Kriegsende 1945: So war es wirklich – „Tannbach“ im Faktencheck - WELT
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So war es wirklich – „Tannbach“ im Faktencheck

Standgerichte der SS, Gewaltverbrechen der Roten Armee, kollektive Amnesie: Der ZDF-Dreiteiler „Tannbach“ vermittelt ein durchaus zutreffendes Bild vom Ende des Zweiten Weltkriegs.
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Das Grauen in den letzten Tagen des Krieges: Ein Standgericht vollstreckt Todesurteile wegen „Wehrkraftzersetzung“ (oben links in „Tannbach“ und oben rechts in der Wirklichkeit); Flüchtlinge schleppen sich nach Westen (unten) Das Grauen in den letzten Tagen des Krieges: Ein Standgericht vollstreckt Todesurteile wegen „Wehrkraftzersetzung“ (oben links in „Tannbach“ und oben rechts in der Wirklichkeit); Flüchtlinge schleppen sich nach Westen (unten)
Das Grauen in den letzten Tagen des Krieges: Ein Standgericht vollstreckt Todesurteile wegen „Wehrkraftzersetzung“ (oben links in „Tannbach“ und oben rechts in der Wirklichkeit); F...lüchtlinge schleppen sich nach Westen (unten)
Quelle: ZDF/pa/dpa/akg

Der SS-Offizier gibt erbarmungslos das Kommando: „Achtung – Feuer!“ Dann drücken die vier Waffen-SS-Männer die Abzüge ihrer Karabiner durch. Während schon die ersten US-Soldaten sich vorsichtig dem Anwesen der Familie Striesow nähern, wird im Fernsehfilm „Tannbach“ die Hausherrin standrechtlich erschossen – wegen „Wehrkraftzersetzung“. Die Szene gehört zu den erschütterndsten Momenten in der ersten Folge des zeithistorischen Dreiteilers, mit dem das ZDF den ersten Höhepunkt des Jahres setzte.

Ein zweite Szene vom Ende des ersten Teils hat im Vorfeld der Ausstrahlung für Widerspruch gesorgt. Als Soldaten der Roten Armee beim Plündern eines Hofes in einer Kommode ein Hitler-Porträt finden, lässt der Offizier einen alten Mann, dessen Tochter und den kleinen Enkel kurzerhand mit einer Maschinenpistole erschießen. Einige Premierengäste, die in der DDR aufgewachsen waren, hielten diese Darstellung für überzogen, denn die Sowjetsoldaten seien „kinderlieb“ gewesen.

Grund genug, den ZDF-Film von Regisseur Alexander Dierbach und Produzentin Gabriela Sperl einem Faktencheck zu unterziehen: Wie verlässlich ist das, was in „Tannbach“ geschildert wird?

Wegen des Eisernen Vorhangs, der mitten durch den Ort auf der Grenze zwischen Bayern und Thüringen verlief, wurde das Dorf Mödlareuth „Little Berlin“ genannt
Wegen des Eisernen Vorhangs, der mitten durch den Ort auf der Grenze zwischen Bayern und Thüringen verlief, wurde das Dorf Mödlareuth „Little Berlin“ genannt
Quelle: picture-alliance /

Ein Dorf dieses Namens gibt es in Deutschland nicht. Wohl aber ein kleines Gewässer, das durch den winzigen Ort Mödlareuth fließt, gelegen genau dort, wo Bayern und Thüringen im Vogtland aufeinanderstoßen. Offensichtlich ist Mödlareuth das Vorbild für den fiktiven Ort Tannbach, der Anfang Juli 1945 durch die Zonengrenze zwischen dem sowjetisch besetzten Thüringen und dem amerikanisch besetzten Bayern geteilt wurde.

Nicht alle Ereignisse, die das Drehbuch von Josephin und Robert von Thayenthal schildert, haben tatsächlich in Mödlareuth stattgefunden. Aber dennoch sind fast alle historisch belegt, wenn auch oft an anderen Orten. Doch keine dieser Episoden ist so ausgefallen, dass sie nicht auch in „Tannbach“ hätte stattfinden können, wenn es denn existiert hätte.

Das gilt natürlich für die willkürlichen Erschießungen durch „fliegende Standgerichte“ der SS oder auch nur einfach Nazis, die um jeden Preis einen sinnlosen Widerstand einforderten und Kapitulationswillige töten ließen.

„Endphaseverbrechen“: Verhandlung eines Feldgerichts über vermeintliche „Verräter und Deserteure“
„Endphaseverbrechen“: Verhandlung eines Feldgerichts über vermeintliche „Verräter und Deserteure“
Quelle: picture-alliance / dpa

Die Zeitgeschichtsforschung nennt diese Morde „Endphaseverbrechen“. Ihnen fielen wahrscheinlich Zehntausende Menschen zum Opfer – Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge, aber auch ganz normale deutsche Männer, Frauen und Kinder, besonders echte oder vermeintliche Deserteure oder ihre Angehörigen, die sie versteckten hatten oder verdächtigt wurden, das zu tun. Solche Morde gab es auch noch unmittelbar vor dem Einmarsch alliierter Truppen, wie Gefechtsberichte der US Army es dutzendfach beschreiben.

Viel schlechter dokumentiert sind allerdings ähnliche Verbrechen der Roten Armee. Allgemein bekannt ist, dass es beim Vormarsch der russischen Truppen gen Westen überall unmittelbar hinter den kämpfenden Einheiten zu Grausamkeiten gekommen ist – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern vorher bereits im von den Nazis befreiten und gleich von den Sowjets besetzten Polen.

Doch viele der überlebenden Opfer schwiegen – vor allem Frauen, die oft mehrfach vergewaltigt worden waren. Doch allein die erhaltenen und seit 1990 neu veröffentlichten Schilderungen belegen, dass Vergewaltigungen und willkürliche Erschießungen von Zivilisten durch sowjetische Soldaten ein Massenphänomen waren.

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Natürlich geschah das, nachdem die Wehrmacht große Teile der westlichen Sowjetunion erobert, verwüstet und gebrandschatzt hatte. Doch das macht die Übergriffe vieler Sowjetsoldaten in Deutschland nicht besser.

Zwar gab es auch westliche Soldaten, die deutsche Zivilisten im Frühjahr 1945 brutal behandelten, vergewaltigten, beraubten. Zu Recht berüchtigt ist das Verhalten französischer Truppen in Freudenstadt Mitte April 1945: Dort wurden Dutzende deutscher Zivilisten getötet und mindestens 600 Frauen missbraucht. Trotz dieses und ähnlicher Beispiele handelte es sich jedoch eher um Ausnahmen – bei den Sowjets dagegen um die Regel.

Ebenfalls korrekt beschrieben werden im zweiten Teil von „Tannbach“, der am Montagabend ausgestrahlt worden ist, die Umstände der aufgezwungenen „Bodenreform“. Zu den stärksten Szenen gehört der Abriss von Gutsgebäuden, um Baumaterial für primitive „Neubauernhöfe“ zu gewinnen. Zahlreiche Herrenhäuser in Brandenburg gingen bei ähnlichen Aktionen zugrunde.

Zutreffend ist auch, wie sich große Teile der deutschen Bevölkerung, kaum waren die alliierten Truppen vor Ort, vom Nationalsozialismus distanzierten. In jedem eroberten Dorf, jeder eingenommen Stadt hatte es kaum Nazis gegeben. Jedenfalls nicht, wenn man die Menschen selbst befragte.

Nach eigenen Angaben gegenüber den amerikanischen oder sowjetischen Soldaten waren die meisten Deutschen eigentlich im Widerstand gewesen, keinesfalls aber für Hitler; mindestens sahen sie sich als schuldlose Opfer des Krieges. Kaum jemand bekannte sich, in den vergangenen zwölf Jahren an die NS-Ideologie geglaubt, sie gar umgesetzt zu haben.

Gebietstausch für eine Bahnlinie

Weil die Demarkationslinie zwischen den Zonen entlang historischer Grenzen verlaufen sollte, ergaben sich Schwierigkeiten. Im ZDF-Spielfilm verhandeln amerikanische und sowjetische Offiziere über einen Gebietsaustausch. Für Mödlareuth sind solche Gespräche nicht belegt, wohl aber für andere Orte. Gelegentlich kam es zu Grenzbegradigungen.

Die größte fand zwischen Hessen und Thüringen statt, denn hier verlief die Bahnlinie zwischen Bebra und Göttingen auf einer Länge von etwa fünf Kilometern über thüringisches Gebiet. Seit die Strecke im August 1945 wieder befahrbar war, hatten sowjetische Soldaten die Gleise mehrfach tageweise blockiert. Außerdem wurden Reisende hier oft beraubt – ob von Banden versprengter früherer Zwangsarbeiter und Deserteure oder durch Rotarmisten, ist umstritten.

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Der zuständige US-Kommandeur stimmte deshalb Mitte September 1945 einem Gebietsaustausch zu. Die Sowjetunion erhielt 761 Hektar Land und 429 Einwohner, die US-Zone bekam im Gegenzug 560 Menschen und 845 Hektar allerdings weniger wertvollen Grund. Zwar sollten die Einwohner mitwechseln, doch mehrere Dutzend „ausgetauschte“ Menschen entschieden sich, ihr Eigentum zurückzulassen und lieber in der US-Zone einen neuen Start zu wagen.

Der dritte Teil von „Tannbach“ schließlich, der am Mittwoch zu sehen ist, schildert wieder stärker Ereignisse, die tatsächlich in Mödlareuth selbst stattgefunden haben. So stark wie sonst wohl nur noch in der früheren Reichshauptstadt wirkte sich nämlich hier die Teilung in zuerst zwei politische Systeme (westliche Demokratie gegen kommunistische Diktatur), dann zwei Wirtschaftssysteme (Marktwirtschaft gegen Sozialismus), schließlich in zwei Staaten (Bundesrepublik gegen DDR) aus.

Sehr eng an den historischen Abläufen wiederum orientiert sich das Finale des Dreiteilers: der Bau des ersten Zauns quer durch einen deutschen Ort. Hier konnte man in Mödlareuth schon erleben, was Berlin erst noch bevorstand.

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