Nelly Sachs - Dichterin des Grauens : literaturkritik.de

Nelly Sachs

Dichterin des Grauens

Von Simone FrielingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Frieling

Simone Frieling - Nelly Sachs1.

Ihr Werk enthält kein einziges Wort des Hasses, obwohl sie als deutsche Jüdin wie Millionen andere unter dem Terrorregime der Nationalsozialisten zu leiden hatte. Sie, die ihr erstes Buch mit dem ehrerbietigen Gruß „einer jungen Deutschen“ ihrem Vorbild, Selma Lagerlöf, widmete, hatte eine deutsche Identität, die jüdische wurde ihr aufgezwungen. Für sie wie für viele assimilierte jüdische Schriftsteller gilt, dass ihr Judentum erst im Exil „Wurzelgrund ihrer Existenz“ und „Thema ihrer Dichtung“ wurde, wie Käte Hamburger feststellte. Die religiösen Schriften des Judentums begann Nelly Sachs in den Dreißigerjahren zu studieren, als Reaktion auf die Bedrohung ‚ihres Volkes‘. Sie war zu einer Suchenden geworden, die in der Auseinandersetzung mit der jüdischen Mystik in das Zentrum ‚des Leidens Israel‘ einzudringen wünschte. Ihr Judentum hat sie aber nicht nur zum Opfer gemacht, sondern in ihr eine künstlerische und religiöse Kraft entfacht, die sie zur großen Dichterin machte, zur „lyrischen Anwältin Israels“.

Lange Zeit wurde die Stimme von Nelly Sachs in der jungen Bundesrepublik nicht wahrgenommen, als sei sie mit dem Exil ausgelöscht worden. Ihr Gedichtband In den Wohnungen des Todes aus dem Jahr 1946 wurde zunächst im Ostberliner Aufbau Verlag, der nächste, Sternverdunkelung, 1949 im Amsterdamer Bermann-Fischer Verlag verlegt. Trotz guter Kritiken fanden beide Bände kaum Leser. Ob aus Gleichgültigkeit oder Angst, die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit wurde vermieden. Der größte Teil der Auflage von Sternverdunkelung wurde eingestampft. Bekümmert schrieb Nelly Sachs an Johannes Edfeld, ihren schwedischen Kollegen: „In Deutschland lehnt man bei fast allen Verlegern Dichtung ab, die noch über Rilke hinaus eine Form für diese unsere zerbrochene Welt sucht. Es soll alles glatt und harmonisch im früheren Sinne sein.“
Erst ein Jahrzehnt später gelang Nelly Sachs der literarische Durchbruch in Westdeutschland – mit den beiden Lyrikbänden Und niemand weiß weiter von 1957 und Flucht und Verwandlung von 1959. Schon 1961 legte der Suhrkamp Verlag in Frankfurt alle bisherigen Gedichte und zwei neue Zyklen unter dem Titel Fahrt ins Staublose vor. Nun endlich wurde Nelly Sachs gehört und wie der Lyriker Paul Celan zu einer der wichtigsten Stimmen im Nachkriegsdeutschland. Sachs erhielt Ehrungen und Preise, Autoren und Professoren scharten sich um sie. Intellektuelle aller Couleur beschäftigten sich mit ihrem Werk und begannen es zu schätzen. Einige setzten sich als Kritiker und Lektoren in entscheidender Weise für sie ein. Sie nahm die Huldigungen als Wiedergutmachung an und war glücklich, geistige Verwandte gefunden zu haben, da Angehörige und Freunde ermordet worden waren. Ruhm ist ihr erst spät zu Teil geworden. „Größe bleibt fremd in der Welt“, erklärt Hans Magnus Enzensberger dieses Phänomen, besonders wenn sie sich auf „Taubenfüßen“ bewege, womit Enzensberger auf Nelly Sachs‘ extreme Zurückhaltung und Menschenscheu anspielt.

2.

1891 in Schöneberg, heute Berlin-Schöneberg, geboren, wuchs sie als einziges Kind in behüteten großbürgerlichen Verhältnissen auf. Ihr Vater war ein begabter Techniker und erfolgreicher Fabrikant, der viel las und ein leidenschaftliches Interesse an Musik hatte, ihre Mutter fürsorglich, alle Wünsche erfüllend, das zarte kränkliche Kind beschützend. Beide Eltern kamen aus jüdischen Familien, die schon lange in Deutschland ansässig waren und denen die Assimilation eine Selbstverständlichkeit war, die Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde eine Formalität aus Tradition. Obwohl für alles gesorgt war: liebende Eltern, Diener, Hunde, ein Reh im Garten als lebendes Spielzeug, empfand Leonie (Nelly) Sachs schon als Kind eine tiefe Einsamkeit, die ihr Angst bereitete. Sie litt unter dem Gefühl der Andersartigkeit nicht nur Fremden gegenüber, zu denen sie verschüchtert kaum Kontakt aufnahm, sondern auch gegenüber ihren Nächsten, den Eltern. „So gut wie wortlos“ bezeichnete sie später das Verhältnis zu ihnen. Wenn ihr Vater abends nach der Arbeit „am Klavier phantasierte“, tanzte Nelly dazu. Sie hatte die frühe Sehnsucht, „im Tanz den unsichtbaren Kerker zu durchbrechen“, in den sie sich eingeschlossen fühlte.

Später wurde der Tanz gegen das Wort ausgewechselt, „als ein schweres Schicksal mich haarnahe an den Tod brachte“. Gemeint ist damit nicht schon die Verfolgung der Jüdin durch die Nationalsozialisten, sondern die erste große Liebe, der die Siebzehnjährige 1908 in einem Kurort begegnete, den sie mit ihren Eltern aufsuchte. Die „hoffnungslose“ Liebe überwältigte das fragile, hochsensible Mädchen so, dass es in eine ernste Krise geriet und einige Zeit in einem Sanatorium verbringen musste. Es wird berichtet, dass es ein Arzt war, der Nelly zum Schreiben riet. Vielleicht wandte sie sich der Poesie als einer Art der Therapie zu, vielleicht begann sie aber auch durch das Schreiben sich selbst zu erforschen und zu begreifen. Über ihre frühen Texte kann wenig berichtet werden, sie wurden in den Zwanzigerjahren in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht und sind verschollen.

1921 erschienen mit Unterstützung Stefan Zweigs die Legenden und Erzählungen. Die neoromantischen Gedichte, die von Naturerlebnissen und Musik handeln, waren durch die Lektüre der Werke Selma Lagerlöfs stark beeinflusst worden. Als reife Autorin distanzierte sich Nelly Sachs von ihrem Frühwerk. Etwa 300 Gedichte, der Band Legenden und Erzählungen, Theater- und Marionettenspiele sowie einige Prosastücke sollten weder veröffentlicht noch bibliographisch verzeichnet werden. Ihr gültiges literarisches Werk begann für sie mit der Flucht. Ihrer Dichtung vor 1940 sprach sie die Berechtigung ab, da sie „ganz ohne Schicksal“ geschrieben worden sei.

Schon in den Zwanzigerjahren lebte die Familie Sachs zurückgezogen. Nach dem Krebstod des Vaters 1930, dem eine jahrelange Pflege durch Nelly vorausgegangen war, gaben Mutter und Tochter die Villa im Tiergartenviertel auf und zogen in ein Mietshaus in der Lessingstraße, das ihr Eigentum war. Nelly verwaltete eine Zeit lang die Mieteinnahmen, bis sie enteignet wurden. Die drohende Gefahr um sie herum nahmen sie sehr wohl war, hofften aber durch ein unauffälliges Leben keinen Anlass für Übergriffe zu geben. Viele ihrer Bekannten gingen in die Emigration. William Sachs hatte den beiden Frauen seine Besorgnis über die politische Entwicklung nie verschwiegen. Doch es legte sich eine Lähmung über Nelly und Margarete Sachs, die mit dem alltäglichen Lebenskampf als Jüdinnen beschäftigt waren. Sie blieben in Berlin, wurden drangsaliert, ausgeplündert, Verhören der Gestapo unterzogen und immer tiefer in die Hoffnungslosigkeit getrieben. Ihnen fehlten die nötigen Kontakte und Verbindungen, um emigrieren zu können; Verwandte in Übersee hatten sie nicht.

Über das Leben unter Bedrohung schrieb Nelly Sachs in einem ihrer wenigen Prosatexte, der 1956 in Schweden veröffentlicht wurde: „Wettbewerb im Sterben. Herrliches Fortziehn. Von dieser Erdenkugel abstoßen zu dürfen, diese Wurzelfüße herauszureißen … Woran sind wir gebunden? Warum können wir uns nicht rühren?“ Über die Wohnungsdurchsuchungen und Plünderungen heißt es: „Die Tür war die erste Haut die aufgerissen wurde. Die Haut des Heims. Dann fuhr das Trennungsmesser tiefer. Aus der Familie wurden Teile ausgeschnitten, Teile, die in die weit fort eroberte Zeit verfrachtet wurden.“

Für Nelly Sachs und ihre Mutter wurde das Leben in Berlin immer bedrohlicher. Nach den Ausschreitungen der sogenannten Reichskristallnacht im November 1938, die sich tatsächlich über Tage hinzogen, den Brand von mehr als 1400 Synagogen zur Folge hatten und die Innenstadt Berlins verwüsteten, befassten sich Mutter und Tochter nun ernsthaft mit Fluchtplänen. Ihr Ziel war, über Schweden Amerika zu erreichen. Im Januar 1939 nahm Nelly Sachs wieder Briefkontakt zu Selma Lagerlöf auf. Die alte Dame antwortete nicht. Kurz vor Kriegsausbruch reiste Gudrun Dähnert, geb. Harlan, eine enge Freundin, nach Schweden, und ihr gelang es durch große Beharrlichkeit, von Selma Lagerlöf empfangen zu werden. Obwohl bettlägerig und krank, setzte Lagerlöf ein Empfehlungsschreiben für Nelly und Margarete Sachs auf, mit dem Dähnert dann den Bruder des Schwedischen Königs, Prinz Eugen, aufsuchte, der den beiden Frauen ein Visum bewilligte.

Das angstvolle Ausharren in Deutschland war noch nicht zu Ende. Am 1. September 1939 brach der Krieg aus, bald waren Dänemark und Norwegen besetzt, auf französischem Boden standen die ersten deutschen Truppen. Nach monatelangen bürokratischen Hemmnissen, die am Ende wesentlich von der Freundin Vera Lachmann aus dem Weg geräumt wurden, konnten Mutter und Tochter im Mai 1940 endlich ihre Habseligkeiten zusammenpacken. Es war ihnen so wenig geblieben, dass es in einem einzigen Koffer Platz hatte. Am Tag vor der Abreise mussten sie sich noch einmal bei der Gestapo melden. Nelly Sachs hatte schon die Zwangsverpflichtung zum Arbeitseinsatz erhalten, die Deportation war auf den 16. Mai festgelegt worden. Und nun geschah ein zweites Wunder: „Ein Kommissar – es gab auch solche Kommissare – gab den beiden zitternden Frauen den Rat, nicht mit dem Zug zu fahren; wenigstens die jüngere würde an der Grenze festgenommen werden“, so Bengt Holmqvist. Mit dem letzten Passagierflugzeug verließen sie Berlin und trafen am 16. Mai in Stockholm ein, in Händen eine Tasche und 10 Reichsmark.

Die 200 Kronen, die Flüchtlinge seit 1940 beim Einlass nach Schweden als Existenzminimum aufweisen mussten, wurden zum Teil von der Jüdischen Gemeinde in Stockholm aufgebracht und zum anderen von Lagerlöfs Verleger Karl Otto Bonnier. Zunächst wurden die beiden Frauen, Nelly Sachs war im fünfzigsten Lebensjahr, ihre Mutter im siebzigsten, in verschiedenen Not- und Übergangsquartieren untergebracht. Im Oktober 1941 bezogen sie dann eine eigene Einzimmerwohnung in einem Haus der Warburg-Stiftung, die ihnen mietfrei von der jüdischen Gemeinde zur Verfügung gestellt wurde. Andere Flüchtlinge, die nach Amerika weiter gereist waren, hatten Möbel zurückgelassen, in denen sich die Berlinerinnen einrichteten. Die ‚geerbten‘ Möbel stehen heute in der Königlichen Bibliothek in Stockholm, sie waren die ersten und einzigen, die Nelly Sachs bis zu ihrem Tod besaß.

Die äußeren Umstände der Kriegs- und Nachkriegsjahre waren bedrückend. An eine Überfahrt nach Amerika war nicht zu denken, das Geld fehlte. Margarete Sachs, die in ihrem Wesen weniger kompliziert war als Nelly, hatte ihrer Tochter in der Zeit der Verfolgung oft Mut zugesprochen, jetzt im Exil schwanden ihre Kräfte, sie wurde krank und pflegebedürftig. Nelly Sachs besorgte allein den kleinen Haushalt, pflegte die kranke Mutter, verdingte sich als Näherin und Wäscherin, um etwas Geld zu verdienen, und lernte nebenher Schwedisch. Sobald ihre Sprachkenntnisse das zuließen, machte sie sich daran, schwedische Lyrik ins Deutsche zu übersetzen. Aber erst, wenn ihr Tagwerk getan und die Dunkelheit angebrochen war, zog sie sich in die vier Quadratmeter große Nische hinter der Küche zurück, die ihr als Schlaf- und Arbeitszimmer diente. Auf einem Tischchen vor dem Bett stand die Schreibmaschine, neben ihr ein Regal mit den wenigen Dingen, die sie aus Deutschland herübergerettet hatte. Sie nannte diesen Ort „meine Kajüte“.

Was als mühselige Arbeit begann, stellte sich bald als glückbringende heraus. Nelly Sachs wandte sich den Texten zu, die in irgendeiner Form ihren Lebenserfahrungen entsprachen: Das war die moderne schwedische Lyrik, die ihren Durchbruch gerade in den Jahren von 1942 bis 1944 feierte. Mit der Übersetzungsarbeit gewann sie nicht nur literarischen Boden unter den Füßen, sondern auch Geistesverwandte, ja Freunde. Sie nahm sich der Texte von Gunnar Ekelöf, Erik Lindegren und Johannes Edfeld an, die das ‚Dreigestirn der schwedischen Moderne‘ genannt wurden. Bengt Holmqvist bezeichnet viele der Übersetzungen von Nelly Sachs als kongenial. Alfred Andersch, der deutsche Kollege, der durch seine Arbeit als Rundfunkredakteur in München großes Ansehen im Nachkriegsdeutschland genoss, machte auf Nelly Sachs als Übersetzerin aufmerksam: „sie stellt heute das stärkste Verbindungsglied zwischen der schwedischen Dichtung und Deutschland dar, und diese Arbeit wird ohne jedes Aufsehen und ohne alle Unterstützung geleistet.“ Auch die Texte der damals ganz jungen Lyriker, vor allem die von Karl Vennberg, hat Sachs noch als Fünfundsechzigjährige ins Deutsche übertragen.

Aber für die gesundheitlich angegriffene und zierliche Person – Nelly Sachs maß gerade 1,50 m – bedeuteten die vielfältigen Pflichten des Haushalts und die selbst auferlegten der Schriftstellerei eine Überanstrengung. Als ihre Mutter im Winter 1950 starb, hatte Nelly Sachs das Gefühl, ihr Leben habe jeden Sinn verloren. Die bald Sechzigjährige zog eine düstere Bilanz: Ihre Bücher hatten keine Verbreitung gefunden, in Deutschland war sie eine Unbekannte, in Schweden konnten nur wenige, meist andere Flüchtlinge, sie lesen und verstehen. Im Exil hatte sie nur wenige Freunde gefunden, sie war als Mensch und Dichterin einer großen Einsamkeit preisgegeben.

3.

„Langsam und schmerzhaft“ gewöhnte sich Nelly Sachs an die neue Verlassenheit. Hatte ihre Mutter in der letzten Zeit ihres Lebens fast nur noch mit toten Verwandten und Freunden gesprochen, so sprach die Tochter jetzt mit der toten Mutter. Sie begann für die Tote eine Liebe zu empfinden, die sie in einem unveröffentlichten Gedicht „unmenschlich“ nennt. Nelly Sachs durchlebte düstere Jahre, in denen der „Selbsttötungsgedanke“ wieder einen großen Raum einnahm. Gerade in solchen Zeiten aber wuchsen ihr Kräfte zu; sie war eine stille Meisterin der Krise geworden. Sie begann einen umfassenden Zyklus neuer Gedichte zu schreiben; und nannte sie Elegien auf den Tod meiner Mutter. Einige von ihnen wurden in die nächste Sammlung aufgenommen. Außerdem beschäftigte sie sich intensiv mit der Figur des Franziskus und mit Simone Weil, der französischen Philosophin jüdischer Abstammung, die das Konzept der ‚décréation‘, der totalen Selbstentäußerung vor Gott, entwickelt hatte.

Nachdem Nelly Sachs im April 1952 die schwedische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, die ihr 1950 wegen ungesicherter sozialer Verhältnisse verweigert worden war, wurde das Land des Exils ganz und gar zu ihrer Heimat. An eine Freundin schrieb sie: „Es ist alles wie ein Wunder. Nach furchtbaren Jahren, die ich immer am Tod lebend verbrachte und sehr einsam, kommt nun aus aller Welt eine solche Zustimmung. Ein kleiner Kreis geliebter Freunde waren die letzten fünf Jahre um mich … und so wurde es hier Heimat in der Freundschaft. Denn ein Land kann uns niemals mehr Heimat sein, nur wo wir Liebe finden sind wir zuhause.“ Wie zur Bestätigung erhielt sie 1958 ihren ersten Preis aus der Hand ihrer ‚Gastgeber‘: den Lyrikpreis des schwedischen Schriftstellerverbandes. „Die ihrer Sprache nicht mächtig sind, haben, so scheint es fast, von den Gedichten der Nelly Sachs mehr verstanden als wir“, notierte Enzensberger.

Ohne die Freundschaft treuer Menschen wäre das Leben der Nelly Sachs nicht zu denken gewesen. Erst im Jahr 1958 erhielt sie von der Bundesrepublik eine Entschädigungsrente, bis dahin lebte sie am Existenzminimum und war von „mildtätigen Gaben und Almosen“ abhängig. Neben der zu Bengt und Margaretha Holmqvist, denen Sachs ihren Besitz hinterließ, der zu Hans Magnus Enzensberger, den sie als Nachlassverwalter einsetzte, und der zu Gudrun Dähnert, die für sie das lebensrettende Visum beschaffte und der sie die Hälfte des Nobelpreisgeldes zukommen ließ, war die Brieffreundschaft zu Paul Celan und seiner Familie für sie von zentraler Bedeutung. Über einen Zeitraum von fast 16 Jahren – vom Frühjahr 1954 bis zum Ende des Jahres 1969 – wechselten die beiden Briefe. Wie wichtig ihnen dieser Austausch war, lässt sich daran ersehen, wie sorgfältig die Briefe aufbewahrt wurden. Kaum einer ist abhandengekommen. Die Originale von Sachs befinden sich heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, die von Celan in der Königlichen Bibliothek in Stockholm.

Für Nelly Sachs war es ein großes Glück, in Zeiten ohne Resonanz von ihrem geschätzten Kollegen die Zeilen zu erhalten: „Ich besitze Ihren neuen Gedichtband: er steht, mit den beiden anderen, neben den wahrsten Büchern meiner Bibliothek.“
„Sie wissen um meine Dinge, haben sie bei sich, so habe ich Heimat“, antwortete Sachs eine Woche später im Dezember 1957 und im Januar 58 schrieb sie: „Eigentlich irrten meine Bücher bis jetzt als Waisen umher.“

Darauf reagierte Celan postwendend: „Ich wäre, als vorgestern ihr Brief kam, am liebsten in den Zug gestiegen und nach Stockholm gefahren, um Ihnen – mit welchen Worten, welchem Schweigen? – zu sagen, daß Sie nicht glauben dürfen, Worte wie die Ihren könnten ungehört bleiben.“

So begann eine Brieffreundschaft, die zur Freundschaft zweier Seelenverwandter führte. Nach förmlicher Anrede wechselte Nelly Sachs im Mai 1960 zum ‚Du‘, Celan nahm es gerne auf und sprach seine Freundin nun mit Vornamen an. Das gegenseitige Vertrauen wuchs, beide wagten Briefe, in denen sich ihre psychische Verfassung widerspiegelte, in denen sich die von schweren Traumata Gezeichneten aussprachen. Der Brief vom 25. Juli 1960 an Celan zeigt eine Bedrängte, der Angst die Sprache verschlagen hat. Der Brief ist ein erschütterndes Dokument, das den Ausbruch einer tiefen psychischen Krise ankündigt. Celan versuchte beruhigend auf seine Freundin zu wirken und sich selbst zu beruhigen, was ihm immer wieder gelang. Und doch lag in der Seelenverwandtschaft zweier Gefährdeter selbst etwas Gefährliches, sie konnten einander nicht retten. Immer wieder gerieten beide in eine solche Not, dass sie sich in psychiatrische Behandlungen begeben mussten, einige Male in kurz aufeinander folgenden Zeitabständen, wie aus dem Briefwechsel zwischen Paul Celan und Nelly Sachs zu ersehen ist.

Die Freundschaft dauerte an bis zum Ende des Jahres 1969, bis zum Lebensende beider: Celan beging im April 1970 Selbstmord in der Seine, Sachs starb im Mai nach mehreren Klinikaufenthalten an einer Krebserkrankung. Noch einmal schienen die Dichterin und der Dichter aufs engste verbunden: Paul Celan wurde am 12. Mai beigesetzt, Nelly Sachs verstarb an eben diesem Tag.

4.

Mit ihrer Lyrik widerlegten Nelly Sachs und Paul Celan unausgesprochen den Satz Theodor W. Adornos, der sich so tief im öffentlichen Bewusstsein festgesetzt hat: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Diese These, 1949 formuliert, wurde 1951 in Kulturkritik und Gesellschaft veröffentlicht. Wenn der Satz Programm geworden wäre, hätten Nelly Sachs und Paul Celan verstummen müssen. Der Gedichtzyklus In den Wohnungen des Todes und das Gedicht Todesfuge wären denen erspart geblieben, die die Verbrechen der Nationalsozialisten leugneten, den anderen, die Auseinandersetzung und Verarbeitung wünschten, hätten sie bitter gefehlt und den Überlebenden den Trost verweigert.

Obwohl Nelly Sachs nach Verleihung des Lyrikpreises des schwedischen Schriftstellerverbands endlich größere und kleinere Erfolge feiern konnte – sie erhielt 1959 den Literaturpreis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie, 1960 den Droste-Preis der Stadt Meersburg und eine Einladung von Alfred Andersch nach Ascona –, begann für sie im Juli 1960 die schwerste Zeit ihres Lebens, wie Bengt Holmqvist, der nahe Freund, vermerkte. Nach ihren Aufenthalten in Meersburg, Ascona und Paris brach Nelly Sachs bei der Rückkehr in Stockholm zusammen und musste in Nervenheilanstalten Schutz suchen bis in das Jahr 1963. Zu der Therapie, die man in Beckomberga bei ihr anwandte, gehörten bis 1962 Elektroschocks. Ob ihr Zusammenbruch mit dem ersten Besuch in Deutschland zusammenhing, wie ihre vertraute Brieffreundin Hilde Domin vermutete, ist schwer zu sagen. Domin aber war sich sicher: „Vor Aufregung und Glück über die Wiederbegegnung mit dem geliebten und gefürchteten Land erkrankte sie schwer, als habe man sie mit Deutschland neu geimpft.“

Wieder, mitten in der Angst, begann sie zu arbeiten: 1961 erschien Fahrt ins Staublose, 1962 Zeichen im Sand, 1963 Ausgewählte Gedichte. Holmqvist, der Nelly Sachs mit seiner Frau in der Klinik besuchte, sprach von einem Wunder. Dieses Wunder wurde auch in der Welt wahrgenommen, 1965 überreichte man ihr in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der Bundespräsident Heinrich Lübke lobte bei der Feierstunde ihre Versöhnlichkeit. Was wird Nelly Sachs bei seiner Rede empfunden haben? War Lübke doch stellvertretender Bauleiter für Konzentrationslagerbaracken gewesen. Anschließend reiste sie zu ihrem ersten und einzigen Besuch nach Berlin, das sie zur Ehrenbürgerin gemacht hatte. Und endlich wurde ihr im Dezember 1966 der Nobelpreis für Literatur verliehen.

Auf den Fotos von der Nobelpreisverleihung, die damals um die Welt gingen, erscheint Nelly Sachs überwach, mit großen Augen, als staune sie über ihre eigene Existenz. Sie strahlt und wirkt gefährdet zugleich. Im März des nächsten Jahres erlitt sie einen Herzanfall und musste lange Wochen im Krankenhaus verbringen, das Ehepaar Holmqvist und Gudrun Dähnert standen ihr bei. Nach dem Krankenhausaufenthalt ging Ende September 1967 ein Brief an die Familie Celan. Wichtig war es Nelly Sachs, in dem Brief die Erinnerung an ihren einzigen Besuch in Paris im Juni 1960 wieder wachzurufen: „Diese Tage bei Euch waren damals die letzte Helle dann 3 Jahre Nacht“. Die Nacht sollte sie bald wieder einholen, 1968 musste sie abermals in eine psychiatrische Klinik eingeliefert werden und das darauf folgende Jahr wurde verdüstert durch ihre Krebserkrankung und Operationen, die die Patientin mit chronischen Schmerzen zurückließ. So war der schwere Tod im Mai 1970 das Ende eines schweren Lebens.

5.

Der Nobelpreis, der 1966 vergeben wurde, ging nicht allein an Nelly Sachs sondern auch an den israelischen Dichter Samuel Agnon. Preisteilung war generell in der Akademie umstritten, obwohl Nobels Testament sie ausdrücklich zuließ. Zwei Mal schon, 1904 und 1917, hatte man diesen Kunstgriff angewandt, um einen Ausweg bei zwei gleichstarken Nominierungen zu finden. Die Juroren sprachen sich 1904 gleichermaßen für den französischen Dichter Frédéric Mistral aus, wie den spanischen José Echegaray y Eizaguirre. 1917 ging der Preis an zwei Dänen, über die Dag Hammarskjöld später sarkastisch urteilte: „Die Isländer… das Paar Laxness.“ Von der Öffentlichkeit wurde die Teilung des Preises immer als Unsicherheit des Komitees gewertet oder schlimmer noch: Es kam der Argwohn auf, dass keiner der Preisträger sich ihn allein verdient habe. Die Preisträger selbst fürchteten weniger den geringeren Geldbetrag als ein geringeres Ansehen.

Bei den Überlegungen zur Nominierung von Nelly Sachs gab es vielfältige Aspekte. Nachdem die Kritik daraufhin gewiesen hatte, dass die Akademie die Pioniere des Expressionismus und des Surrealismus gänzlich vernachlässigt hätten – Else Lasker-Schüler, die angesehenste Dichterin des Expressionismus, war leer ausgegangen –, sah man Nelly Sachs und Paul Celan als literarische Nachfahren dieser modernen Kunstbewegungen an. Andres Österling, ständiger Sekretär der Akademie von 1941 bis 1964, fand in der Symbolsprache von Nelly Sachs „modernistische Kühnheit in der Eingebung mit dem Echo uralter biblischer Poesie vereinigt“. Aber er hatte Zweifel an der Qualität ihres Werkes. Zwar sei es mit seinem Thema „wahrhaftig mächtig genug“, aber er könne nicht vermeiden, „den historischen Vergleich mit den großen Lyrikern anzustellen“. Auch der Literaturhistoriker Henry Olsson, der 1952 in die schwedische Akademie gewählt worden war, machte sich Gedanken, mit wem Sachs „teilen sollte“. Er dachte an Ingeborg Bachmann, Anna Achmatowa oder Erich Kästner.

Nachdem man sich auf Nelly Sachs und Samuel Agnon geeinigt hatte, reagierte Österling diplomatisch. Er betonte die inneren Gemeinsamkeiten der beiden „bedeutenden jüdischen Schriftsteller“, die jeder für sich allein preiswürdig seien. In der Ansprache bei der Preisverleihung von 1966 hob er noch einmal die Berechtigung zur Teilung des Preises hervor: „da zwei Schriftsteller ausgezeichnet werden, die trotz verschiedener Sprachgebiete eine geistige Verwandtschaft vereint und die einander sozusagen in einem großartigen Streben ergänzen, das Kulturerbe der jüdischen Volkes in dichterischer Form aus einer gemeinsamen Inspirationsquelle hervorzuheben, die sich bei beiden als eine lebendige Kraft erwies.“ Zweifel an der Nominierung von Nelly Sachs stellten sich auch im Nachhinein ein. Der Literaturwissenschaftler Theodore Ziolkowski meinte, anstelle des Literaturpreises hätte ihr besser der Friedenspreis zukommen sollen.

Schon zu Lebzeiten ist das Werk von Nelly Sachs kontrovers diskutiert worden, heute ist es fast vergessen. In einer der neuesten Literaturgeschichten Eine neue Geschichte der deutschen Literatur kommt ihr Name nicht einmal mehr vor, auch nicht in Helmuth Kiesels Standardwerk Geschichte der literarischen Moderne. Das hat zum einen damit zu tun, dass die Holocaust-Literatur es dem Leser so schwer macht wie keine andere literarische Gattung, da sie „ihn mit einer grauenhaften Wirklichkeit und Inhumanität von Menschen“ konfrontiert, die aufzunehmen, sein „Fassungsvermögen immer wieder übersteigt“, erklärt Dieter Lamping. Zum anderen thematisiert sie das Unaussprechliche und bewegt sich, so Lamping, „auf der Grenze zum Schweigen und Verstummen“. Das trifft besonders auf die Dichtung von Nelly Sachs zu, die ausschließlich den Holocaust in ihrer Lyrik zu ihrem Gegenstand gemacht hat. Klage und Sehnsucht sind die beiden charakteristischen Grundstimmungen ihrer Texte, die sich fortwährend wiederholen. Ohne erlösendes Moment laufen sie ins Leere. Alles ist konzentriert auf das Trauma, das die Lippen verschließt, die lebendigen Stoffe der Welt erscheinen nur am Rand als Schemen. „Hinter den Lippen“, wo „Unsagbares wartet“, werden keine Inhalte mehr zur Sprache gebracht. „Die Dichterin entschwindet in die Sprachlosigkeit, ohne eine Spur zu hinterlassen, wir wissen nur, daß sie den Weg bis ans Ende gegangen ist“, so beschreibt Alvin Rosenfeld den künstlerischen Weg von Nelly Sachs in dem Essayband Ein Mund voll Schweigen. Literarische Reaktionen auf den Holocaust. Elisabeth Weissert wird noch deutlicher: Die Gedichte der Nelly Sachs „sind artistisch ohne Heiterkeit, religiös ohne Religion, Worte, die eine neue transzendente Sprache nicht sprechen, aber umkreisen, die das Schweigen beschwören, indem sie es aussparen.“

Aber Nelly Sachs hat nicht nur ein schweres Erbe hinterlassen und ein oft unverständliches, sondern eines, das aus Schönheit, Licht und Bewegung besteht. Auch wenn sie ihrer Dichtung vor 1940 „die Berechtigung“ absprach und das Leben in Berlin und das nach der Flucht aus Deutschland in ein Vorher und Nachher einteilte, nahm sie doch die Erinnerung an Berliner Tage wie eine Schmetterlingspuppe mit ins Exil. In Stockholm streifte sie die Puppe ab und entfaltete die Flügel. Was sie als Kind am Tanz und der Musik berauscht hatte, ging in ihr Hauptwerk ein, durchzieht es vom Anfang bis zum Ende: Es ist die Verwandlung. Für die Metamorphosen des Lebens findet Sachs die Metapher der „Falterpuppe“, in die „Geburt und Tod ist eingehüllt“. Die Verpuppung kann als Zeit der Krankheit oder Krise verstanden werden, als Zeit im Gefängnis oder der Einsamkeit im Exil, die Befreiung aus ihr als Neuschöpfung. Der „Buchstabenleib“ tritt aus der Puppe heraus, er hat Flügel wie ein Wort, Farben wie die Welt, ist kostbar und vergänglich wie das Leben und zerfällt am Ende zu feinem Staub. In dem Motiv des Schmetterlings hat Nelly Sachs alle Elemente ihrer Poesie vereinigt: das Flüchtige und die Flucht, die Schutzhülle und den Kerker, die Verwandlung und den Stillstand, das Leben und den Tod.

Schmetterling

Welch schönes Jenseits
ist in deinen Staub gemalt.
Durch den Flammenkern der Erde,
durch ihre steinerne Schale
wurdest du gereicht,
Abschiedswebe in der Vergänglichkeiten Maß.

Schmetterling
aller Wesen gute Nacht!
Die Gewichte von Leben und Tod
senken sich mit deinen Flügeln
auf die Rose nieder
die mit dem heimwärts reifenden Licht welkt.

Welch schönes Jenseits
ist in deinen Staub gemalt.
Welch Königszeichen
im Geheimnis der Luft.

Bewundernd fragte Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay Die Steine der Freiheit von 1959: „Welch eine Kraft hat dieses unantastbare Gedicht erschaffen?“

Literaturhinweise

Hans Magnus Enzensberger: Die Steine der Freiheit. Über Nelly Sachs. In: Rainer Barbey (Hg.): Hans Magnus Enzensberger. Über Literatur. Scharmützel und Scholien. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2009. S. 729-736.

Kjell Espmark: Der Nobelpreis für Literatur. Prinzipien und Bewertungen hinter den Entscheidungen. Aus dem Schwedischen von Ruprecht Volz und Fritz Paul. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag 1988.

Gabriele Fritsch-Vivié: Nelly Sachs in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1993.

Bengt Holmqvist (Hg.): Das Buch der Nelly Sachs. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1968.

Birgit Lermen und Michael Braun: Nelly Sachs – „an letzter Atemspitze des Lebens“. Bonn: Bouvier-Verlag 1998.

Alvin H. Rosenfeld: Ein Mund voll Schweigen. Literarische Reaktionen auf den Holocaust. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Anette und Axel Dunker. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag 2000.

Barbara Wiedemann (Hg.): Paul Celan/ Nelly Sachs. Briefwechsel. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1993.

 

Anmerkung der Redaktion: Der hier zum 50.Todestag von Nelly Sachs veröffentlichte Beitrag ist zuerst erschienen in Simone Frieling: Ausgezeichnete Frauen. Die Nobelpreisträgerinnen für Literatur. Marburg: Verlag LiteraturWissenschaft.de 2016. S. 117-134.