Kant
Omri Boehm und Daniel Kehlmann über Kant – „Auch heute noch elektrisierend“
„Der bestirnte Himmel über mir“: Omri Boehm und Daniel Kehlmann plaudern erfrischend fröhlich über Kants Philosophie.
Am 22. April vor genau 300 Jahren wurde Immanuel Kant in Königsberg geboren. Er war eines jener Kinder, dessen Schicksal zunächst unter keinem günstigen Stern zu stehen schien. In ärmliche Verhältnisse hineingeboren und von verschiedenen körperlichen Gebrechen geplagt, verlor er früh seine geliebte Mutter. Die Zukunftsaussichten waren düster. Doch Kant zeichnete sich schon früh durch außerordentliche Intelligenz aus, und dank der Unterstützung von Förderern konnte er höhere Bildungseinrichtungen besuchen, was den Grundstein für seine beeindruckende akademische Karriere legte. Sein Werdegang war so erfolgreich, dass heute Philosophen wie Omri Boehm und Schriftsteller wie Daniel Kehlmann ein Buch veröffentlichen können, in dem sie, frei von allen akademischen Zwängen, über das erstaunliche Denken des vor drei Jahrhunderten geborenen Genies sprechen.
Das Buch trägt den an ein Kant-Zitat angelehnten Titel „Der bestirnte Himmel über mir“. Der lockere Gesprächston zwischen dem Bestsellerautor von „Die Vermessung der Welt“ und dem diesjährigen Träger des Buchpreises für Europäische Verständigung hält die Leserschaft in jedem Abschnitt bei Laune. Man hat das Gefühl, den beiden beim Nachdenken direkt zuhören zu können.
Kant schrieb in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Beide, so erklärt Kant, „verknüpfe ich mit dem Bewusstsein meiner Existenz“. Diese Ausführungen leiten über zu einem der schönsten Teile des Buches von Kehlmann und Boehm, nämlich den Ausgang zu den Fragestellungen zum Ich und zur „Transzendentalen Dialektik“.
Die Gespräche wurden im Ullstein Verlag in Berlin geführt, doch man stellt sich die beiden unweigerlich vor, wie sie vor der imposanten Kulisse der Kantischen Theorie im Schneidersitz auf einer grünen Wiese sitzen, mal zu diesem oder jenem Gipfel der kantischen Einsichten deuten und die Bedeutung erforschen.
Wer sich mit Kant und seinen Interpretationen auskennt, wird den frischen Wind zu schätzen wissen, der in diesem Gespräch weht und neue Gedanken über den alten Denker anregt. Es entstehen Dialoge, die in einer von Krisen geplagten Zeit einfach um etwas Hochgeistiges kreisen, wie unser Ich. „Ist das Ich außerhalb der Zeit?“, fragt Kehlmann und fügt hinzu: „Das wäre natürlich schön, aber ich bin nicht überzeugt.“ Darauf antwortet Boehm: „Die Frage ist, welches Ich.“
Kant sprach in der „Kritik der reinen Vernunft“ von einem „Ich denke“, das er als ein äußerst abstraktes Prinzip beschrieb. Dieses Ich fundiert alle unsere Erkenntnisse. Boehm erläutert, dass es Kant nicht um das empirische Ich von Kehlmann mit einer eigenen Biografie geht, sondern um eine formale Struktur, die unser Denken ständig begleiten muss, um bewusste Einsichten ermöglichen zu können.
Die Schriften Kants sind oft schwer verständlich, und manchmal glaubte Kant irrtümlich, gerade dort leicht verstanden zu werden, wo alle verzweifelten. So rätseln auch die beiden Autoren auf wunderbare Weise über die Sterblichkeit oder Unsterblichkeit dieses Ichs und warum das Denken in der Zeit, nicht aber im Raum vollzogen wird. Sie debattieren über die Destruktion der Metaphysik in dem Kapitel der „Transzendentalen Dialektik“ und die heutige Relevanz der kantischen Erkenntnistheorie.
Das Buch
Omri Boehm / Daniel Kehlmann: Der bestirnte Himmel über mir. Ullstein, Berlin 2024. 350 Seiten, 26 Euro.
Kehlmann sagt, „unsere modernen Diskurse sind voll von metaphysisch unüberprüften Annahmen, die sich für Wissenschaft halten“. Boehm betont, „die ganze Geschichte der westlichen Philosophie ist von Anfang an von der Metaphysik angetrieben“. Von der Idee der Welt, der Idee Gottes, von der Idee der Seele. Kehlmann ist begeistert von Kants sogenannten apagogischen Beweisen, die für zwei einander widersprechende Sätze genau gleich gute Gründe anführen.
Beide sind „elektrisiert“ von Kants Gedanken, etwa über die Frage, ob Existenz nun ein Vermögen ist – wie Anselm von Canterbury es nannte – oder ein bloßes Prädikat. Denn darüber entscheide sich, erläutert Boehm, ob Gott existiere oder eben nicht.
Das Staunen, das sich Wundern gilt seit alters her als der Ursprung philosophischer Gedanken. Das Schöne an diesem Gespräch ist, dieses Staunen noch einmal in aller Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit miterleben zu können. Boehm und Kehlmann erklimmen zusammen den einen oder anderen Berg in Kants weit ausgreifender Theorie. Sie steigen aber auch in die Klüfte, die Kant selbst erblickt hat, etwa als er die „Kritik der Urteilskraft“ schrieb. Beide nähern sich den jeweiligen Punkten mit einer ungewohnten Direktheit, etwa wenn sie sich fragen, ob Eichmann denken kann oder was man über Gott als philosophische Frage sagen kann.
So wird sogar die anspruchsvolle Philosophie Kants zur fröhlichen Wissenschaft, wenn Boehm und Kehlmann das Erhabene durchmessen, die ästhetische Idee diskutieren oder die Frage nach dem Bösen stellen. Zudem: War Kant nun ein Atheist? Und wie stand er zu David Hume?
Natürlich kann man Kant anders lesen als die beiden es tun. Wer sich mit ihm befasst hat, kennt die Richtungen der Deutung des Ich, der sogenannten „synthetischen Einheit der Apperzeption“ und ihrer Rolle für unsere Erkenntnis. Dass unser Denken in der „Kritik der reinen Vernunft“ etwas Unzeitliches ist, was seine Form betrifft, ist ebenfalls Basiswissen. Heidegger versuchte dies umzustürzen und alles in den Sog der Zeit hineinzuziehen. Für Kant war das Denken nicht Bestandteil des inneren Sinnes, der unter der Form der Zeit steht. Das schließt nicht aus, dass wir unserer Denkvollzüge, die empirisch sind, in unserem inneren Sinn, damit in der Zeit, bewusst sind.
Die Dialoge sind so anregend, weil vieles, das herkömmlich ist, neu angegriffen wird. Es wird einfach drauflosgefragt. Und dies sind allesamt Fragen, die man sich eben stellt, wenn man nicht in den Tiefen der akademischen Debatte versunken ist. Das Buch ist ein wahrer Lesegenuss. Ein Werk für alle und keinen, wie Nietzsche sagen würde, zugänglich für jedermann. Keine Frage: Kehlmann und Boehm haben im großen Kant-Jahr das erfrischendste Buch von allen geschaffen.