Interpretation �ber Verg�nglichkeit von Hugo von Hofmannsthal

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Hofmannsthal: �ber Verg�nglichkeit

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Interpretation: �ber Verg�nglichkeit

Dieses Gedicht ist das erste aus einer Reihe von vier, die mit �Terzinen� �berschrieben ist. Terzinenstrophen sind dreizeilig und haben das Reimschema aba bcb cdc usw. Der mittlere Vers einer Strophe reimt stets mit den beiden Rahmenversen der folgenden. Am Schluss steht ein Einzelvers, der sich auf den Mittelvers der letzten Strophe reimt. Terzinen werden traditionell in Jamben mit f�nf Hebungen pro Vers geschrieben.

Schaue ich mir die Terzinenform des Gedichts an, so scheint Hugo von Hofmannsthal irgendetwas missverstanden zu haben. Zwar nutzt er den f�nfhebigen Jambus mit einigen Akzentverschiebungen zu Beginn (Vers 3 und 10). Das ist ein legitimes Verfahren. Aber das Reimschema stimmt vorne und hinten nicht: Erst reimen sich die Mittelverse � aba cbc � , dann wiederum der Rahmenvers mit dem mittleren der Folgestrophe � cbc dcd ede � und am Schluss gibt es untypisch f�r eine Terzine einen Paarreim.

Der Witz ist: Hofmannsthal hat das Terzinen-Reimschema r�ckwarts angewandt. Der Mittelvers aus der letzten Strophe reimt auf die Rahmenverse der vorletzten usw. � ede dcd cbc � und schlie�lich reimen die beiden Mittelverse von zweiter und erster Strophe. Das ist sehr verwirrend und sollte eine inhaltliche Entsprechung haben. Und tats�chlich, die gibt es. Doch der Reihe nach:

Zusammen mit dem Titel l�sst der erste Vers nichts Gutes ahnen. Dennoch stellt der Dichter die N�he zweier Menschen durch den �Atem auf den Wangen� sehr sinnlich dar. Die �nahen Tage� in Vers zwei sind daher auch doppeldeutig, es k�nnen Tage der N�he sein, aber auch erst k�rzlich vergangene Tage. Die in Vers zwei und drei formulierte Frage l�sst vermuten, dass �sie� sich im doppelten Sinne �entfernt� hat oder sogar verstorben ist. Tats�chlich hat das Gedicht einen biographischen Hintergrund. Es wurde im Juli 1894 geschrieben, einige Tage nachdem der Dichter vom Tod einer Freundin erfuhr (Burkhard Meyer-Sickendiek, Lyrisches Gesp�r. Vom geheimen Sensorium moderner Poesie, Wilhelm Fink Verlag, M�nchen 2012, S. 249).

Das Gedicht jedoch leitet bereits in Vers zwei und drei die Entfernung vom konkreten Fall mit einer rhetorischen Frage zur Verg�nglichkeit ein. Bemerkenswert ist dabei, welches Gro�aufgebot an Mitteln Hugo von Hofmannsthal einsetzt, um die Eindringlichkeit der Frage in Vers drei zu steigern:

Da ist die offenkundige Wiederholung von �fort�, wobei das Wort in beiden F�llen betont wird. Hofmannsthal nutzt daf�r eine Akzentverschiebung, bei der die erste Hebung nach vorne gezogen wird. Das jambische Senkungs-Hebungsmuster xXxX wurde zu XxxX, erst dann geht es jambisch weiter. Zudem steht zum ersten Mal ein �o� in der Hebung. Davor wurden nur �i/�� und �a(i)�-Hebungen genutzt. Somit hebt sich der dritte Vers auch klanglich von den beiden Vorversen ab.

Das sehr bewusste Verteilen der Vokale in den Hebungssilben ist auch im weiteren Verlauf des Gedichts zu verfolgen. So �bernimmt Hofmannsthal das doppelte �o� in den Versen vier und f�nf durch �voll�, obwohl er genausogut �ganz aussinnt� h�tte schreiben k�nnen.

Mit Vers vier kommt das Gedicht endg�ltig bei abstrakten Gedankeng�ngen an. Das �Ding� ist im Sinne eines nur geistigen Ph�nomens als Problem zu verstehen. Damit vollzieht der Dichter die Verg�nglichkeit, die er im Gedicht thematisiert: Das Sinnliche � die N�he � aus Vers eins und zwei ist bereits in der zweiten Strophen Vergangenheit, in die Ferne ger�ckt, nur noch im Kopf gegenw�rtig.

Interessant ist, wie der Inhalt des vierten Verses sich im Metrum widerspiegelt. Zu Beginn k�nnte man sowohl �Dies� als auch �ist� betonen. Es handelt sich um eine schwebende Betonung, also etwas, das man nicht wirklich �aussinnen� kann. Zudem muss �aussinnt� auf der zweiten Silbe betont werden, obwohl es im allgemeinen Sprachgebrauch auf der ersten Silbe betont w�rde, eine Tonbeugung also, die die Unsicherheit vom Anfang des Verses aufnimmt.

Der f�nfte Vers ist ein struktureller Einschnitt im Gedicht. Alles, was danach kommt, bezieht sich auf das Grauenvolle und Nichtaussinnbare. Dies wird auch deutlich gemacht durch den Strophensprung von der zweiten zur dritten Strophe und die weiteren Enjambements innerhalb der Strophen.

Warum ist die Verg�nglichkeit �viel zu grauenvoll, als dass man klage�? Damit wird die v�llige �berw�ltigung des Gedankens an die Verg�nglichkeit angezeigt. Man muss den Gedanken aus Vers sechs nur weiterspinnen. Alles Leben auf diesem Planeten, alles, was der Mensch gebaut und ver�ndert hat, wird irgendwann verschwunden sein und niemand und nichts wird sich erinnern, was einmal war. Jede Leistung, jeder Erfolg im Leben wird von der totalen Vergeblichkeit, Spuren zu hinterlassen, �berw�ltigt.

Burkhard Meyer-Sickendiek weist darauf hin, dass Hugo von Hofmannsthal ab der dritten Strophe noch in eine andere Richtung zielt, die �grauenvoll� und nicht auszusinnen ist: �Die Entfremdung� (Burkhard Meyer-Sickendiek, Lyrisches Gesp�r, S. 250). Dabei wird die Verg�nglichkeit nicht von der Gegenwart in die Zukunft gedacht, sondern das gegenw�rtige Ich als Resultat der Verg�nglichkeit des Kindesstadiums (Vers acht und neun) und der Ahnen von vor hundert Jahren (Vers zehn und elf).

Wichtig scheint mir der Einschub in Vers sieben �durch nichts gehemmt�. Das Ich hat keinerlei Kontrolle dar�ber, wie es sich von einem Kind aus entwickelt hat, das ihm nun �wie ein Hund� v�llig fremd ist.

Gesteigert wird dieses Fremdheitsgef�hl gegen�ber dem eigenen Ich durch eine generationen�bergreifende Sicht: �dass ich auch vor hundert Jahren war�. Diese Vorstellung, dass das Ich schon vor 100 Jahren existierte, ist der H�hepunkt der entfremdeten, r�ckw�rtsgewandten Sichtweise, die ich als Entsprechung f�r das oben festgestellte, umgekehrte Reimschemas der Terzinen werte.

Auch lautlich setzt sich der zweite Teil des Gedichts �ber die Entfremdung vom ersten �ber die Sterblichkeit ab. Zum ersten Mal wird der Vokal �e� in Hebungen verwendet und das gleich an prominenter Stelle im Reim (�gehemmt�, �fremd�, �Totenhemd�). Und das �u� tritt in Vers neun stark geh�uft auf: �ein Hund unheimlich stumm und fremd�. Wobei hier nur �Hund� sowie �stumm� gehobene Silben sind. Allerdings wird das �un� in �unheimlich� nur geringf�gig weniger betont als die umgebenden Hebungen.

Mit den beiden Schlussversen kehrt Hofmannsthal wieder zum Lautschema der Anfangszeilen zur�ck. Die Vokale �i� und �a� werden ausschlie�lich genutzt. Lautlich schlie�t sich der Kreis und das Gedicht kehrt mit dem Vergleich �wie mein eignes Haar� von abstrakten Gedankeng�ngen wieder zu einem sinnlich fassbaren Bild zur�ck.

Auff�llig ist nat�rlich die Wiederholung des Haarvergleichs, der zudem die Formulierung �mein eignes Ich� am Beginn der Ich-Betrachtung in Vers 7 wieder aufnimmt. In dieser H�ufung � zwischendurch hei�t es noch �meine Ahnen� � klingt das besitzanzeigende F�rwort (Possessivpronomen) f�r jemanden, dem das eigene Ich offenkundig fremd geworden ist, etwas verzweifelt.

Die Frage ist: Warum wird ausgerechnet das Haar als Vergleichsma�stab f�r den Verwandtschaftsgrad mit den Ahnen herangezogen? Der Ausdruck �verwandt mit dem eigenen Haar� l�sst sich leicht ins L�cherliche ziehen, wie ja auch das �als wie� im Schlussvers heutzutage nicht als hochsprachlich gilt. Ob es in �sterreich Ende des 19. Jahrhunderts anders war, vermag ich nicht zu sagen. Betrachte ich jedoch den Haar-Vergleich ernsthaft, so ist er ein Ausdruck von N�he und Ferne zugleich.

Was immer ein Ich eigentlich ausmacht, es sitzt im Kopf. Die Haare sind nah dran, aber gleichzeitig au�erhalb. So wie das Ich sich stetig wandelt, aber jemand selbst davon nur wenig sp�rt, bis er sein aktuelles Ich mit einem lange zur�ckliegenden Ich-Zustand vergleicht, wachsen und �ndern sich Haare ebenfalls von Tag zu Tag unbemerkt, bis die Gesamtver�nderung nicht mehr zu �bersehen ist.

Haare sind geradezu der Prototyp der Verg�nglichkeit, sie wachsen und wachsen, werden geschnitten und wachsen wieder nach, so wie Generationen von Menschen nachwachsen und vom Tod �geschnitten� werden. Und doch: Sind die Haare geschnitten oder fallen aus, dann geh�ren sie nicht mehr zum Menschen dazu. Sie sind M�ll, der weggekehrt wird.

Der Schlussvergleich �so eins mit mir als wie mein eignes Haar� ist folglich zwiesp�ltig, denn das Einssein mit den Ahnen ist nur tempor�r, es ist verg�nglich.

Ein weiterer Aspekt des Haar-Vergleichs ist der Glaube, dass Haare nach dem Tod weiter wachsen, der inzwischen ins Reich der Mythen verwiesen wurde, aber zu Zeiten von Hofmannsthal noch sehr aktuell war und sich auch heute noch h�lt. Hier schwingt also etwas von der Hoffnung vom Leben nach dem Tod mit und dass irgendetwas vom Ich �brig bleibt, so wie das Ich ja schon 100 Jahren zuvor in den Ahnen existent gewesen sein soll.

Letztlich enth�lt der Schlussvergleich bei aller Verzweiflung und Zwiesp�ltigkeit, bei aller Entfremdung und allem Denken an die Verg�nglichkeit, zumindest f�r Hugo von Hofmannsthals Zeitgenossen einen Funken Hoffnung.

Autor: Hans-Peter Kraus (Kontakt)
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