Jorinde und Joringel - Text und Interpretation des M�rchens
Die geistige Botschaft unserer alten M�rchen

Jorinde und Joringel

M�rchentext der Gebr�der Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Gr�n [2018]

Es war einmal ein altes Schlo� mitten in einem gro�en dicken Wald, darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberin. Am Tage machte sie sich zur Katze oder zur Nachteule, des Abends aber wurde sie wieder ordentlich wie ein Mensch gestaltet. Sie konnte das Wild und die V�gel herbeilocken, und dann schlachtete sie, kochte und briet es. Wenn jemand auf hundert Schritte dem Schlo� nahe kam, so mu�te er stillestehen und konnte sich nicht von der Stelle bewegen, bis sie ihn lossprach; wenn aber eine keusche Jungfrau in diesen Kreis kam, so verwandelte sie dieselbe in einen Vogel und sperrte sie dann in einen Korb ein und trug den Korb in eine Kammer des Schlosses. Sie hatte wohl siebentausend solcher K�rbe mit so raren V�geln im Schlosse.

In den meisten M�rchen haftet alten Hexen oder Zauberinnen etwas B�ses an, was sich in unserer Zeit heute schon fast verselbst�ndigt hat. Doch nur b�se? Geht das �berhaupt? Wir meinen, nicht. Denn �berall, wo ein Minus ist, mu� auch ein Plus sein. Alte Hexen scheinen b�se und bewirken doch Gutes, denn sie sind Sinnbilder der wirkenden Natur. Man k�nnte unsere Welt in zwei Prinzipien einteilen, in die k�rperliche, mit Gef�hlen und Konzepten beladene Natur und in den reinen, heilsamen Geist. Die eine wirkt und schafft, der andere gibt die Richtung an. Ohne das Handeln, die Gef�hle und Gedanken kann der Geist nichts bewirken, und ohne den f�hrenden Geist l�uft die Natur aus dem Ruder und verf�ngt sich in Extremen, die Schmerzen bringen. Beide geh�ren zusammen und sind tats�chlich nicht getrennt. Doch im M�rchen gibt es Sinnbilder, die uns dar�ber nachdenken lassen, was in unserem Inneren und damit auch im �u�eren wirkt und webt und schafft.

Hier bei uns steht die Hexe am Anfang der Geschichte f�r Leidenschaft, auch Gier und Wollust, und wer diese Gef�hle ungez�gelt in sich tr�gt und der Versuchung in Gestalt der Hexe zu nahe kommt, wird von ihr eingefangen. Denn ein Zuviel von irgendetwas l�hmt uns, macht uns schwer, und liefert uns ganz und gar der Hexe aus.

Zu den Namen Jorinde und Joringel kann man nur spekulieren. Das gemeinsame �Jo� deutet darauf hin, da� sie f�reinander bestimmt sind. Und Rinde und Ringel erinnern an einen Baum mit der �u�erlichen Rinde und den inneren Jahresringen, was ebenfalls bedeuten w�rde, die beiden geh�ren zusammen.

Nun war einmal eine Jungfrau, die hie� Jorinde; sie war sch�ner als alle anderen M�dchen. Die und dann ein gar sch�ner J�ngling namens Joringel hatten sich zusammen versprochen. Sie waren in den Brauttagen, und sie hatten ihr gr��tes Vergn�gen eins am andern. Damit sie nun einsmalen vertraut zusammen reden k�nnten, gingen sie in den Wald spazieren. �H�te dich,� sagte Joringel, �da� du nicht so nahe ans Schlo� kommst.� Es war ein sch�ner Abend, die Sonne schien zwischen den St�mmen der B�ume hell ins dunkle Gr�n des Waldes, und die Turteltaube sang kl�glich auf den alten Maibuchen. Jorinde weinte zuweilen, setzte sich hin im Sonnenschein und klagte: Joringel klagte auch. Sie waren so best�rzt, als wenn sie h�tten sterben sollen; sie sahen sich um, waren irre und wu�ten nicht, wohin sie nach Hause gehen sollten.

Da sind wir also: ein jung verliebtes Paar, das im Wald allein sein will, die Turtelt�ubchen gurren, und die Leidenschaft gl�ht. Trotz guter Absicht und aller Zur�ckhaltung � nicht zu nahe an die Hexe, sprich Wollust heran! � sind die leidenschaftlichen Gef�hle st�rker und verwirren den Verstand. Daher leiden und klagen die beiden. Die Versuchung ist gro�, und die Hexe kann die beiden anlocken und in ihren Bannkreis ziehen.

Noch halb stand die Sonne �ber dem Berg, und halb war sie unter. Joringel sah durchs Geb�sch und sah die alte Mauer des Schlosses nah bei sich; er erschrak und wurde todbang. Jorinde sang:

�Mein V�glein mit dem Ringlein rot, singt Leide, Leide, Leide:
es singt dem T�ubelein seinen Tod,
singt Leide, Lei - zick�th, zick�th, zick�th.�

Das Licht des Tages schwindet, und die dunklen M�chte �bernehmen die Herrschaft. Zwar sehen die beiden das Ungl�ck kommen, doch sie sind bereits gefangen, bevor die Hexe tats�chlich in persona erscheint.

Joringel sah nach Jorinde. Jorinde war in eine Nachtigall verwandelt, die sang zick�th, zick�th. Eine Nachteule mit gl�henden Augen flog dreimal um sie herum und schrie dreimal schu, hu, hu, hu. Joringel konnte sich nicht regen. Er stand da wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fu� regen. Nun war die Sonne unter; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam eine alte krumme Frau aus diesem hervor, gelb und mager: gro�e rote Augen, krumme Nase, die mit der Spitze ans Kinn reichte. Sie murmelte, fing die Nachtigall und trug sie auf der Hand fort. Joringel konnte nichts sagen, nicht von der Stelle kommen; die Nachtigall war fort.

Endlich kam das Weib wieder und sagte mit dumpfer Stimme: �Gr�� dich, Zachiel, wenn�s M�ndel ins K�rbel scheint, bind lose Zachiel, zu guter Stund.� Da wurde Joringel los. Er fiel vor dem Weib auf die Knie und bat, sie m�chte ihm seine Jorinde wiedergeben, aber sie sagte, er sollte sie nie wiederhaben, und ging fort. Er rief, er weinte, er jammerte, aber alles umsonst. �Uu, was soll mir geschehen?�

Die Hexe f�ngt sich das V�gelein und tr�gt es fort � Jorinde ist vorerst v�llig unter der Macht der Natur. Sie wird von jeder Vernunft getrennt, ist ganz und gar Gef�hl und Trieb und f�llt damit ins Reich der Tiere. Die Hexe gibt Joringel frei mit Hilfe des Erzengels Zachiel, der f�r das Bew�ltigen von Problemen, g�ttliche Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Erinnerung und auch Vergebung steht. Sein Name bedeutet �gedenkt der G�tter�. Ist diese Hexe nun v�llig d�monisch und b�se? Ist gar nichts G�ttliches in ihr? Eher nicht. Sie schickt Joringel bewu�t auf eine Reise, die ihn ver�ndern wird.

Joringel ging fort und kam endlich in ein fremdes Dorf; da h�tete er die Schafe lange Zeit. Oft ging er rund um das Schlo� herum, aber nicht zu nahe dabei. Endlich tr�umte er einmal des Nachts, er f�nde eine blutrote Blume, in deren Mitte eine sch�ne gro�e Perle war. Die Blume brach er ab, ging damit zum Schlosse: alles, was er mit der Blume ber�hrte, ward von der Zauberei frei; auch tr�umte er, er h�tte seine Jorinde dadurch wiederbekommen.

Die beiden ersten S�tze sind so kurz und dabei so reich, wenn man sie auf die geistige Entwicklung eines Menschen bezieht. In ein fremdes Dorf gehen bedeutet, sich von der gesch�ftigen Welt, wie sie einen bisher umgab, zur�ckzuziehen, also zum Einsiedler zu werden. Wer die Schafe h�tet, h�tet und kontrolliert seine tierischen Triebe, seine Gedanken und Gef�hle � schwer genug! Das Schlo� mag auch ein Sinnbild f�r das verfestigte Ego sein, welches sich mit hohen Mauern abgrenzt und starr allein dastehen will. Und das Schlo� im Auge behalten, aber ihm nicht zu nahe kommen, hei�t: nat�rlich wird man seine Leidenschaften und das Ego nicht los, solange man einen K�rper hat. Aber sie zu beobachten, sie zu achten, zu z�geln und eine gewisse Distanz zu halten, damit sie einen nicht �berw�ltigen, ist das Handeln eines Meisters. Der indische Weise Dadaji schreibt dazu:

�Es gibt ein gro�es Mi�verst�ndnis in der Welt �ber die Wollust. Die Schriften sagen, die Wollust ist ein Gift, das die (geistige) Befreiung verhindert. Und viele Menschen stimmen dem zu. Doch wir sagen, ... da� nicht die Wollust das Gift ist, sondern wenn der Respekt vor der Wollust fehlt, das ist das Gift. Sei achtsam mit der Wollust! [Aptavani 1.116]�

Und wer eine gewisse, geistige Reinheit und Klarheit erlangt hat, dem k�nnen Tr�ume und Visionen weiterhelfen.

Des Morgens, als er erwachte, fing er an, durch Berg und Tal zu suchen, ob er eine solche Blume f�nde; er suchte bis an den neunten Tag, da fand er die blutrote Blume am Morgen fr�h. In der Mitte war ein gro�er Tautropfen, so gro� wie die sch�nste Perle. Diese Blume trug er Tag und Nacht bis zum Schlo�. Wie er auf hundert Schritt nahe bis zum Schlo� kam, da ward er nicht fest, sondern ging fort bis ans Tor.

Was war das Ziel der Askese des jungen Mannes? Die rote Blume steht sicherlich f�r die Liebe. Doch nicht mehr die selbsts�chtige, egoistische Liebe, die nur haben und genie�en will. Der Tautropfen steht f�r klares, reines und heiligendes Wasser, ein neues Bewu�tsein. Es ist die reine, heilige Liebe, die wahrhaft geben kann, weil sie nicht Sklave der Leidenschaften ist.

Joringel freute sich hoch, ber�hrte die Pforte mit der Blume, und sie sprang auf. Er ging hinein, durch den Hof, horchte, wo er die vielen V�gel vern�hme; endlich h�rte er�s. Er ging und fand den Saal, darauf war die Zauberin und f�tterte die V�gel in den siebentausend K�rben. Wie sie den Joringel sah, ward sie b�s, sehr b�s, schalt, spie Gift und Galle gegen ihn aus, aber sie konnte auf zwei Schritte nicht an ihn kommen. Er kehrte sich nicht an sie und ging, besah die K�rbe mit den V�geln; da waren aber viele hundert Nachtigallen, wie sollte er nun seine Jorinde wiederfinden? Indem er so zusah, merkte er, da� die Alte heimlich ein K�rbchen mit einem Vogel wegnahm und damit nach der T�re ging. Flugs sprang er hinzu, ber�hrte das K�rbchen mit der Blume und auch das alte Weib - nun konnte sie nichts mehr zaubern, und Jorinde stand da, hatte ihn um den Hals gefa�t, so sch�n, wie sie ehemals war. Da machte er auch alle die andern V�gel wieder zu Jungfrauen, und da ging er mit seiner Jorinde nach Hause, und sie lebten lange vergn�gt zusammen.

Ja, es ist die selbstlose Liebe, welche Jorinde aus dem Gef�ngnis ihrer engen, tierischen Geisteswelt holt, und der die Hexe nichts anhaben kann, auch wenn sie durch ihr W�ten den J�ngling noch einmal pr�ft. Mehr noch, wird die Hexe mit der Blume der selbstlosen Liebe ber�hrt, hat die Versuchung jede Kraft verloren und kann nicht mehr fesseln. Und doch war es wichtig, da� die Hexe einmal Gewalt �ber die jungen Menschen gehabt hat. Denn h�tte sich Joringel ohne den schmerzhaften Verlust freiwillig weiterentwickelt? Es ist die Aufgabe der Natur, uns wachzur�tteln, uns klarzumachen, wie gefesselt wir sind, wenn wir Sklave unserer z�gellosen Leidenschaften sind, auch wenn es schmerzhaft ist und scheinbar mit Verlust behaftet. Doch nur dann suchen wir den geistigen Pfad zur selbstlosen Liebe, die jede Hexe und jeden D�mon bezwingen kann.


Einleitung
Jorinde und Joringel (Thema: Die Macht wahrer Liebe)
Der Eisenhans - (Thema: Die Natur zum Feind machen)
Die Alte im Wald - (Thema: Wandlung in der Natur)
H�nsel und Gretel - (Thema: Ego und Begierde besiegen)
Rumpelstilzchen - (Thema: Das Wesen der Natur und ihr Geist)
Frau Holle - (Thema: Das Wesen der Natur)
Von einem, der auszog, das F�rchten zu lernen - (Thema: Das Wesen der Angst)
Rotk�ppchen - (Thema: Das Wesen der Begierde)
Hans im Gl�ck - (Thema: Der Weg zum wahren Gl�ck)
Der Gevatter Tod - (Thema: Das Wesen von Tod und Wirklichkeit)
... Inhaltsverzeichnis aller M�rchen-Interpretationen ...

[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausm�rchen, 7. Auflage, Berlin 1857
[Aptavani 1] Ambalal Muljibhai Patel, 1983, Deutsche �bersetzung unter www.pushpak.de
[2018] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de