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Zehn Gründe, warum der Westen Balkan-Pop tanzt

Redakteur Feuilleton
Vor kurzem adelte Peter Fox die deutsch-rumänische Sängerin Miss Platnum, indem er sie in seinem Vorprogramm spielen ließ. Doch Miss Platnum ist nur eine von vielen, die uns die exotische Musik des Ostens näher bringt. WELT ONLINE nennt zehn Gründe, warum der Westen für den Balkan-Pop entflammt ist.

1. Miss Platnum

Berlin, 2009 an einem Sommerabend. Auf die Freilichtbühne, die einmal den Jungen Pionieren in der DDR gehörte, tritt die üppige Miss Platnum. Eine Sängerin im Schürzenkleid. Sie fordert ihre Schwestern zum Besäufnis auf, verlangt ein deutsches Auto und ernennt sich selbst zur „Chefa“.

Eigentlich gehört der Abend Peter Fox. Die derzeit größte lebende deutsche Popfigur zieht sich zurück mit einer Abschiedsvorstellung. Er überlässt die Bühne einer 28-jährigen gebürtigen Rumänin, die seit mehr als 20 Jahren Deutsche ist, aber so aussieht, wie sich Deutsche eine Deutschrumänin aus Temeschwar denken.

Ruth Maria Renner wanderte mit ihren Eltern 1988 ein. 2007 sang sie als Miss Platnum im Duett mit Peter Fox das Hochzeitslied „Come Marry Me“. „Der Westen schmeckt nach Gold“, rief Peter Fox ihr damals zu. Der Reigen wurde untermalt von einer überhitzten Blaskapelle.

Nun erscheint Miss Platnums „The Sweetes Hangover“. Kreuzstich-Stickereien auf der Plattenhülle, Roma-Musiker aus Belgrad, Trinklieder und eine revidierte Fassung von Kate Bushs „Babooshka“. R’n’Balkan, wie Miss Planum sagt, der „Sound der Seele“.

2. Henry Ernst

Zece Prajini, 1996 im Herbst. Beim Halt auf freier Strecke springt der Sachse Henry Ernst vom Zug, im Grenzland zwischen Moldau und Rumänien. Ernst, der Tonmeister, ist auf der Suche nach dem Turbofolk der Roma. Fündig wird er zwischen Schlammstraßen und Fuhrwerken, wo ein Ensemble, die Fanfare Ciocarlia, auf verbeulten Instrumenten bläst.

Ernst holt sie nach Berlin ins Studio und nimmt ihre Stücke auf. Er steuert sie im Mietbus eigenhändig durch die Welt. Auch die Japaner sind begeistert von den haarigen Männern mit den goldenen Ketten, die sich Geldscheine an ihre Stirnen kleben und sich nicht zu schade sind, noch das James-Bond-Thema durchs Blech zu pusten. Mit den Einkünften sanieren sie in Zece Prajini zunächst die Hütten. Danach stiften sie die erste Roma-Kirche und ein Heiligenbild, das stark an Henry Ernst erinnert.

In den späten Achtzigerjahren wuchs der Überdruss des Westens an seiner Musik. Der Pop schien ausgereizt. Lateinamerika und die Karibik waren durch. Noch weiter westlich kam man wieder nur im Fernen Osten an oder im abgegrasten Orient. Als Osteuropa 1989 auf der Landkarte erschien, begrüßte das Musikgeschäft den Absatzmarkt.

Der allzu nahe Osten wirkte auf den Westen wie der Spielfilm „Underground“ aus Serbien: Schrullige Partisanen hausen unter Tage, ohne zu bemerken, dass der Krieg vorüber ist und oben die Zivilgesellschaft herrscht. Emir Kusturica hatte den Film gedreht, und Goran Bregovic hatte für übermütige Musik gesorgt. Film und Musik gefielen auch im Westen. Das Exotische lag plötzlich vor der Haustür. Wie die Tiefsee, in der mehr Geheimnisse verborgen sind als auf der Milchstraße.

3. Ein minderjähriger Migrant

Berlin, 2009 tagtäglich. In der S-Bahn spielt ein minderjähriger Migrant Akkordeon. Unablässig, zwischen Hackescher Markt und Friedrichstraße und zurück. Seine Familie lässt das Geld im Kaffeebecher rasseln. Das Programm besteht aus einer einzigen „Lambada“, die von 1989 stammt und von einer Pariser Band. Sie klingt schauderhaft. Die Fahrgäste schenken dem Künstler warme Blicke. Jeden S-Bahn-Dylan strafen sie heute mit eisiger Missachtung.

4. Eugene Hütz

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New York, 2007 im Winter. Eugene Hütz genehmigt sich ein Wannenbad. Das Telefon: „Hier spricht Madonna, und ich bin dein größter Fan.“ Es ist kein Witz, sondern Madonna. Hütz, ein knochiger Mann mit schadhaftem Gebiss, kam 1993 nach New York, nach einer siebenjährigen Odyssee aus der atomverseuchten Ukraine.

Er begründete die Folkpunk-Band Gogol Bordello. Beim Live-Earth-Konzert in London unterstützte seine Band Madonna dabei, ihre „La Isla Bonita“ vor die Schwarzmeerküste zu verlegen. Zuletzt würdigte die ehemalige Königin des Pop das „Gypsy Punk Cabaret“ Gogol Bordellos mit der selbst gedrehten Kino-Ode „Filth And Wisdom“.

Es sind nicht nur kleine Afrikaner, die Madonna adoptiert, sondern auch ausgewachsene Musiker aus Osteuropa. Aus dem Wilden Osten. Wer plötzlich den inneren Balkan in sich spürt, spricht gern über die Richtungsänderung im Pop. Der Wind wehe heute von Ost nach West.

In Wahrheit bläst den Musikern im Osten aus dem Westen eine Zuneigung entgegen, die ihnen durchaus behagt. Die Regeln werden weiterhin im Westen aufgestellt, dort, wo die Sonne untergeht. Wo man schon alles hat, außer vielleicht bedingungslosen Freundschaften, verschworenen Familien, Leidenschaft und Heimat.

5. Madonna

Bukarest, 2009 im Sommer. Mit Madonna treten Roma auf, die man wieder Zigeuner nennen darf, solange man es gut mit ihnen meint. Sie werden ausgiebig bejubelt. Bis Madonna ihren Zeigefinger hebt, ihre Musik anhalten lässt und die Rumänen darauf hinweist, dass sie die Zigeuner nicht diskriminieren dürfen. Die Rumänen buhen. Nicht weil sie keine Zigeuner mögen, sondern weil sie sich nicht gern belehren lassen von einer Geschäftsfrau aus dem Mittelwesten von Amerika. Madonna macht der Unmut stolz. Sie ist die Anwältin der musizierenden Minderheit schlechthin. Die Retterin des wahren Ostens.

6. Dejan Lazarevic

Guca, im Sommer 2008. Dejan Lazarevic erhält die „Goldene Trompete“. Alle feiern ihn als neuen Boban Markovic, den Seriensieger des Musikwettstreits von Guca in Westserbien. Markovic nimmt heute mit Miss Platnum Platten auf, und Guca ist kein abseitiger Festspielort für Roma mehr. Es geht nicht mehr um die Befreiung der Zigeunermusik wie nach 1989. Guca wird heute vom gleichen Publikum bereist wie Wacken oder Rock am Ring. Es ist ein Festival wie jedes andere auch, nur abgefahrener.

7. Nullerjahre

Während der Nullerjahre, überall. Der Westen hat den Balkan musikalisch in die Welt getragen. Wo man hinkommt: Die beherzten Bläser sind schon da, globalisiert wie Turnschuh-Marken und Kaffeehaus-Ketten. Nicht nur im zerfallenen Jugoslawien, in den Überresten der Sowjetunion und der erweiterten EU. In Brooklyn johlt die Balkan Beat Box „I Belong To No Country“. In Berlin residiert die Gruppe Apparatschik.

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Und Berlin, das „Tor zum Osten“, darf sich wiederum als Hauptstadt einer Popbewegung fühlen: 1990 trieb der Balkankrieg auch den Kroaten Soko in die Stadt, er gründete die Party-Reihe „Balkan Beats“. Den Exilanten, die ironisch um ein Bildnis des Despoten Tito tanzten, folgten bald die deutschen Neuberliner. Wladimir Kaminer legt seit zehn Jahren zur „Russendisko“ auf. Sein Partner Yurij Gurzhy unterhält die Band Rotfront. Die 17 Hippies haben sich im Spielfilm „Halbe Treppe“ in die Herzen aller Balkanfans gehupt, die Ohrbooten den „Gyp Hop“ in die Welt gesetzt.

In der Wildwest-Stadt Santa Fe bastelt Zach Condon seit seinem Debüt „Gulag Orkestar“ daran, solche Ost-Sehnsüchte zu vertonen. Condon war schon mal in Prag. Unter dem Künstlernamen Beirut fing er an mit Balkan-Bläsern am Computer. Er erweiterte sein folkloristisches Konzept um Tango und Musette und trägt damit den offenen Vorstellungen seiner Hörer Rechnung: Klezmer, Orientalisches und Bollywood-Motive stören niemanden. Es geht nicht mehr um das Gebot der Reinheit, dem Diktat der Weltmusik. Gern wird auf die Hybridkultur des Balkans hingewiesen. Auf dem Balkan wurde immer Bastard-Pop gespielt. Im Osten wirkt auch das Versprechen noch, sich ständig selbst neu zu erfinden, die Nutella-Kindheit abzulegen und zum Abenteurer zu mutieren.

8. Shantel

Frankfurt am Main, 2002 im Herbst. Am Schauspielhaus öffnet der Bucovina Club, geführt von einem DJ namens Shantel. Stefan Hantel hat während der Neunzigerjahre herkömmliche Clubmusik verbreitet, Wiener Loungeklänge nach Deutschland importiert und sich beizeiten mit den faden Beats gelangweilt. Dann flog er nach Czernowitz, der Stadt, die seine Großeltern im Krieg verließen, als die Deutschen kamen. In die Bukowina, in die Ukraine. Shantel las sich einiges an über einen der kulturellen Knotenpunkte Alteuropas. Paul Celan wirkte in Czernowitz und um ihn Bürgertum, Boheme und Bauern. „Ich war aber auch ernüchtert“, sagt der DJ: „Das Besondere der Bukowina war verschüttet durch Krieg, Nationalsozialismus und Sowjetunion.“

Auf seine Weise grub es Shantel wieder aus. Er schmückte sich mit einem Pelzhut und nannte sich „King Of Balkan Pop“. Er mischte House- und Blasmusik, stellte CDs zusammen, lieferte für den Film „Borat“ einen Mix und nahm das Album „Disko Partizani“ auf. Er gründete das Bukovina Club Orkestar mit der Serbin Vesna Petkovic und Musikern von Sandy Lopicic Orkestar. Selbst hängt er sich auf der Bühne die Gitarre um. Sein neues Album trägt den Titel „Planet Paprika“ mit Botschaften wie „Passa passaport control, you don’t need visa!“ Bei Konzerten sieht man Szenen wie beim Mauerfall. Verbrüderungen, Hysterie und Alkohol. Shantel: „Balkan ist ein Lebensgefühl.“?

Balkan statt Ballermann, das Leben ist eine Bauernhochzeit. Da fühlt sich der durchschnittliche Hedonist wieder als Mensch. Ein fröhlicher Schlawiner, der sich die Frisur gern von der Tuba fönen lässt, der weiß, wo seine Urgroßmutter her kam und wo er zu Hause sein will. Abwirtschaften kann der Westen sich auch ohne ihn.

9. Nochmal Shantel

Rio de Janeiro, 2006 im Sommer. Beim TIM Festival in Rio tritt der Hesse Shantel auf, zwischen den Beastie Boys und Daft Punk.

10. Weimar

Weimar, 2009, sonnabends. Auch die Stadt der deutschen Klassiker besitzt ein E-Werk, das heute als Disco dient: der Weimaraner HipHop-Jugend und den Neubürgern, Kulturtouristen und verwirrten Rentnern aus dem Rheinland. Für die einen gibt es HipHop, für die anderen den eleganten Pop der Achtziger, man tanzt zu ranzigem Rock oder zu Soul. Schlag Mitternacht tröten die Bläser los, und plötzlich tanzen alle bis zum Morgen.

Peter Fox erörtert seiner Braut Miss Platnum aus Rumänien: „Das ist der Deal! Du brauchst’n Ehemann/ Ich brauch ’ne Frau, die Kochen und nähen kann.“ Miss Platnum korrigiert ihn: „I want a Mercedes Benz.“ Der Osten hat den Westen immer schon verstanden. Häufig besser als der Westen seine Krisen selbst.

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