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Donald Tusk, 2014-2019

Donald Tusks Kampf um die Einheit

Wenn ich gefragt werde, was das Thema meiner beiden Amtszeiten als Präsident des Europäischen Rates war, antworte ich ohne zu zögern: „Einheit“ – ein Leitmotiv, eine Aufgabe, nahezu meine Obsession, und das von Anfang an.

Am allerersten Tag meiner Präsidentschaft, am 1. Dezember 2014, habe ich es deutlich gemacht: Was Europa brauchte, war der Schutz unserer grundlegenden Werte – Solidarität, Freiheit, Einheit – vor den Gefahren für die EU und ihre Einheit, die sowohl von innen als auch von außen kommen. Die Machtpolitik war nach Europa zurückgekehrt, die Geschichte wiederholte sich und in solchen Zeiten waren Führung und Einheit gefordert.

Einheit im Hinblick auf die Ukraine

Zuerst ging es um die aggressive Politik des Kremls.

Ich war davon überzeugt, dass hier nicht nur die Zukunft der unabhängigen Ukraine und die Sicherheit Mitteleuropas einschließlich meines Heimatlandes Polen auf dem Spiel stand, sondern auch die Souveränität Europas als politische Einheit.

Eines der strategischen Ziele Putins bestand darin, die EU durch innere Spaltung systematisch zu schwächen. Ich musste fast jede Woche öffentlich daran erinnern, dass Russland nicht unser „strategischer Partner“, sondern unser „strategisches Problem“ war. Wir haben während meiner gesamten Amtszeit unsere Einheit gewahrt, auch bei den Sanktionen.

Einheit des Euro-Währungsgebiets

Ich habe bei der Krise in Griechenland eher in politischen und geostrategischen als in finanziellen Kategorien gedacht. Deshalb habe ich alles unternommen, um die Gefahr eines Grexit abzuwenden. Ich wusste, dass das Euro-Währungsgebiet zusammenbrechen könnte, wenn die Protagonisten auf der einen oder der anderen Seite dieses Konflikts einen Schritt zu weit gehen. Und dies wäre in der Tat beinahe geschehen.

In jener schicksalhaften Nacht vom 12. Juli 2015, als Kanzlerin Merkel und Ministerpräsident Tsipras um vier Uhr morgens fast schon auseinandergehen wollten, habe ich die Tür geschlossen und ihnen gesagt: „Es tut mir leid, aber Sie werden den Raum nicht verlassen, bevor Sie nicht zu einer Einigung gelangt sind.“ Vier Stunden später konnte ich die Einigung zu Griechenland verkünden. Das Euro-Währungsgebiet war gerettet, und heute ist Griechenland eine der aussichtsreicheren Volkswirtschaften in der Europäischen Union.

Konsens über Migration

Die dritte Herausforderung bestand darin, einen Konsens über eine gemeinsame Migrationspolitik herbeizuführen. Ich habe von Anfang an gesehen, dass eine Spaltung in dieser Frage sehr gefährlich sein könnte. Deshalb war es meine oberste Priorität, die Alternative zwischen einem offenen Europa oder einer „Festung Europa“ zurückzuweisen. Schwarz-Weiß-Malerei musste unbedingt vermieden werden.

Die Spannungen konnten vor allen Dingen nur dadurch beseitigt werden, dass allen Ländern bewusst gemacht wurde, dass es zwischen der freiheitlichen Demokratie und wirksamen Kontrollen an unseren Außengrenzen keinen inneren Widerspruch gibt. Dies gilt ebenso für die Einsicht, dass wir Flüchtlingen zwar helfen müssen, aber unsere primäre Pflicht zum Schutz unserer Hoheitsgebiete nicht aufgeben dürfen.

Das Migrationsproblem ist nicht verschwunden und es wird uns auch in den kommenden Jahren beschäftigen, aber es ist uns gelungen, die meisten Akteure davon zu überzeugen, ihre Gefühle zu mäßigen und sich auf pragmatischere Initiativen zu konzentrieren.

Einheit über den Brexit

Der Brexit wird möglicherweise Anfang 2020 stattfinden.

Ich habe alles in meiner Macht stehende getan, um das Szenario eines auf Konfrontation ausgerichteten Brexits ohne Abkommen zu vermeiden und um den Briten mehr Zeit zum Nachdenken und für ein etwaiges Umdenken zu gewähren. Der Brexit hat uns nicht gespalten.

Trotz der Bemühungen Londons, diese Verhandlungen auf eine bilaterale Ebene zu bringen, hat die EU-27 außerordentliche Selbstdisziplin und gegenseitige Loyalität bewiesen.

Schutz der kleinsten Mitgliedstaaten

Eine weitere tägliche Übung in Einheit bestand im Schutz der kleinsten, bedürftigsten und am stärksten gefährdeten Mitgliedstaaten und dies sollte auch so bleiben. Im Interesse der Einheit der EU zu handeln, bedeutete manchmal auch, sich gegen den Willen und die Absichten der Mächtigsten zu stellen. Dabei ging es selbstverständlich nie darum, kleineren Ländern in irgendeiner Weise Vorteile zu verschaffen, oder um irgendeinen Dogmatismus, sondern um den Grundsatz der gleichen Rechte und der Objektivität, unabhängig davon, wem dies letztendlich zugute kommt.

In der EU ist Stärke nicht der einzige, alles entscheidende Faktor, und in unserer internen Politik gibt die Stärke des Arguments und nicht das Argument der Stärke den Ausschlag.

Eine weitere tägliche Übung in Einheit bestand darin, die Rückkehr zu einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten zu verhindern, die sich in „kreativen“ Ideen und Initiativen wie einem „kleineren Kreis“ oder einem „Kerneuropa“ ausdrückte. Für die Einheit Europas braucht es Geduld miteinander, keinen Zwang. Wir dürfen uns nicht selbst zu der Alternative zwischen einer schnellen Integration oder einem Auseinanderbrechen der Union verdammen.

Ich habe verschiedentlich, wenn das Tempo der Integration zur Sprache kam, gerne ein afrikanisches Sprichwort zitiert: „Wenn du schnell gehen willst, dann geh' alleine. Wenn du weit gehen willst, dann gehe mit anderen.“

Einheit der Werte

Ich habe stets die Rolle des Kompromisses in der europäischen Politik betont, weil mir das am wichtigsten ist. Kompromiss, Verhandlungen und Konsens sind die Schlüsselbegriffe, ohne die wir die EU nicht verstehen können. Allerdings gibt es Dinge und Angelegenheiten, bei denen es keine Kompromisse geben darf und die nicht verhandelbar sind. Damit meine ich unsere Grundwerte: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und die Würde des Einzelnen.

Welchen Sinn haben Einheit, Souveränität und Solidarität, wenn wir es nicht schaffen, Europa – verstanden als ein Gebiet der Freiheit, der Kultur und des Rechts – vor inneren und äußeren Gegnern zu schützen?

Europa ist kein Kontinent im geografischen Sinne. Es ist vielmehr ein Kontinent im axiologischen Sinne. Und dies wird so bleiben, solange wir genügend Stärke aufbringen, nicht nur unsere Grenzen und Interessen, sondern in erster Linie das Wesen Europas zu schützen.

Es geht um Einheit, Mann!

In meinem Büro als Präsident des Europäischen Rates hängt noch ein selbst gemachtes Plakat mit der sinngemäßen Aufschrift „Es geht um Einheit, Mann!“. Ich habe es angefertigt, damit ich nie vergesse, was am wichtigsten ist. Und ich werde es dort hängen lassen – für alle Fälle.

Donald Tusk: „Während meiner gesamten Amtszeit war ich bestrebt, die Einheit der EU zu wahren.“

Lebenslauf

Donald Tusk war vom 1. Dezember 2014 bis zum 30. November 2019 der Präsident des Europäischen Rates. Davor war er sieben Jahre lang Ministerpräsident Polens.

Letzte Überprüfung: 21 März 2024