Egon Bahr: Dank ihm erkannte Deutschland die Oder-Neiße-Grenze an

Egon Bahr: Dank ihm erkannte Deutschland die Oder-Neiße-Grenze an

Der SPD-Ostpolitiker Egon Bahr wird von manchen nur noch als Irrender wahrgenommen. Sein Konzept „Wandel durch Annäherung“ verdient aber mehr Aufmerksamkeit.

Der SPD-Politiker Egon Bahr spricht am 19.03.2007 in Berlin im Willy-Brandt-Haus beim SPD-Empfang zu seinem 85. Geburtstag vor der Statue von Willy Brandt zu den Gästen. Egon Bahr ist im Alter von 93 Jahren gestorben.
Der SPD-Politiker Egon Bahr spricht am 19.03.2007 in Berlin im Willy-Brandt-Haus beim SPD-Empfang zu seinem 85. Geburtstag vor der Statue von Willy Brandt zu den Gästen. Egon Bahr ist im Alter von 93 Jahren gestorben.Johannes Eisele/dpa

Umstritten war der Sozialdemokrat Egon Bahr sein gesamtes politisches Leben lang bis zu seinem Tode 2015. Bewunderern galt er als beispielgebender Friedenspolitiker, politischen Gegnern als allzu nachgiebig gegenüber Moskau. In einer Zeit, in der russische Truppen ukrainische Städte erobern, gilt Egon Bahr manchen als durchweg negative Figur.

Den „Bahr der Woche“ als Antipreis vergibt eine kleine Gruppe von Aktivisten, der sogenannte „Ostausschuss“, nicht zu verwechseln mit dem mitgliederstarken Ostausschuss der deutschen Wirtschaft. Jüngst ging der „Bahr der Woche“ an den Chefredakteur der Berliner Zeitung, Tomasz Kurianowicz.

Zum kleinen „Ostausschuss“ gehört auch der Historiker Jan Claas Behrends, der zu den Unterzeichnern eines im März veröffentlichten Briefes mehrerer Historiker und SPD-Historiker an den Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gehört. Das Schreiben, das auch die Unterschrift des Historikers Heinrich August Winkler trägt, moniert, dass „die Tradition der Außenpolitik Egon Bahrs nach wie vor unkritisch und romantisierend als Markenzeichen der SPD hochgehalten“ werde.

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Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil, kein Politiker mit Profil für strategische Debatten, reagierte auf die Vorwürfe defensiv und betonte seine Gesprächsbereitschaft. Ein öffentlicher Diskurs darüber, was Bahrs Außenpolitik war, wovon sie ausging und wie sie entwickelt wurde, fand nicht statt, weder innerhalb noch außerhalb der SPD.

Um zu verstehen, was Egon Bahr umtrieb, ist ein Blick auf einige Lebensabschnitte hilfreich. Bahr war Jahrgang 1922. Dieser Jahrgang, genauer, seine männliche Hälfte, war durch den Krieg furchtbar dezimiert worden. Die jungen Männer des Jahrgangs 1922 sahen nach Kriegsende meist nur einen kleinen Teil ihrer Klassenkameraden wieder.

Auch Egon Bahr war Soldat in der Wehrmacht gewesen. Anders als andere Deutsche seines Jahrgangs machte er sich schon als Soldat über die Nazis keine Illusionen. Denn seine Großmutter, die Mutter seiner Mutter, galt nach den Nazi-Rassengesetzen als „Volljüdin“. Das hatte zur Folge, dass Bahr als „Mischling zweiten Grades“ eingestuft wurde. Daher warf das NS-Regime ihm vor, er habe sich „in die Wehrmacht eingeschlichen“. Er wurde zwangsweise in einen Rüstungsbetrieb geschickt.

Diese einschneidenden Erlebnisse hatten Bahr tief geprägt. Er verachtete die Nazis und ihre Mitläufer. Und er hasste den Krieg. Kriege durch kluge Politik zu verhindern, das wurde ihm zur Lebensaufgabe. So wurde er schließlich 1956 Sozialdemokrat. Und um seinen Landsleuten zu helfen, Schlussfolgerungen aus dem Krieg und der Hitlerdiktatur zu ziehen, arbeitete er nach Kriegsende als Journalist. Bahr war Mitarbeiter der Berliner Zeitung, die ab 1945 im sowjetischen Sektor Berlins erschien.

Ihr erster Chefredakteur, Rudolf Herrnstadt, war ein brillanter Journalist. Vor 1933 hatte er beim Berliner Tageblatt gearbeitet, einer bürgerlichen Zeitung unter dem Chefredakteur Theodor Wolff. Herrnstadt emigrierte vor den Nazis in die Sowjetunion und arbeitete für den sowjetischen Militärgeheimdienst. Bahr spürte die Zwiespältigkeit dieses Mannes, der hin- und hergerissen war zwischen dem Anspruch, ein guter Journalist zu sein, und seiner Loyalität gegenüber dem Sowjetsystem.

Egon Bahr sah täglich, was der Stalinismus anrichtete und dass es in dessen Machtbereich keine Pressefreiheit geben konnte. Bahr wechselte nach West-Berlin. Dort stieg der wortgewandte junge Mann zum Chefkommentator des Rias auf, des Rundfunks im Amerikanischen Sektor. In der DDR galt er deshalb jahrelang als Kalter Krieger.

Bundeskanzler Willy Brandt kniet am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal im einstigen jüdischen Ghetto in Warschau.
Bundeskanzler Willy Brandt kniet am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal im einstigen jüdischen Ghetto in Warschau.dpa

Politik und Dialektik: Wandel durch Annäherung

Die deutsche Teilung erschien ihm wie den meisten Menschen seiner Generation als ein unnatürlicher Zustand. Er wusste sowohl durch das konspirative Korrespondentennetz des Rias als auch durch das in West-Berlin ansässige SPD-Ostbüro, das über viele Zuträger in der DDR verfügte, dass ein großer Teil der DDR-Bevölkerung bis weit in die SED hinein mit den Sozialdemokraten sympathisierte.

Aber ihm wurde spätestens nach dem Mauerbau klar, dass eine Vereinigung Deutschlands nicht durch Sonntagsreden oder markige Aufrufe zum Sturz des SED-Regimes zu erreichen war. Diese Einsicht teilte er mit Willy Brandt, der damals als Regierender Bürgermeister unter Aufsicht der Westalliierten Verantwortung für West-Berlin trug. Für ihn war Bahr ab 1960 als Pressesprecher tätig.

Die auf Bundesebene regierende CDU befand sich damals im Niedergang. Sie hatte die Bundesrepublik in eine wachsende Isolation geführt: durch ihre Weigerung, die Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze anzuerkennen, und durch die beharrliche Ablehnung von Verhandlungen mit der Regierung der DDR. Die SPD wollte sich als regierungsfähig erweisen. Sie suchte nach einer außenpolitischen Alternative zur CDU-Politik.

In dieser Situation hielt Egon Bahr am 15. Juli 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing eine Rede. Er gab damit den entscheidenden Impuls für die spätere neue Ostpolitik. Eine Kernthese des damals 41-Jährigen war: „Die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung sind nur mit der Sowjetunion zu schaffen.“

Der SPD-Stratege plädierte für „die Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll“. Denn die deutsche Wiedervereinigung, so Bahr, werde „nicht ein einmaliger Akt“ sein, „sondern ein Prozess mit vielen Schritten und vielen Stationen“. Bahr beschrieb das Ziel dieser Politik: Die „Zone“, wie er die DDR im westdeutschen Jargon jener Zeit nannte, müsse „mit Zustimmung der Sowjets transformiert“ werden.

Bahr hatte die Dialektik politischer Vorgänge begriffen und offensichtlich aufmerksam studiert. Er hatte erkannt, dass nur Veränderungen in der sowjetischen Politik einen Wandel auch in der DDR ermöglichen konnten. Bahr sagte, er wolle langfristig eine „Auflockerung der Grenze und der Mauer.“ Das Ziel sei „Wandel durch Annäherung“.

Diese Politik, so Bahr, erfordere es, „sich selbst und die andere Seite zu öffnen“. Denn „zunehmende Spannung“, so Bahrs Analyse, stärke nur Walter Ulbricht, den damaligen Chef der SED. Bahr warnte vor der „Gefahr eines revolutionären Umschlages“ in der DDR, weil dies „das sowjetische Eingreifen aus sowjetischem Interesse zwangsläufig auslösen würde“.

Damit entwickelte Bahr eine Sicht, der er bis 1989 treu blieb und die ihm seine heutigen Kritiker vorwerfen. Man wird seiner damaligen Einschätzung nicht gerecht, wenn man sie aus dem geschichtlichen Kontext löst. Zehn Jahre vor seiner Rede, im Juni 1953, hatte das sowjetische Militär einen Aufstand in der DDR niedergeschlagen, mit Todesopfern und Schwerverletzten. Und nur sieben Jahre zuvor war der Ungarn-Aufstand im Herbst 1956 noch weit blutiger niedergeschlagen worden.

Vor diesem Hintergrund hatte Bahr die Befürchtung, die als unabhängige Gewerkschaft 1980 in Polen entstandene Bewegung Solidarność könne einen sowjetischen Militäreinmarsch in Polen provozieren. Womöglich hatte Bahr die Gefahr einer solchen Intervention durch die bereits in Afghanistan gebundene sowjetische Armee überschätzt. Wenn das so ist, teilte er diesen Irrtum mit vielen anderen.

Hinsichtlich der DDR betonte Bahr in seiner Rede 1963, dass „jede Politik zum direkten Sturz des Regimes drüben aussichtslos“ sei. An die Adresse von Befürwortern radikaler Wirtschaftssanktionen gegen die DDR ging, es sei „eine Illusion, zu glauben, dass wirtschaftliche Schwierigkeiten zu einem Zusammenbruch des Regimes führen könnten“.

Egon Bahr (r.) mit Willy Brandt im Jahr 1979 während eines Spaziergangs im Park des Hospitals Leon Berard.
Egon Bahr (r.) mit Willy Brandt im Jahr 1979 während eines Spaziergangs im Park des Hospitals Leon Berard.Fritz Fischer/dpa

Bahr betonte, er vertrete eine „Politik ohne Illusionen“ im Rahmen einer „Strategie des Friedens“. Diesen Begriff hatte er bewusst gewählt. Er stammte aus einer Rede, die der damalige Präsident der USA John F. Kennedy kurz zuvor, am 10. Juni 1963, an der American University in Washington gehalten hatte. Damit wollte Bahr deutlich machen, dass er und die deutschen Sozialdemokraten die Bindungen an die USA und die Nato keineswegs schwächen wollten. Die neue Ostpolitik, so sahen es Willy Brandt und Egon Bahr, sollte sich in eine generelle Entspannungspolitik des Westens einfügen.

Ab 1967 erhielt Bahr die Gelegenheit, seine theoretischen Überlegungen in praktische Politik umzusetzen. In der im November 1966 gebildeten Großen Koalition von CDU/CSU und SPD war Willy Brandt Außenminister unter dem CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger. Bahr leitete im Auswärtigen Amt die Planungsabteilung.

Von dort stellte er die Weichen für die neue Ostpolitik. Im Jahre 1967 hatte die Bundesrepublik Deutschland – heute kaum noch vorstellbar – keine diplomatischen Beziehungen mit Polen. Denn die Bundesrepublik weigerte sich, die Westgrenze Polens an den Flüssen Oder und Neiße anzuerkennen. Die DDR hatte diese Grenze bereits im Juli 1950 vertraglich anerkannt.

Warschauer Vertrag: Erste Schritte zur neuen Ostpolitik

Die Bundesrepublik befand sich gegenüber Polen in einer Sackgasse, aus der sie erst mit der von Bahr entwickelten Strategie des Wandels durch Annäherung herausfinden konnte. Als Willy Brandt im Herbst 1969 zum Bundeskanzler gewählt wurde, bereitete Bahr als Staatssekretär im Bundeskanzleramt ein Abkommen mit Polen vor. Diese Vereinbarung, die als Warschauer Vertrag in die Geschichte einging, unterzeichneten beide Länder im Dezember 1970.

Das Warschauer Abkommen erklärte die Grenzen beider Länder für unverletzlich. Das war eine faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, was damals wütende Reaktionen bei Vertriebenenfunktionären und Ultrarechten hervorrief.

Nach dem Vertragsabschluss kniete Brandt überraschend vor dem Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos nieder. Dass die damalige Volksrepublik Polen nun zu Beziehungen mit der Bundesrepublik bereit war, lag auch daran, dass es Bahr und Brandt im Sommer 1970 gelungen war, auch mit der Sowjetunion ein Abkommen über friedliche Beziehungen und den Verzicht auf Gebietsansprüche zu vereinbaren. Das Moskauer Abkommen war der Durchbruch der neuen Ostpolitik, der nach dem Warschauer Abkommen auch die Unterzeichnung des Grundlagenvertrags mit der DDR 1972 möglich machte.

Egon Bahr und Willy Brandt treffen Leonid Breschnew.
Egon Bahr und Willy Brandt treffen Leonid Breschnew.Eduard Pesov/imago

Dieser Vertrag mit der DDR sah den Austausch „Ständiger Vertreter“ vor, gutnachbarliche Beziehungen, einen Gewaltverzicht und ein Bekenntnis zur Charta der Vereinten Nationen. Der Grundlagenvertrag ebnete zahlreichen weiteren Verträgen den Weg und ermöglichte es Millionen von Westdeutschen, auch vielen früheren Flüchtlingen aus der DDR, regelmäßig die DDR zu besuchen. Möglich wurden auch Telefonate von Bürgern beider Staaten.

Wie sehr diese Ergebnisse der von Bahr und Brandt vertretenen Politik die sowjetische Führung beunruhigten, zeigt ein bis zum Ende der DDR geheimes Gesprächsprotokoll des SED-Generalsekretärs Erich Honecker mit dem sowjetischen Außenminister Andrei Gromyko im Mai 1978. Das Stenogramm des Gespräches ist in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte, Heft 1/2011, dokumentiert. In dem Gespräch warnte Gromyko den SED-Chef vor einer Destabilisierung der DDR durch millionenfache, kaum kontrollierbare Kontakte in den Westen. Honecker reagierte darauf mit der Behauptung, die SED sei wie nie zuvor in der Bevölkerung verankert, die Sowjets müssten sich keine Sorgen machen.

Zu dieser Zeit arbeitete Egon Bahr an Ansätzen für ein Konzept gemeinsamer Sicherheit in Europa, das die Militärblöcke letztlich überflüssig machen sollte. Diesen Grundgedanken entwickelte Bahr auch in Interviews weiter. Er wollte auch die Russische Föderation in ein solches Sicherheitskonzept einbeziehen.

Heinrich August Winkler wirft Bahr vor (unter anderem in einem Beitrag in der FAZ vom 15. Juli 2023), er habe den Unterschied zwischen der späten Sowjetunion und dem heutigen Russland verkannt. Die Sowjetunion, so Winkler, sei schließlich „zu einer konservativen, auf die Wahrung des Status quo ausgerichteten Macht geworden“. Das „Russland Putins“ hingegen sei „eine revisionistische Macht, die vor Krieg nicht zurückschreckt“.

Es ließe sich die Frage stellen, ob der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan 1979 sich in das vereinfachte Bild einer Status-quo-Macht fügt. Noch interessanter wäre es für Historiker zu untersuchen, ob es in Moskauer Entscheidungen für Einmärsche in Nachbarländer damals und heute auch äußere Faktoren gab, bedingt durch das Agieren geopolitischer Konkurrenten. Das waren Fragen, die sich Bahr immer wieder stellte.

Gibt es eine Wechselwirkung zwischen einer Perzeption von Bedrohung durch die politische Führung in Moskau und den traditionellen imperialen Triebkräften Russlands, die auch in der Sowjetunion wirkten?

Egon Bahr 
Egon Bahr Sven Simon/imago

In diesem Kontext gewinnen womöglich zwei Thesen Egon Bahrs aus seiner Rede über „Wandel durch Annäherung“ von 1963 aktuelle Bedeutung für den Umgang mit dem heutigen Russland: Dass „jede Politik zum direkten Sturz des Regimes drüben aussichtslos ist“. Und, mehr als zwei Jahre nach der Verhängung von Sanktionen wegen des Ukrainekrieges: Es sei „eine Illusion zu glauben, dass wirtschaftliche Schwierigkeiten zu einem Zusammenbruch des Regimes führen werden“.

Womöglich lohnt es sich auch, darüber nachzudenken, warum Bahr und Brandt nach dem brachialen Einmarsch der Sowjetunion in Prag 1968 keine „Zeitenwende“ verkündeten und keinen Kurs auf Aufrüstung nahmen, sondern ihre Politik des Wandels durch Annäherung fortführten.

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