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Ist "Der Vorleser" ein großer Roman?

Nach "Stauffenberg" kommt nun mit Bernhard Schlinks Bestseller die nächste Verfilmung einer großen Geschichte über die Nazis und den Holocaust. Aber wie bedeutend ist der Roman überhaupt? Zwei Redakteure der "Welt am Sonntag" streiten über die Güte des Werks

Pro

Dass ausgerechnet das Land der Dichter und Denker ein Vernichtungslager wie Auschwitz hervorbringen konnte, glich einer Bankrotterklärung der Literatur und ihrer moralischen Erziehungsleistung. Weder hatte Geschriebenes die deutsche Katastrophe verhindert, noch schien Schreiben nach ihr möglich. Berühmt sind die Worte Theodor W. Adornos, der 1951 befand, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei "barbarisch".

Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser" beweist wie kaum ein Werk der deutschen Nachkriegsliteratur, dass "Schreiben nach Auschwitz" gelingen und dabei sogar publikumstauglich sein kann. In 39 Sprachen wurde es übersetzt, millionenfach verkauft und nun in den Schulkanon erhoben. Das unsagbare Verbrechen als Gegenstand eines massenhaften Leseerlebnisses? Das so etwas gelingt, ist in der Tat derart unwahrscheinlich, dass es kaum verwundert, wenn Kritiker in Schlinks Werk nach "Barbarischem" fahnden. Irgendwo muss er sich doch verstecken, der Kitsch, wenn die Masse schwärmt.

Doch "Der Vorleser" beleidigt elitären Rezensentenstolz: kein Kitsch, nirgends! Schlink erzählt völlig schnörkellos. Sein Stil ist klar, präzise, streckenweise fast kalt. Die Größe dieses Buches wurzelt in der ungeheuren Begebenheit, von der es erzählt. Kaum ein Leser, der von diesem Plot nicht in einem Rutsch durch das Buch gezogen wird. Als Teenanger erlebt der Erzähler Michael mit der 36-jährigen Hanna seine erste Liebe. Jahre später sieht er sie wieder, im KZ-Prozess, angeklagt des Massenmordes an Hunderten jüdischer Frauen.

Der Roman handelt nicht primär von den Tätern. Er handelt von einer Liebe, die den Liebenden mit Schuld belädt. Schuldig wird auch der Leser, hat er sich doch von der ungewöhnlichen Liebesgeschichte und Hannas herber Zärtlichkeit ebenfalls berühren lassen.

"Der Vorleser" präsentiert in einer ins Extreme gesteigerten Form jene verstörende Erfahrung, mit der sich auch noch die heutige Enkelgeneration konfrontiert sehen kann: Auch die geliebte Großmutter, die Oma, ist auf die ein oder andere Weise "dabei" gewesen. Man will das Böse verurteilen und doch seine Herkunft verstehen. Doch wer versteht, verurteilt nicht. Wer verurteilt, versteht nicht. Aus dieser Spannung bezieht "Der Vorleser" seine Bannkraft und große erzählerische Energie.

Die Täterin Hanna ist eine Analphabetin. Deswegen lässt sie sich von Gefangenen im KZ vorlesen. Aus Sorge, man könne ihre Schwäche entdecken, hatte sie zuvor ihre Laufbahn bei Siemens beendet und war zur SS gewechselt. Erst als sie selbst im Gefängnis sitzt und lesen lernt, scheint sie ihre Schuld zu ermessen. Der Genozid als Folge mangelnder Bildung? So einfach ist es dann doch nicht.

Der britische Germanist Jeremy Adler polterte vor einigen Jahren, "Der Vorleser" sei "Kulturpornografie", da er "die erlösende Kraft der Literatur" beschwöre. Doch man tut Schlink unrecht, wenn man ihm einen platten Aufklärungsoptimismus unterstellt: Die Qualität des Textes besteht nicht zuletzt darin, dass er das moralische Fazit verweigert, zur Fixierung des Problems allenfalls verführt. Wer glaubt, Schlink wolle mit der Leseschwäche seiner Hanna die Ursache des Schreckens ein für alle Mal bestimmen, verrät mehr über seine eigene Lese- und Urteilspraxis als über die Haltung des Autors. Dieser Roman ist aufklärerisch: Er entlarvt den (vor-)urteilenden Leser.

Schlinks Erzähler hingegen kann sich bis zuletzt nicht erklären, dass Hanna zur Massenmörderin werden konnte, nur um ihren Analphabetismus zu verbergen. Allzu großes Verständnis für die Täter sucht man in diesem Buch jedenfalls vergebens.

Contra

Bernhard Schlink ist ein großer Autor. Seine drei Romane um den Detektiv Gerhard Selb gehören zu den besten deutschen Krimis überhaupt, sind lässig und mit Wärme erzählt. Und als vor zwei Jahren sein Band "Vergewisserungen" über Recht und Gerechtigkeit erschien, war das ein verständliches Sachbuch auf der Höhe seines Fachs. Nur einmal hat der Rechtsprofessor und Schriftsteller ein richtig ärgerliches Buch verfasst. Es war ausgerechnet sein erfolgreichstes: "Der Vorleser", der gerade in Deutschland mit Nicole Kidman verfilmt wird.

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In den Neunzigern gab es am "Vorleser" kein Vorbeikommen. Es war das Geschenkbuch schlechthin. Immer wenn jemand zu einem Geburtstag musste, egal ob zur Oma, zum besten Kumpel oder zum liebsten Sexualpartner - wenn er noch nichts hatte, passte der "Vorleser". Es schien kritisch, aber auch sanft, für alle Generationen geeignet, für Einfühlsame, für Wütende, für Rationalisten. Es sprach über den Holocaust und war doch seltsam nüchtern, fast positionslos.

Denn ins Auge fiel zunächst nur sein geradezu multiples Skandalpotenzial. Ein 15-Jähriger verliebt sich in eine 36-Jährige - kurz nach dem Krieg, in der prüdesten Adenauer-BRD. Bei ihren Treffen duschen sie zusammen, dann gibt's Geschlechtsverkehr, und dann muss Michael seiner Hanna noch vorlesen. Erst Jahre später, nach einer bitteren Trennung, wird der Jurastudent Hanna im Gerichtssaal wiedersehen und erfahren: Sie war KZ-Aufseherin. Ihre Gefangenen mussten ihr immer vorlesen.

Am Ende des Romans, der noch manche Jahre der Auseinandersetzung erzählt, sieht es so aus, als wollte Hanna manchem Häftling eher helfen. Täter, die vielleicht gar keine waren: Haben wir das nicht immer wieder ertragen müssen in letzter Zeit? In der skandalösen Art, wie Albert Speer dargestellt wurde? Mit Fernsehdokumentationen über Hitlers Hundezüchter, seine Frauen, seine Köche? In Filmen über Napolas oder über Gespräche mit einem Gestapo-Chef? Demnächst will auch noch Jodie Foster das Leben von Leni Riefenstahl nachspielen. Es bleibt nur die Hoffnung, dass sie das Geld nicht zusammenbekommt.

Damit hat auch der "Vorleser" zu tun. Mit ihm fing es nämlich an, das millionenfach goutierte Interesse für die Täter. Man muss dem Roman seinen überraschenden Erfolg auch vorwerfen. Was er alles angerichtet hat: Mehrere Bundesländer haben das Buch auf dem Abitur-Lehrplan. Da wird den Schülern also eingeprügelt, dass man auch die Mörderseite einmal differenziert sehen muss.

"Ich wollte Hannas Verbrechen zugleich verstehen und verurteilen. Aber es war dafür zu furchtbar", sagte der Romanprotagonist und Erzähler einst. Wer würde ihm nicht recht geben. Sein Blick scheint unbestechlich. Doch gerade weil alles so aalglatt passt, ist es so falsch. "Der Vorleser" ist eine gut geschriebene Liebesgeschichte. Richtig. Das ist ja gerade das Problem. Denn nicht jedes Thema fügt sich jeder Form.

Schön, dass internationale Stars in Deutschland einen deutschen Stoff verfilmen. Doch was Nicole Kidman und Ralph Fiennes da spielen, wird lediglich wieder den Blick auf die Täter lenken.

Es reicht! Genug von diesem wohligen Nazischauer, von dem auch der "Untergang" profitierte. Bitte keine Tätergeschichten mehr. Und keine Filme, in denen der Holocaust auch nur mit elegischer Musik und rührseligen Storys in Verbindung gebracht wird. Und, bitte, auch keine dieser Soundtracks zum Massenmord mehr! Nicole Kidman möge bleiben. Aber die Nüchternheit bei diesem Thema, die muss auch wiederkommen.

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