dollar (56,5 Milliarden Euro).
Die Waffen seien teils schon eingetroffen, teils noch unterwegs, sagte Blinken. „Das wird auf dem Schlachtfeld einen realen Unterschied machen gegen die russische Aggression“. Er nannte aber keine Details. Bei einer Rede am Polytechnischen Institut von Kiew sagte er später, es werde nach Flugabwehrsystemen gesucht.
Russland verkündet Eroberungen in Region Charkiw
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs griffen russische Truppen derweil weiter in Richtung Sloboschanske an, das etwa 30 Kilometer nördlich Charkiws liegt. Militärexperten gingen auch davon aus, dass russische Truppen am Stadtrand von Wowtschansk, 40 Kilometer nordöstlich von Charkiw, stehen.
In Moskau verkündete das Verteidigungsministerium derweil die Eroberung der Ortschaft Buhruwatka südwestlich von Wowtschansk. Mit der Einnahme von sei es gelungen, in die Tiefe der ukrainischen Verteidigungslinien vorzudringen.
Am Freitag hatte Russland eine neue Offensive in der Region Charkiw begonnen und am Wochenende nach Angaben des Verteidigungsministeriums mehrere Dörfer erobert. Bei erneuten Angriffen auf die gleichnamige Stadt Charkiw am frühen Dienstagmorgen wurden nach Angaben der örtlichen Behörden vier Menschen verletzt. Die russischen Truppen hätten die zweitgrößte ukrainische Stadt mit neuen nachgerüsteten hochpräzisen Lenkbomben aus der Sowjetzeit attackiert, die Marschflugkörpern ähneln.