Mit 14 war sie „Christiane F.“, mit 16 floh sie vor dem Medienrummel erst nach London und dann nach Paris und mit 31 begann sie, Drehbücher zu schreiben. Nun, mit 55, hat Natja Brunckhorst ihren ersten Kinofilm inszeniert: „Alles in bester Ordnung“, eine feine, melancholische Komödie über die Zahntechnikerin Marlen (Corinna Harfouch), die nichts wegwerfen kann, und eines Tages den IT-Organisator Fynn (Daniel Sträßer) trifft. Ein Gespräch über ordentliche Messies, den Laptop als einzigen Besitz und die Frage, warum ihr Regiedebüt Jahrzehnte auf sich warten ließ.
WELT: Hat lange gedauert, der erste Spielfilm als Regisseurin. Warum?
Natja Brunckhorst: Unter anderem, weil es noch ein anderes Leben als Film gibt. Weil es mir wichtig war, mein Kind gut groß zu kriegen. Wenn man einen Film dreht, ist man ja vier Monate vollkommen weg. Und da hat es sich besser angeboten, zu schreiben. Ich bin mit dem Weg ganz zufrieden. Von dem Moment, als ich Regie führen wollte, hat es eben noch eine Weile gedauert mit dem richtigen Projekt, der Finanzierung, dem Drehstart. Filme machen ist etwas für Marathonläufer.
WELT: Auf den großen Festivals gewinnen nun lauter Frauen Preise: Eliza Hitman, Chloe Chao, Céline Sciamma. Frauen unter 40. Bedauern Sie etwas?
Brunckhorst: Dazu fällt mir ein Satz ein: „Demut heißt, nicht zu vergleichen“. Und Demut kann dir nicht schaden, gerade als Künstler. Wenn ich behaupten würde, ich hätte „Alles in bester Ordnung“ gemacht, wäre ich vollkommen durchgeknallt, so viele kreative Menschen waren daran beteiligt. Regisseure sind Universaldilettanten, oder sagen wir besser: Universalmanager, die ständig dabei sind, auf die Situation zu reagieren. Das Inhaltliche fällt mir leicht. Ich war schon immer Filmmensch, schon vor „Christiane F.“
WELT: Wann hat das angefangen?
Brunckhorst: Ich bin mit neun zum ersten Mal allein ins Kino gegangen, in das Studio-Kino am Adenauerplatz in Berlin, in „West Side Story“. Ich befand mich aber in der irrigen Annahme, dies sei ein Western. Dann kam stattdessen Maria, und sie hat mich unglaublich geflasht.
WELT: War ihnen mit 18 klar, dass Sie in dem Geschäft bleiben wollten?
Brunckhorst: Nö. Mir war ja auch nicht klar, in welcher Position. Schauspiel kann ich vielleicht ein bisschen, aber ich habe nicht die richtige Disposition für eine Schauspielerin. Ich mache gern eine kleine Show, wenn ich mit Mikro auf der Bühne stehe und mit dem Saal über meinen Film rede. Das habe ich in mir, aber ich bin nicht der Typ für den roten Teppich.
WELT: Sie sollen gesagt haben, als man Sie vom Schulhof weg als Christiane F. verpflichtete, „Na ja, wenn’s denn sein muss.“
Brunckhorst: Habe ich gesagt. Das ist halt diese Berliner Rotzigkeit. Da versteckt jeder Berliner seine Schüchternheit darunter.
WELT: Wie kommt man auf einen Film über eine Frau, die ihre Wohnung bis unter die Decke vollstellt, weil sie sich von nichts trennen kann?
Brunckhorst: „Alles in bester Ordnung“ ist eine Hommage an meine Mutter, die hochintelligent war und sehr hübsch. Und sehr viele Dinge bei sich zu Hause hatte. Sie ist leider schon tot, aber sie würde sich freuen über den Film. Mir war wichtig, dass man lachen kann und dass der Film keine Wertung vornimmt. Es gibt nicht zu viele Sachen oder zu wenige Sachen, es gibt kein Richtig und kein Falsch. Niemand braucht eine Marie Kondo, die einem sagt, das könne weg und das könne auch weg. Jeder Mensch hat eine eigene Wohlfühlzone.
WELT: Ein Begriff, der schnell angewendet wird, ist „Messie“. Was halten Sie davon?
Brunckhorst: Corinna Harfouchs Figur hat rein gar nichts mit einem „Messie“ zu tun. Sie ist eine Sammlerin, eine liebevolle Sammlerin von Dingen. Es geht um Wertschätzung.
WELT: Trotzdem ist sie zu Filmbeginn, als sie erstmals jemanden in ihre Wohnung lässt, schon zu der Erkenntnis gekommen, dass sie sich von einigem trennen muss. Das sehen die meisten Sammler nicht so, oder?
Brunckhorst: Das stimmt nicht. Es ist genau umgekehrt: Alle, die viel zu viel angehäuft haben, wissen, dass sie etwas unternehmen müssen. Das werden sie dir auch direkt ins Gesicht sagen. Nur: Das heißt noch lange nicht, dass sie die Kraft haben, etwas zu unternehmen. Selbst wenn – wie im Film – sich Hilfe anbietet, ist das nicht unbedingt nützlich. Gegenstände sind ja wie unsere zweite Haut. Dinge, die wir täglich anfassen, machen etwas mit uns, wie zum Beispiel dein Lieblingspullover. Ich habe eine Liebesbeziehung zu meinem alten Computer – er ist mittlerweile neun Jahre alt –, und niemand versteht, warum ich den noch benutze. Ich kann mir aber nicht vorstellen, mit einem anderen zu schreiben, solange er noch funktioniert.
WELT: Wir haben das Gegensatzpaar: Er als berufsmäßiger Organisator und sie, die mit Ordnung nicht viel am Hut hat.
Brunckhorst: Sie hat mit Ordnung sehr viel am Hut. Sie räumt jeden Tag um, sie denkt sehr viel darüber nach, wo die Dinge hinkommen. Die meisten solcher Menschen wissen genau, wo was zu finden ist. Sie besorgen sich viele Ordnungshilfen, wie Aktenordner oder Ablagen. Ich habe mit jemandem geredet, der sagte mir: „Ich sortiere alles nach Format, dadurch weiß ich, wo was ist.“ Aber es ist zu viel.
WELT: Das ist die Ordnung aus dem Zwang heraus, immer mehr unterbringen zu müssen, wie bei Marlen. Den inneren Drang nach Ordnung, den hat Fynn.
Brunckhorst: Woher das bei den beiden kommt, wollte ich gar nicht genau erklären. Ich habe auch meinen beiden Schauspielern gesagt, sie seien nichts Besonderes. Sie seien einfach Menschen. Es geht nicht um eine Krankheit. Es ist einfach das Leben.
WELT: Wo ordnen Sie sich auf einer Ordnungsskala von eins bis zehn ein?
Brunckhorst: Das wabert hin und her. Hat man Kinder oder nicht? Ist man noch jung oder älter? Die erste Wohnung ist unordentlicher als die zweite. Du musst nur das Gefühl haben, Ebbe und Flut, das Rein und das Raus seien ungefähr ausgeglichen. Als meine Tochter noch bei mir lebte, hatte ich mehr Sachen als jetzt. Einmal kam mein Chor zu Besuch, 30 Leute, und ich habe gemerkt, dass ich jedem einen Teller in die Hand drücken konnte. Die Wohnung hat es hergegeben. 30 Teller habe ich jetzt nicht mehr. Ich mache das zurzeit so, dass ich jeden Tag ein Ding weggebe. An schlechten Tagen tue ich eine Sache weg, die mir leichtfällt, die ich schon lange aussortieren wollte. An guten Tagen trenne ich mich von etwas, das mir wehtut.
WELT: Ein paar Beispiele, bitte.
Brunckhorst: An schlechten Tagen gehe ich an den Schreibtisch und haue ein paar Papiere weg. Da muss ich nicht so viel darüber nachdenken. An guten Tagen gehe ich an den Kleiderschrank, der voll ist, weil ich bei Kleidung oft an Sicherheit denke. Da habe ich einen Tick zu viel. Den Pullover, den mag ich, aber der kommt nun trotzdem mal weg. Meine Tochter hingegen baut gerade auf.
WELT: Wir leben ja tendenziell in Zeiten, in denen man nicht mehr so viel durch Leben schleppt, im Extremfall nur noch seinen Laptop wie Fynn. Mir käme das etwas gruselig vor.
Brunckhorst: Wenn es Ihnen damit gut ginge, wäre das doch in Ordnung. Mir persönlich wäre das auch zu wenig. Ich reise oft und mache manchmal Fotos von den Decken der Hotelzimmer (die übrigens alle ziemlich ähnlich aussehen). Danach bin ich immer unglaublich froh, wieder nach Hause zu kommen und mich auf mein Sofa mit meiner Lieblingsdecke zu setzen. Ein Mensch wie Fynn ist für mein inneres Gefühl ein bisschen zu frei. In dem Sinn, immer unterwegs zu sein und keine Bindung eingehen zu können. Aber auch das ist nur eine Interpretation von mir. Und genau das versuche ich in meinem Film zu vermeiden.
WELT: Sie sind nach „Christiane F.“ total verschwunden, nach London. Was nahmen Sie mit?
Brunckhorst: Da hatte ich auch nur einen Koffer. Und sehr nette Leute, die mich aufgenommen haben.
WELT: Wie lange hat diese Nichtsesshaftigkeit gedauert?
Brunckhorst: Gar nicht so lange. Mit 15 bin ich zu Hause ausgezogen, mit 16 nach London abgehauen, mit 18 war ich schon wieder sesshaft in dem Sinn, dass ich eine feste Wohnung hatte. Das ist Jugend, das ist normal.