Wir sollten über Putins Zeit hinausdenken«​
Joachim von Puttkamer ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Jena und leitet das »Imre Kertész Kolleg«.

Wir sollten über Putins Zeit hinausdenken«​

Interview mit Prof. Dr. Joachim von Puttkamer, Osteuropahistoriker und Direktor des »Imre Kertész Kollegs«
Joachim von Puttkamer ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Jena und leitet das »Imre Kertész Kolleg«.
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Am 24. Februar begann der russische Überfall auf die Ukraine. Geschockt verfolgt die Weltöffentlichkeit seitdem das Geschehen, die fortlaufenden gewaltsamen Auseinandersetzungen. Wir baten den Osteuropahistoriker und Direktor des »Imre Kertész Kollegs« der Universität Jena, Prof. Dr. Joachim von Puttkamer, um eine Einschätzung der Lage. Als das Interview geführt wurde, lag der Kriegsbeginn beinahe sieben Wochen zurück.

Interview: Stephan Laudien

Herr von Puttkamer, können Sie uns den Krieg in der Ukraine erklären?

Wir Historiker können Orientierung bieten, Dinge in größere Zusammenhänge einordnen. Wir blicken dabei auf größere Zeiträume als die letzten zehn oder 20 Jahre zurück. Das östliche Europa wurde im 20. Jahrhundert stark durch Kriege und massenhafte Gewalt geprägt. Wir unterscheiden Gewalt, die ihren Ursprung in der Region hatte, und Gewalt, die von außen, von aggressiven Nachbarn, hereingetragen wurde. Diese Gewalt von außen überwiegt dabei deutlich. In jüngerer Zeit, konkret ab 1991, war die Ukraine jedoch im Inneren ein friedliches Land. Es gab Spannungen, ja, aber Gewalt wurde erst wieder 2014 von außen hereingetragen.

Wir hören in den Medien von Putins Krieg, Putins Überfall auf die Ukraine. Doch Putin allein kann keinen Krieg führen.

Interessant sind in diesem Zusammenhang die sogenannten Siloviki, die den Machtapparat kontrollieren. Wir haben gesehen, wie Putin diese Männer vor laufender Kamera abkanzelte, nicht zuletzt, um sie in die Pflicht zu nehmen und so die Verantwortung zu teilen.

Dennoch bleibt Putin die bestimmende Kraft. Was treibt diesen Mann an?

Ich denke, Putin verfolgt ein Projekt und sieht jetzt einen geeigneten Zeitpunkt, es zu vollenden. Wir sehen zudem, dass er womöglich gesundheitliche Probleme hat, ihm wohl bewusst ist, dass seine Präsidentschaft endlich ist. Die ganze Propaganda zielt darauf, Putins Pläne als nationales Projekt zu beschwören.

Dennoch ist der Präsident nicht Russland.

Natürlich nicht. Und wir tun gut daran, über den Krieg hinaus zu denken, die Zeit nach Putin einzubeziehen. Es wird sich zeigen, wie lange die Zustimmung zu diesem Krieg anhält, wenn tausende, vielleicht zehntausende russische Soldaten ihr Leben lassen, wenn tausende Familien betroffen sein werden.

Können wir auf die russische Zivilgesellschaft bauen?

Das ist eine schwierige Frage. Aktuell erleben wir enormen Druck, der auf Demonstranten lastet, die sich gegen den Krieg äußern. Jeglicher Widerstand, schon der Verdacht, stößt auf heftige Gegenwehr der Behörden. Studierende, die sich gegen den Krieg positionieren, stehen in der Gefahr, exmatrikuliert und zur Armee eingezogen zu werden.

Also kann sich Putin der eigenen Bevölkerung keineswegs sicher sein?

Die offizielle Lesart lautet »Wir gegen die Welt, die Welt gegen uns!« Damit lässt sich die russische Bevölkerung ruhigstellen. Wie lange der Konsens hält, das vermag kaum jemand zu sagen.

Um die Hintergründe dieses Krieges zu erklären, wird gern weit in die Geschichte zurückgeblickt. Trifft denn das Narrativ der »Brudervölker« überhaupt zu?

Russland, die Ukraine und Belarus können sich auf gemeinsame Ursprünge in der Kiewer Rus berufen. Da sprechen wir vom 9. und 10. Jahrhundert, also einer Zeit, in der die Christianisierung Altrusslands begann. Weite Teile der heutigen Ukraine gehörten später zur polnischen Krone und danach war die Ukraine genau wie Russland ein Teil der Sowjetunion. Seit 1991 ist die Ukraine unbestritten ein souveräner Staat, dessen Grenzen übrigens 1994 von Russland garantiert worden sind. Natürlich gibt es weiterhin viele enge Verbindungen zwischen Ukrainern und Russen, doch der aktuelle Konflikt trägt dazu bei, vorhandene Gräben noch zu vertiefen.

Hat der Ukraine-Krieg konkrete Auswirkungen auf die Arbeit des »Imre Kertész Kollegs«?

Ja, in vielerlei Hinsicht. So werden wir vermehrt von Journalistinnen und Journalisten um Einschätzungen zur Lage gebeten, wir haben gleich zu Beginn des Krieges eine PodiumsdiskussionExterner Link angeboten, die überaus große Resonanz fand und wir unterstützen Kolleginnen und Kollegen. So konnten wir Irina Scherbakowa von der NGO »Memorial« aus Russland mit Unterstützung der Körber-Stiftung und der Thüringer Staatskanzlei gemeinsam mit der Stiftung Buchenwald und Mittelbau-Dora für ein Jahr als Fellow ans Kolleg holen. Außerdem bieten wir einem Wissenschaftler-Paar aus der Ukraine direkt Asyl im Kolleg.