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Warum Stalin beschloss, um Stalingrad zu kämpfen

Freier Autor Geschichte
Als sich die Wehrmacht 1942 Stalingrad näherte, befahl Stalin den Kampf bis zum letzten Mann. Hier hatte er seinen Aufstieg begonnen, seine Garde rekrutiert – und die Liebe seines Lebens gefunden.

Im Spätsommer 1942 erreichten die ersten Einheiten der deutschen 6. Armee die Vororte von Stalingrad. Stalin, der sich bis dahin den Vorschlag seiner Militärs zu Eigen gemacht und einem flexiblen Rückzug zugestimmt hatte, wechselte abrupt seine Meinung: „Der Nation droht eine Katastrophe“, erklärte er. „Wir müssen unser Vaterland mit allen Mitteln und um jeden Preis retten.“ Umgehend erklärte er dem zuständigen General: „Aufschub wird nicht geduldet. Eine Verzögerung würde nur gleichbedeutend mit Verbrechen sein.“ Gemeint war die Verteidigung Stalingrads um jeden Preis.

Weder in den deutschen noch in den sowjetischen Kriegsplänen hatte das Verkehrs- und Industriezentrum am rechten Ufer der unteren Wolga bislang einen besonderen Stellenwert besessen. Hitler wollte mit der Einnahme der Stadt lediglich die östliche Flanke seines Stoßes in den Kaukasus decken.

Und Stalin, der ursprünglich überhaupt nicht mit einem deutschen Vorstoß in den Süden gerechnet hatte, war nach den mörderischen Erfahrungen des Jahres 1941 von seinem Blutbefehl abgerückt, der in jedem Rückzug Verrat witterte. Stattdessen ließ er die deutschen Angriffsspitzen immer tiefer in Unendlichkeit der Steppe vorrücken. Dramatische Versorgungsprobleme waren die unweigerliche Folge.

„Wenn wir Stalingrad aufgeben ...“

Der Angriff auf Stalingrad aber veränderte die Lage von Grund auf. „Wenn wir Stalingrad aufgeben, wird der Süden des Landes vom Zentrum abgeschnitten sein“, erklärte er seinem konsternierten Generalstabschef Alexander Wassilewski. Der Verlust des wichtigsten Wasserweges und des Erdöls wären die Folge.

Die Stadt, die seit 1925 seinen Namen trug, war in der Tat ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt und Industriestandort. Vor allem aber war sie ein Symbol, wenigstens für Stalin. Denn hier, 400 Kilometer von der Mündung der Wolga ins Kaspische Meer entfernt, hatte einst sein Aufstieg in den engsten Zirkel der bolschewistischen Führung den entscheidenden Schub bekommen. Hier hatte er seine zweite Frau Nadja Allilujewa lieben gelernt. Die Männer, mit denen er damals gegen die „Weißen“, die Konterrevolutionäre gekämpft hatte, bildeten immer noch den Kern seiner Entourage. Schließlich führten die wichtigsten Verbindungen in seine georgische Heimat über die Stadt.

Vor allem aber hatte Zarizyn (Tartarisch für „gelbes Wasser“), wie Stalingrad während der Russischen Revolution noch hieß, aus dem ehemaligen Kleinkriminellen und gejagten Berufsrevolutionär erst den großen Führer gemacht. Hier lernte er die Mittel seiner späteren Herrschaft buchstäblich von der Pike auf. „Sei versichert, dass meine Hand nicht zittern wird“, hatte er Lenin 1918 beim Abschied aus Moskau versprochen. Und er behielt recht: Kaum war er mit seinem Panzerzug in der bedrohten Stadt angekommen, befahl er, sämtliche Antikommunisten (oder die er dafür hielt) zu erschießen.

Töten als politisches Mittel

Bei diesem Auftrag entdeckte Stalin das Töten als das „einfachste und wirksamste politische Mittel“, schreibt sein Biograf Simon Sebag Montefiore. Im Bürgerkrieg pflegten die Bolschewiki einen Kult der Gewalt, den Stalin übernahm und verinnerlichte. Während Trotzki sich als Oberkommandierender der Roten Armee nicht scheute, ehemalige zarische Offiziere in großer Zahl in seine Armeen aufzunehmen, ließ Stalin sie reihenweise liquidieren.

Ihm zur Seite stand eine Horde säbelrasselnder Schlagetods – ehemalige Soldaten und Unteroffiziere des Weltkriegs – , die ihm bald als ergebene Garde an die Spitze von Partei und Staat folgen sollten: Semjon Budjonny, Kliment Woroschilow, Grigori Kulik, Semjon Timoschenko und Georgi Schukow brachten es alle zu Marschällen der Sowjetunion und Inhabern weiterer höchster Posten. Vor allem aber starben sie, ungewöhnlich in Stalins Reich, außer Kulik alle eines natürlichen Todes.

Budjonny (der 1942 vor Stalingrad abgelöst werden sollte, ohne dass es seinen Kopf kostete) spielte in diesen Revolutionsjahren eine wichtige Rolle, verfügte der Reitergeneral mit dem geschniegelten Schnurrbart doch nicht nur über Charisma und Mut, sondern sogar über gesunden militärischen Sachverstand. Als Kommandeur der sogenannten 1. Reiterarmee zeigte er sich den aufständischen Kosaken durchaus gewachsen. Mit diesen Kavalleristen hielt die „Zarizyn-Gruppe“ nicht nur das „Verdun“ an der Wolga, sondern „befriedete“ weite Teile des Südostens , wobei sie diverse Methoden des Terrors erprobte, die sie später nur noch vervollkommnen musste.

Skurpellose und verwegene Killer

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Diese Truppe ebenso skrupelloser wie verwegener Killer bestärkte ihren so gar nicht militärisch versierten Politkommissar darin, dass sein verhasster Rivale Trotzki höchstens ein „Operettenkommandeur“ sei, „eine „Schwatztüte“, wie Stalin ihn nannte. Vielsagend ist die Episode, in der Stalin eine Gruppe von Trotzkisten auf einem Kahn in der Wolga inhaftierte. Als der aus ungeklärten Umständen sank, quittierte der Funktionär dies lakonisch: „Der Tod löst alle Probleme.“

Entsprechend widerwillig beteiligte sich die 1. Reiterarmee im polnisch-russischen Krieg beim Vormarsch auf Warschau. Als der schließlich in einem Desaster endete, ließen Stalin und seine Leute nichts unversucht, dies Trotzki und seinen Offizieren in die Schuhe zu schieben. Man hat die Zarizyn-Gruppe daher auch die Militärische Opposition genannt, der proletarische Herkunft und blindes ideologisches Vertrauen allemal wichtiger war als militärische Effizienz.

Wie vertrauensvoll der in Zarizyn geschmiedete Männerbund zusammenhielt, sollte sich in den großen Säuberungen der Dreißigerjahre zeigen. Von den neun hohen Offizieren des Militärrats entgingen neun der Säuberung, darunter waren sieben, die in der 1. Reiterarmee gekämpft hatten.

Seine Freunde blieben am Leben

Sogar klare Fehlentscheidungen ließ Stalin seinen Freunden durchgehen. Gegen jede militärische Vernunft pries Budjonny die Kampfkraft von Reitern statt Panzern. Kulik ließ als Chef der Artillerie Haubitzen des Ersten Weltkrieges beschaffen und verhinderte lange die Massenproduktion von Raketenwerfern, die später als Stalinorgeln bekannt werden sollten. Auch den Vorschlag, die neuen Panzer statt in geschlossenen Verbänden zur Unterstützung der Infanterie einzusetzen, ließ Stalin umgehend in die Tat umsetzen. Timoschenko und der später dazugestoßene Lew Mechlis opferten sinnlos Hunderttausende von Soldaten und kamen – im Gegensatz zu vielen anderen erfolglosen Generälen – mit dem Leben davon.

Aber nicht nur Männerfreundschaft, sondern auch Erotik und, wie Montefiore glaubhaft macht, sogar Leidenschaft hatten damals in Zarizyn Stalin überwältigt: Hier lernte der damals 39-Jährigedie nicht einmal halb so alte Nadja Allilujewa kenne. Die ebenso attraktive wie linientreue Schreibkraft wurde 1919 seine Frau und später Mutter zweier Kinder. Ihr Selbstmord 1932 gehört zu den größten persönlichen Tragödien des Machtmenschen, dieseine Paranoia dramatisch steigern und viele Menschenin den Tod treiben sollte.

Stalin hatte also viele Gründe, um Hitler mit Strömen von Blut von „seiner“ Stadt fernzuhalten. Diesem Ziel opferte er mit rund 500.000 Mann mehr als doppelt so viele Soldaten, wie Hitler am Ende in der Apokalypse von Stalingrad untergehenließ. Erst der wütende Entschluss Stalins, die Stadtbis zum letzten Mann zu halten, machte sie für Hitler zu jener symbolischen Beute, die ihn eine ganze Armee opfern ließ.

Je mehr dem selbsternannten „Größten Feldherren aller Zeiten“dämmerte, dass er das große Ziel des Jahres 1942, die Eroberung der sowjetischen Erdölfelder am Kaspischen Meer, nicht würde erreichen können, desto irrsinnger verrannte er sich in den Kampf um Stalins Stadt.

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