„Die Bücherdiebin“: Der Tod ist ein Märchenonkel - WELT
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Film „Die Bücherdiebin“

Der Tod ist ein Märchenonkel

„Die Bücherdiebin“: Wörter sind Leben

Basierend auf dem gleichnamigen Bestseller ist „Die Bücherdiebin“ ein bewegendes Drama um das Mädchen Liesel, das bei Pflegeeltern in Nazi-Deutschland aufwächst, die einen Juden im Haus verstecken.

Quelle: Fox

Autoplay
Der Holocaust ist hier nur ein entferntes Drama: Brian Percival hat „Die Bücherdiebin“ verfilmt und den Weltbestseller des Australiers Markus Zusak in stark polierte Bilder gepackt.

Jeder Blick auf das Grauen des Holocaust ist heute geprägt vom Schock und der Scham der Nachgeborenen. Da ist es natürlich erst mal eine gute Idee, mit den unschuldigen Augen eines Kindes zu schauen, das versucht, sich seinen eigenen Reim auf die Ereignisse zu machen. Das hat in der Verfilmung von John Boynes „Der Junge mit dem gestreiften Pyjama“ ebenso gut funktioniert wie in Cate Shortlands Interpretation von Rachel Seifferts Geschichten in „Lore“, die beide aus der Perspektive von Kindern der Nazis erzählt sind.

Die Titelheldin von Markus Zusaks in 30 Sprachen übersetztem und weltweit millionenfach verkauftem Bestseller „Die Bücherdiebin“ hat freilich als Tochter einer Kommunistin einen zumindest ideologisch leichteren Start, was nicht heißt, dass die Geschichte ihres Coming of Age unter den erschwerten Bedingungen des Krieges ein Zuckerschlecken ist.

Es fängt schon damit an, dass ihre Mutter (Heike Makatsch) unter dem Druck des Regimes gezwungen ist, ihre Kinder in die sichere Obhut einer Pflegefamilie zu geben. Und als wäre das allein nicht genug, stirbt auch noch ihr kleiner Bruder auf der Reise in die süddeutsche Kleinstadt, wozu die Ersatzmutter Rosa Hubermann statt Mitgefühl nur eine erboste Tirade übrig hat. Der einzige Lichtblick in dieser fremden, unwirtlichen Welt ist Rosas Mann Hans, der eine Kinderseele mit einem einzigen verschwörerisch verschmitzten Lächeln zu erwärmen vermag.

Schnee rieselt, aber es wird nicht kalt

Der 1975 in Sydney geborene Markus Zusak hat die fiktive Geschichte von Liesel mit den Zeitzeugenberichten seiner in den Dreißigerjahren aus München geflohenen Großeltern unterfüttert. Dadurch bekommt die versöhnliche Erzählung von der Rettung durch Sprache und Imagination düstere Abgründe, für die sich der britische Fernsehregisseur Brian Percival, dessen bekannteste Arbeit einige Episoden der Fernsehserie „Downton Abbey“ sind, aber leider nicht wirklich interessiert. Seine polierten Bilder verraten nichts von der Offenheit des Blicks oder den Erschütterungen der Wahrnehmung.

Stattdessen macht er die Zuschauer zu Zaungästen, die durchs Fenster der Historie schauen, dort aber vor allem die Kulissen von Babelsberg sehen, in denen „Die Bücherdiebin“ in etwa zur selben Zeit gedreht wurde wie George Clooneys auch eher wirklichkeitsfremde „Monument’s Men“. Statt die Zuschauer dem realen Grauen der Nazis auszusetzen, zeigt er ihnen eine märchenhafte Schneekugelwelt, in der die Flocken leise rieseln, ohne dass es jemals kalt wird.

Bücherverbrennung und Judendeportation sind Episoden eines im Grunde weit entfernten Dramas, das im sentimentalen Soundtrack von Steven Spielbergs Hauskomponist John Williams erstickt wird. Selbst der Tod, der als allwissender Erzähler durch die Geschichte führt, wirkt im Film, von Ben Becker gesprochen, wie ein lieber Märchenonkel.

Emily Watson vermittelt Verbitterung

So bleibt es allein den Schauspielern überlassen, an den harten, emotionalen Kern der Geschichte vorzudringen. Als Rosa Hubermann vermittelt Emily Watson tatsächlich ein Gefühl davon, was es bedeutete, 1938 in einer süddeutschen Kleinstadt zu leben. Mit jeder Faser ihrer ebenso zerbrechlichen wie zähen Erscheinung vermittelt sie jene Verbitterung durch Armut und Plackerei, die Leute wie sie damals zur leichten Beute der Nazis machten, aber auch die Menschlichkeit, die sie davor bewahrte.

Bei Liesels Ankunft mag sie noch ein unversöhnlich harter Brocken sein, doch schon am nächsten Morgen, wenn der Nachbarsohn das Mädchen zur Schule abholen will, blafft sie ihn mit mütterlichem Stolz an, warum in Gottes Namen er denke, er sei gut genug für „ihre Tochter“. Als ein paar Wochen später an ihrer Tür der erwachsene Junge eines jüdischen Kriegskameraden ihres Mannes steht, fürchtet man ihre unerbittliche Abweisung und wird stattdessen von ihrer ganz selbstverständlichen Barmherzigkeit überrascht. Da wird spürbar wie sich Geschichte aus vielen kleinen, individuellen Entscheidungen zusammensetzt.

Während die sonst eher leise Emily Watson hier von den physischen Herausforderungen einer rastlos agierenden Frau ausging, schöpft Geoffrey Rush die Kraft seiner Figur aus der Ruhe. Während er in Filmen wie „Der Fluch der Karibik“ oder „The Offer – das beste Angebot“ oft schillernde, extravagante Rollen gespielt hat, geht er hier sehr reduziert und fast minimalistisch heran.

Sophie Nélisse sieht aus wie ein Kinderstar

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Schließlich bezaubert die Kanadierin Sophie Nélisse mit Charme und Anmut als Bücherdiebin. Mühelos geht sie nicht nur als elfjähriges Mädchen durch, sondern auch als die 17-jährige junge Frau, zu der sie sich am Ende entwickelt hat, auch wenn ihre allzu lieblichen Löckchen sie bisweilen eher wie ein Kinderstar aussehen lassen als wie eine Göre in Kriegszeiten.

Indem Hans der kleinen Analphabetin im Keller seines Hauses das Lesen beibringt, eröffnet er ihr nicht nur eine Fluchtmöglichkeit aus der Kriegsrealität in die tröstende Welt der Imagination, sondern vor allem auch ein Wertesystem: „Geschichten, Literatur, die Künste, der Film, Musik vermitteln dem Menschen im Laufe des Lebens eine moralische Struktur und ein humanistisches Weltbild“, sagt Emily Watson: „Als kultivierter Mensch hat man sehr viele Geschichten und Kunstwerke aufgenommen und durch sie gelernt. Wird das vorenthalten oder zensiert, dann macht sich die Leere der Ignoranz breit, die wiederum zu Vorurteilen und Extremismus führt.“

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