Bei der WM in Busan blieben die deutschen Tischtennis-Teams erstmals seit 2016 wieder ohne Podiumsplatz, und in den Individual-Wettbewerben gelang ein Jahr zuvor auch nur im nicht-olympischen Doppel eine Medaille. Mehrere Anzeichen deuten darauf hin, dass Olympia in Paris für Timo Boll und Co. das letzte Hurra sein könnte.
Jörg Roßkopf beschreibt die Erfolgsgeschichte des deutschen Tischtennis gern in den ganz großen Linien. „Seit über 30 Jahren“, verdeutlicht der Herren-Bundestrainer durchaus mit Stolz, „seit über 30 Jahren gehören wir zur Weltspitze und haben in dieser Zeit praktisch bei allen großen Turnieren Medaillen gewonnen.“
Was 1989 bei der WM in Dortmund mit der Titelsensation im Doppel von Roßkopf selbst und Steffen Fetzner begann, nahm in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten tatsächlich einen glänzenden Verlauf: Erst mit „Rossi“ als Galionsfigur in der Box und noch mehr danach durch „Jahrhundertspieler“ Timo Boll stand der Deutsche Tischtennis-Bund (DTTB) geradezu fortwährend in einem Medaillenregen.
Wirbel um Franzikas Ausbootung
Von allen Olympischen Spielen seit 2008 brachte das Herren-Team immer eine Medaille nach Hause, jeweils zweimal standen auch die Damen-Mannschaft (2016 und 2021) und Dimitrij Ovtcharov (2012 und 2021) bei Sommerspielen auf dem Treppchen. Bei WM-Turnieren standen Roßkopfs Asse ab 2010 mehrfach mit dem Saarbrücker Topspieler Patrick Franziska fünfmal im Mannschafts-Finale und gewann Boll 2012 und 2021 Einzel-Bronze, während die DTTB-Damen 2016 immerhin auch Silber gewinnen konnten.
Schöne deutsche Tischtennis-Welt möchte man meinen. Doch weit gefehlt: „Die Chinesen Europas“, wie vor allem Boll und seine Kollegen aufgrund ihrer imponierenden Dominanz auf dem Kontinent in Anlehnung an die Abonnements-Champions aus dem Reich der Mitte häufig bezeichnet worden sind, beginnen zu schwächeln. Ausgerechnet im Jahr der Olympischen Spiele von Paris kassierten beide DTTB-Teams bei der Mannschafts-WM im vergangenen Februar in Busan schmerzhafte Nasenstüber und blieben erstmals seit 2016 ohne Podestplatzierung. Angesichts mehrerer Faktoren könnte das mindestens ernüchternde WM-Ergebnis nicht nur eine Momentaufnahme sein, sondern vielmehr schon Vorbote einer unmittelbar bevorstehenden Zäsur. Bereits für Paris droht den DTTB-Teams die Verdrängung aus der Weltspitze ins Mittelmaß, nur noch mit Kraftakten statt Galavorstellungen und einer immer notwendigen Portion Glück sind bei Olympia Topresultate als ein letztes Hurra einer wahrhaft großen und tatsächlich „goldenen“ Generation realistisch.
Der einsetzende Abstieg auf Raten zeichnete sich bereits ab. Bei der WM im Vorjahr in Südafrika täuschte Bronze im Doppel für Franziska und Altmeister Dimitrij Ovtcharov noch über die Nullnummer im Einzel hinweg, die sich wenige Wochen später bei den Europaspielen in Krakau wiederholen und vom Erfolg im Mannschaftswettbewerb erneut überstrahlt werden sollte. Im vergangenen Spätsommer schließlich bedeutete die Entthronung von Roßkopfs Mannen als Team-Europameister durch Gastgeber Schweden die Einleitung der Zeitenwende. Entsprechend mussten die Olympia-Zweiten bei der diesjährigen WM in Südkorea außer ihren Viertelfinalbezwinger Taiwan auch die WM-Ausrichter und außerdem Frankreich mit seinem erst 17 Jahre alten „Wunderkind“ Felix Lebrun auf das Podium vorbeiziehen lassen. Bei den Damen, 2023 immerhin noch Europameister, verhieß der Viertelfinal-K.-o. bei der WM gegen Frankreich ebenfalls nichts Gutes.
„Vergreisung“ der Nationalteams
Noch in Busan sagte die Verbandsspitze der „Vergreisung“ der beiden Nationalteams den Kampf an. „Wir müssen und werden nach Paris Veränderungen besonders hinsichtlich jüngerer Spieler vornehmen“, kündigte die für den Spitzensport zuständige DTTB-Vizepräsidentin Heike Ahlert Kursänderungen an.
Tatsächlich ist vor allem eine erstaunliche Überalterung beider Mannschaften einer der entscheidendsten Ursache für die unerfreulichen Perspektiven. Roßkopfs Männer-Trio tritt in Paris durch den 43 Jahre alten „Methusalem“ Boll mit einem Durchschnittsalter von 35 Jahren an. Selbst eine vielfach vergeblich geforderte Nominierung von Franziska anstelle von Boll hätte das Mittel auch nur auf 31 Jahre gesenkt. Noch heftiger fällt die Bestandsaufnahme bei den Damen aus: Eine rechtzeitige Genesung von Weltklasse-Abwehrerin Ying Han von einem Achillessehnenriss vorausgesetzt, tritt das Team von Bundestrainerin Tamara Boros mit zwei Ü40-Spielerinnen und einem Altersmittel von mehr als 36 Jahren an. Selbst bei einer nachträglichen Nominierung des erst 17 Jahre alten Supertalents Annett Kaufmann im Falle von Hans Olympia-Aus beliefe sich das Durchschnittsalter immer noch auf nur knapp unter 30 Jahre. Deutlich wird die Problematik an Dang Qiu und der EM-Zweiten Nina Mittelham: Beide kommen in Paris mit schon 27 Jahren zu ihren Olympia-Premieren – und sind dennoch auf dem Papier die „Küken“ in den DTTB-Aufgeboten.
Außer an enttäuschenden Einzelergebnissen wurde die strukturelle Schwäche in Südkorea vor allem im Herren-Team durch einen Blick auf das Gesamtbild erkennbar. Ohne den wegen einer Augenentzündung fehlenden „Leitwolf“ Boll konnten die Top-30-Asse Qiu, Ovtcharov und auch Franziska im gesamten Turnierverlauf nicht ein einziges Match gegen einen Kontrahenten aus den Top 50 gewinnen.
Den Grad der Realitätsverweigerung im DTTB-Lager ließ besonders Ovtcharov erkennen. Der auch schon 35 Jahre alte Routinier, der schon Wochen vor der WM bereits Ansprüche auf einen Olympia-Platz für die Spiele 2028 in Los Angeles meinte anmelden zu können, wollte die 0:3-Abfuhr gegen Taiwan nur allzu gern als einmaligen Ausrutscher gewertet sehen: „Man sollte uns nicht beerdigen. Wir können aus diesem WM-Ergebnis Energie für Paris ziehen.“ Doch auch im Falle von olympischem Edelmetall an der Seine sieht DTTB-Präsident Andreas Hain weniger glänzende Zeiten auf seinen Verband zukommen. „Wir werden uns“, lautet seine Prognose, „mittel- und langfristig in Europa hinter Frankreich und Schweden einreihen müssen.“ Auch nach Ahlerts Ansicht sind „Medaillen keine Selbstläufer mehr“.
„Medaillen sind keine Selbstläufer mehr“
Umso fokussierter wollen Roßkopf und seine Damen-Kollegin Tamara Boros ihre Teams auf dem Weg nach Paris für wenigstens noch einen weiteren Sprung auf das Podest vorbereiten. Steigerungsmöglichkeiten machten Roßkopf und DTTB-Sportdirektor Richard Prause auch schon einige aus: Während Roßkopf mit Blick auf den randvollen Terminkalender rund um die WM für Olympia „noch bessere und noch konzentriertere Arbeit“ von seinen Assen verlangt, entdeckte Ex-Profi Prause im Detail allgemein noch ungenutzte „Potenziale im Aufschlag-Rückschlag-Bereich“ sowie „individuelle Punkte“ bei jedem Spieler.
Boros steht unterdessen vor der Herausforderung einer zweigleisigen Paris-Planung – einmal mit einer wieder genesenen Spitzenspielerin Han und einmal eben ohne. Außer Kaufmann kommt als Ersatz auch die frühere Doppel-Europameisterin Sabine Winter in Betracht – mit 32 Jahren allerdings auch kein Wechsel auf die Zukunft mehr.
Nach Paris dürften für beide Mannschaften – auch aufgrund von Versäumnissen bei der Talentsuche und -förderung in den vergangenen eineinhalb bis zwei Dekaden – die fetten Jahre weitgehend vorbei sein. Die personell notwendige Erneuerung wird ein schwieriger Prozess werden, weil bei Herren wie Damen – vor allem Kaufmann verkörpert die berühmte Ausnahme – hinter den ersten Reihen kaum jüngere Spieler mit Anlagen zu Weltklasse-Akteuren auszumachen sind. Was Kaufmann für die Damen zu werden scheint, könnte bei den Herren Kay Stumper sein. Der auch erst 21 Jahre Jugend-Europameister von 2021 bringt viel Talent mit, hat sich zuletzt allerdings auch als verletzungsanfällig erwiesen und stagnierte in den vergangenen Monaten auch in seiner Entwicklung.
In Normalfall sollten Kaufmann wie Stumper 2028 zu den deutschen Olympia-Teams gehören. Fraglich ist vielmehr, welche Oldies auch in Los Angeles immer noch dabei sein werden.