Kant-Lexikon: Erscheinung | Rudolf Eisler
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Erscheinung

Erscheinung ist nicht Schein (s. d.), sondern hat Realität, wenn auch nicht die absolute Realität des „Ding an sich“ (s. d.), sondern „empirische“ Realität. Erscheinung ist die Wirklichkeit in Beziehung auf die Sinnlichkeit und den Verstand, die Art und Weise, wie sich das Wirkliche in den Formen der Anschauung (Raum und Zeit) und des Verstandes (Kategorien) darstellt, und zwar allgemein für alle erkennenden Subjekte. Die objektive Erscheinung ist also weder etwas von allem Bewußtsein völlig Unabhängiges, noch eine bloße Summe subjektiver Erlebnisse, sondern der Gegenstand möglicher Erfahrung, der in für alle Subjekte gleichen, einheitlich-gesetzmäßigen Zusammenhängen besteht. Die Phänomene sind kategorial bestimmte Glieder möglicher Erfahrung; ihnen werden gedanklich die Noumena (s. d.) gegenübergestellt, welche letztere Kant. erst für erkennbar, später aber als unerkennbare Dinge an sich betrachtet, da nicht nur die Sinneswahrnehmung, sondern auch die verstandesmäßige Erkenntnis die Dinge nur so erfassen kann, wie sie sich in den Formen des erkennenden Bewußtseins darstellen. Die Erscheinung enthält etwas Materiales (die Empfindung), was auf Rechnung des Ding an sich zu setzen ist, und etwas Formales, was aus der Funktion des Subjekts selbst entspringt. Alles raum-zeitlich, kausal-mechanisch Bestimmte ist als solches nur Erscheinung, würde unabhängig von aller Wahrnehmbarkeit und kategorialen Bestimmung nicht so sein, wie es sich darstellt. Was der Erscheinung an sich zugrundeliegt, das Ding an sich, ist von seiner Erscheinung total verschieden. Sowohl die Körper (s. d.) als solche als auch das empirische, psychologische Ich (s. d.) sind Erscheinungen, weil beides durch die Form der Anschauung und des Verstandes bedingt ist. Das Wesen der Dinge als Erscheinungen läßt sich immer genauer erkennen, aber auch die eingehendste und vollständigste Erkenntnis der Eigenschaften und Beziehungen der Erfahrungsgegenstände führt über den Bereich der Erscheinung nicht hinaus; wir bedürfen auch dessen, theoretisch, nicht.

Der Gegenstand der Sinnlichkeit (s. d.) ist das Sinnliche; er hieß in den Schulen der Alten das „Phaenomenon“. Die sinnlichen Vorstellungen geben die Dinge, „wie sie erscheinen“, die Verstandesbegriffe aber, „wie sie sind“, Mund. sens. §§ 3 f. (V 2, 96 f.). „In dem Sinnlichen aber und den Erscheinungen heißt das, was dem logischen Gebrauche des Verstandes vorhergeht, das Erscheinende, dagegen die reflektierte Erkenntnis, welche aus der mittels des Verstandes erfolgenden Vergleichung mehrerer Erscheinungen hervorgeht, heißt Erfahrung. Der Weg von dem Erscheinen zur Erfahrung führt daher nur durch die Reflexion gemäß dem logischen Gebrauche des Verstandes. Die allgemeinen Begriffe der Erfahrung werden empirische genannt und ihre Gegenstände Erscheinungen; die Gesetze aber sowohl der Erfahrung als überhaupt aller sinnlichen Erkenntnis heißen die Gesetze der Ken“, ibid. § 5 (V 2, 98 f.); vgl. § 13 (V 2, 104).

Erscheinung ist etwas als „Objekt der sinnlichen Anschauung“, KrV Vorr. z. 2. A. (I 34—Rc 29); der „unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung“, ibid. tr. Ästh. § 1 (I 75— Rc 93). Der „transzendentale Begriff der Erscheinungen im Raume“ besagt, „daß überhaupt nichts, was im Raume angeschaut wird, eine Sache an sich, noch daß der Raum eine Form der Dinge sei, die ihnen etwa an sich selbst eigen wäre, sondern daß uns die Gegenstände an sich gar nicht bekannt sind, und was wir äußere Gegenstände nennen, nichts anderes als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit sind, deren Form der Raum ist, deren wahres Korrelatum aber, d. i. das Ding an sich selbst, dadurch gar nicht erkannt wird, noch erkannt werden kann, nach welchem aber auch in der Erfahrung niemals gefragt wird“, ibid. § 3 (I 85—Rc 103). Unsere Anschauung ist „nichts als die Vorstellung von Erscheinungen“. Auch das, was allen Subjekten gleich sich darstellt, ist nur Erscheinung, also auch das „in der allgemeinen Erfahrung, unter allen verschiedenen Lagen zu den Sinnen“ als objektiv wirkliche Eigenschaft, als wirklicher Gegenstand in Raum und Zeit Wahrnehmbare, ibid. § 8 I (195 ff.—Rc 113 ff.). Doch ist „Erscheinung“ scharf von allem „Schein“ (s. d.) zu unterscheiden. „Wenn ich sage: im Raum und in der Zeit stellt die Anschauung, sowohl der äußeren Objekte, als auch die Selbstanschauung des Gemüts, beides vor, so wie es unsere Sinne affiziert, d. i. wie es erscheint, so will das nicht sagen, daß diese Gegenstände ein bloßer Schein wären. Denn in der Erscheinung werden jederzeit die Objekte, ja selbst die Beschaffenheiten, die wir ihnen beilegen, als etwas wirklich Gegebenes angesehen, nur daß, so fern diese Beschaffenheit nur von der Anschauungsart des Subjekts in der Relation des gegebenen Gegenstandes zu ihm abhängt, dieser Gegenstand als Erscheinung von ihm selber als Objekt an sich unterschieden wird. So sage ich nicht, die Körper scheinen bloß außer mir zu sein, oder meine Seele scheint nur in meinem Selbstbewußtsein gegeben zu sein, wenn ich behaupte, daß die Qualität des Raumes und der Zeit, welcher als Bedingung ihres Daseins gemäß ich beide setze, in meiner Anschauungsart und nicht in diesen Objekten an sich liege“, ibid. § 8 III (I 102 f.—Rc 121). „Die Prädikate der Erscheinung können dem Objekte selbst beigelegt werden, in Verhältnis auf unseren Sinn, z. B. der Rose die rote Farbe oder der Geruch; aber der Schein kann niemals als Prädikat dem Gegenstande beigelegt werden, eben darum, weil er, was diesem nur im Verhältnis auf dieSinne oder überhaupt aufs Subjekt zukommt, dem Objekt für sich beilegt, z. B. die zwei Henkel, die man anfänglich dem Saturn beilegte. Was gar nicht am Objekte an sich selbst, jederzeit aber im Verhältnisse desselben zum Subjekt anzutreffen und von der Vorstellung des ersteren unzertrennlich ist, ist Erscheinung, und so werden die Prädikate des Raumes und der Zeit mit Recht den Gegenständen der Sinne als solchen beigelegt, und hierin ist kein Schein“, ibid. Anm. (I 103—Rc 121). Erscheinungen sind „bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen“. Sie müssen „Gründe haben, die nicht Erscheinung sind“, eine „intelligible Ursache“, ibid. tr. Dial. 2. B. 2. H. 9. Abs. III (I 472—Rc 606); vgl. 6. Abs. (I 438 ff.—Rc 570 ff.). Erkenntnis ist möglich von keinem Gegenstand als Ding an sich (s. d.), sondern „nur sofern er Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d. i. als Erscheinung“. Freilich kann es keine Erscheinung „ohne etwas, das da erscheint“, geben, ibid. Vorr. z. 2. A. (I 34 f.—Rc 29). Erscheinungen, sofern sie durch Kategorien bestimmt sind, sind „phaenomena“ (vgl. Noumenon), „Gegenstände möglicher Erfahrung“, die für alle Subjekte die gleichen sind und in ihrem einheitlichen Zusammenhange die (äußere und innere) Natur (s. d.) bilden. Das der Erscheinung zugrunde liegende „Übersinnliche“ (s. d.) ist theoretisch nicht erkennbar.

Die Möglichkeit der Erscheinungen (sinnlichen Anschauungen) beruht „auf dem Verhältnisse gewisser an sich unbekannten Dinge an sich zu etwas anderem, nämlich unserer Sinnlichkeit“, Prol. § (III 40). Die Erscheinungen sind „Vorstellungen der Sinnlichkeil“, die Vorstellungen, welche die Dinge „in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren“, ibid. Anmerk. II (III 43). Erscheinung ist die Art, wie unsere Sinne von dem „unbekannten Etwas“ affiziert werden, ibid. § 32 (III 76). Die Idealität von Raum und Zeit schließt ein die vollkommene Realität derselben betreffs der Gegenstände der Sinne als Erscheinungen, „d. i. als Anschauungen, sofern ihre Form von der subjektiven Beschaffenheit der Dinge abhängt“. „Ferner ist noch anzumerken, daß Erscheinung, im transzendentalen Sinn genommen, da man von Dingen sagt: sie sind Erscheinungen (Phaenomena), ein Begriff von ganz anderer Bedeutung ist, als wenn ich sage: dieses Ding erscheint mir so oder so, welches die physische Erscheinung anzeigen soll und Apparenz oder Schein,genannt werden kann. Denn in der Sprache der Erfahrung sind diese Gegenstände der Sinne, weil ich sie nur mit anderen Gegenständen der Sinne vergleichen kann, z. B. der Himmel mit allen seinen Sternen, ob er zwar bloße Erscheinung ist, wie Dinge an sich selbst gedacht; und wenn von diesem gesagt wird, er hat den Anschein von einem Gewölbe, so bedeutet hier der Schein das Subjektive in der Vorstellung eines Dinges, was eine Ursache sein kann, es in einem Urteil fälschlich für objektiv zu halten.“ „Und so ist der Satz, daß alle Vorstellungen der Sinne uns nur die Gegenstände als Erscheinungen zu erkennen geben, ganz und gar nicht mit dem Urteile einerlei, sie enthielten nur den Schein von Gegenständen, wie es der Idealist behaupten würde“, Fortschr. d. Metaph. 1. Abt. Geschichte der Transzendentalphilosophie (V 93 f.). Vgl. Üb. e. Entdeck. 2. Abs. (V 3, 76).

„1. Die Erscheinung in metaphysischer Bedeutung, wie der Sinn affiziert wird. 2. Die in Physischer Bedeutung, wie das Subjekt selbst den Sinn durch bewegende Kräfte affiziert jener Form gemäß“, Altpreuß. Mth. XIX 289. „Die Erscheinung der Erscheinungen — wie nämlich das Subjekt mittelbar affiziert wird, wie das Subjekt sich selbst zum Objekt macht (sich seiner selbst als bestimmbar in der Anschauung bewußt ist) — ist metaphysisch“, ibid. XIX 290. Erscheinungenn „können allein a priori gegeben werden, und Erscheinung von Erscheinungen gedacht sind die Objekte der Sinne“. „Erscheinung ist die subjektive Modifikation der Wirkung, welche ein Sinnengegenstand auf das Subjekt tut. Die Kraft des Subjekts, jenen Gegenstand zu modifizieren, ist die Sache selbst (metaphysisch betrachtet zwar auch immer Erscheinung, physisch aber als Substanz, die immer dieselbe bleibt)“, ibid. XIX 292. „Die reine Anschauung des Mannigfaltigen im Raume enthält die Form des Gegenstandes in der Erscheinung a priori vom ersten Range, d. i. direkt. Die Zusammensetzung der Wahrnehmungen (Erscheinung im Subjekt zum Behuf der Erfahrung) ist wiederum Erscheinung des so affizierten Subjektes, wie es sich selbst vorstellt, vom zweiten Range, und ist Erscheinung von der Erscheinung der Wahrnehmungen in Einem Bewußtsein, d. i. Erscheinung des sich selbst affizierenden Subjekts, mithin indirekt. Das Subjektive der Verknüpfung der Darstellungen in dem Subjekt nach Prinzipien des Bewußtseins zu einem Erkenntnis dieser Phänomene — im Bewußtsein der synthetischen Einheit der Erfahrung — ist die mittelbare Erscheinung“, ibid. XIX 436. — Auch „das empirische Bewußtsein der Vernunftvorstellungen oder auch der Kategorien und des Denkens überhaupt“ „gehört immer noch zur Erscheinung, weil es Begebenheit ist“, und es bleibt „nichts Intellektuelles als das Ich — praktisch aber die Freiheit samt ihrem Gesetze als Erkenntnis“, N 6319. Vgl. Ding an sich, Ich, Sinn (innerer), Charakter, Mensch, Körper, Materie, Bewegung, Antinomien, Anschauungsformen, Objekt.