Erst in den Jahren 2018 und 2021 hat Frankreich offiziell anerkannt, dass die französische Armee während des Algerienkrieges für das Verschwinden zahlreicher Menschen verantwortlich war. Abseits der wenigen, tatsächlich gut dokumentierten Fälle, stellt sich die Frage, wie die vielen, auch zivilen Opfer gezählt und ihre Namen erfasst werden können und wie bedeutsam diese Rekonstruktionen für die algerische Bevölkerung sind. Die algerische Gesellschaft, die die Verbrechen keineswegs vergessen hat, ist jedoch weniger an Entschuldigungsgesten Frankreichs interessiert, als an konkreter Aufarbeitung und dem Wissen, was mit den verschwundenen Menschen passiert ist. Mehrere Projekte widmen sich heute noch der Befragung von Zeitzeug:innen und der Herstellung einer Kartografie der Repression.
Der Algerienkrieg
Bekannt ist der algerische Unabhängigkeitskrieg (1954-62) vor allem für die Schlacht um Algier, die als sein symbolträchtigstes Ereignis gilt und titelgebend war für den Film des italienischen Regisseurs Gillo Pontecorvo. In Algerien startete im November 1954, nach 124 Jahren der französischen Kolonisation, die Front de Libération Nationale (FLN) eine bewaffnete Revolution. Obwohl zu Beginn nur einen Handvoll Personen zur FLN gehörten, gelang es ihnen, den Repressionen standzuhalten und nach und nach die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen.
Administrativ wurde das algerische Territorium so wie der zum europäischen Kontinent gehörende Teil Frankreichs durch eine Aufteilung in Départements verwaltet. Im Département Algier wurden die Polizeikräfte ab dem 7. Januar 1957 Jacques Massu unterstellt, Kommandant der 10. Fallschirmjägerdivision. Die französische Regierung hoffte, auf diese Weise einem Ende Januar geplanten achttägigen Streik entgegenzuwirken, zu dem die FLN alle Algerier:innen aufgerufen hatte. Ein möglicher Erfolg des Streiks hätte den enormen Zuspruch der Bevölkerung zur FLN offenbart und das kurz bevor sich eine anberaumte UNO-Sitzung geplanter Maßen mit der algerischen Frage beschäftigen sollte. Ebenso erhoffte man sich von der Armee eine effiziente Aufstandsbekämpfung und die Vernichtung der FLN innerhalb der Bevölkerung Algiers. Grundlage für dieses Vorgehen waren theoretische Arbeiten französischer Militärs, die – bekannt unter dem Konzept Französische Doktrin – brutale Methoden entwickelten für den Kampf gegen eine ländliche oder urbane Guerilla.
Die Generalität der französischen Streitkräfte in Algerien empfahl, in ländlichen Gebieten „zufällig ausgewählte oder verdächtig erscheinende Personen für ein Verhör“ zu entführen. Diese Vorgehensweise fand auch ihre Anwendung in der Schlacht um Algier, in einem Ballungsraum, in dem 800.000 Menschen lebten. In etwa zu gleichen Teilen bestand Algier aus kolonisierter Bevölkerung, damals als Muslime bezeichnet, und Kolonialbevölkerung, die man Europäer nannte. Diese Bezeichnungen entsprachen dabei nicht unserem heutigen Verständnis der Begriffe, da sich in ihnen die rassistische Akzeptanz und Spezifität der französischen Kolonisation Algeriens widerspiegelten. Als Muslime galt die sogenannte „indigene“, d. h. arabische oder berberische Bevölkerung der Kolonie und als europäisch bezeichnete man alle Einwohner:innen mit europäischen Wurzeln.
Die Militärs unterlagen ab Januar 1957 keinen rechtlichen Beschränkungen mehr: Durchsuchungen, Verhaftungen, Gewahrsam und Verhöre fanden ohne juristische Aufsicht oder Kontrolle statt. Die Zahl der Verhaftungen explodierte und erreichte binnen sechs Monaten mehrere Zehntausend. Die Inhaftierten wurden gefoltert und ihre – wahren oder falschen – Aussagen zogen neue Verhaftungen nach sich. Das Militär überzog Algier mit einem kollektiven Terror unvorstellbaren Ausmaßes. Die Leichen derjenigen, die unter der Folter starben oder hingerichtet wurden, wurden beseitigt.
Unter den Fallschirmjägern befand sich auch Jean-Marie Le Pen, Gründer des rechtsextremen Front National, der mittlerweile Rassemblement National heißt. Le Pens Rolle in der Schlacht um Algier und seine Beteiligung an Folterungen werden noch heute, obwohl sie gut belegt sind, von Historikern kleingeredet und auf den Webseiten der extremen Rechten geleugnet.
Die Suche nach den gewaltsam Verschwundenen
Bisher beruhte das Wissen über das Verschwindenlassen von Menschen während des Algerienkriegs auf wenigen und eher außergewöhnlichen Einzelfällen. Anstoß erregte im Kriegsverlauf vielemehr der Einsatz von Folter durch die französische Armee, zumal dies noch nicht verblassene Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg wachrief. Doch das Verschwinden des Anwalts Ali Boumendjel im März und des Mathematikers Maurice Audin im Juli 1957 offenbarten nun der französischen Öffentlichkeit in Europa, dass vom Militär entführte Menschen durch Folter oder außergerichtliche Hinrichtung umgebracht wurden und ihre Leichname nicht aufzuspüren waren.
Die Zahl der Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens während der Schlacht um Algier zu ermitteln, gleicht einem unmöglichen Unterfangen. Die Militärführung war nicht verpflichtet, gegenüber der Zivilbehörde Rechenschaft abzulegen und sogar die zivile Präfektur beteiligte sich an der Vertuschung. So verweigerte die Präfektur bspw. im Mai 1957 die Herausgabe von Dokumenten, die eine extra eingerichtete Kommission zur Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen im Algerienkrieg angefordert hatte. Als drei Anwälte im August 1959 in Algier die Zeugenaussagen von Angehörigen der Verschwundenen dokumentierten, wurden sie umgehend von der Polizei daran gehindert. Auch die nur sehr wenigen Anzeigen, die während des Krieges von der Bevölkerung gestellt wurden, wurden mit der Amnestie im Rahmen des Waffenstillstands 1962 obsolet.
Von den in der Schlacht um Algier verschwundenen Menschen ist Maurice Audin der am besten dokumentierte und bekannteste Fall. Dies ist der politischen und juristischen Beharrlichkeit seiner Frau zu verdanken, dem Engagement eines Unterstützungskomitees sowie der Ausdauer des Historikers Pierre Vidal-Naquet, der noch während des Krieges mit seinen Nachforschungen begann. Audins Fall ist außergewöhnlich, denn die französischen Militärs haben zwar auch Dutzende „Europäer“ – Kommunisten oder liberale Christen – verhaftet und gefoltert, denen sie Komplizenschaft mit der FLN vorwarfen, doch Audin ist der Einzige, dessen Leiche sie verschwinden ließen. Das Verschwinden der muslimischen Leichname war hingegen gängige Praxis. Die Angehörigen der „Muslime“ verfügten nicht über die Mittel, die Justiz einzuschalten oder die französische Öffentlichkeit zu informieren.
Nach eingehender Beratung durch Historiker:innen räumte Emmanuel Macron 2018 in einer Erklärung die Verantwortung der französischen Armee für das Verschwinden von Maurice Audin offiziell ein. Allerdings barg das Kommuniqué die Schwierigkeit, dass mit Audin der einzige „Europäer“ ausgewählt wurde, um alle algerischen Opfer der Repression zu repräsentieren. 2021 erkannte Marcon in einem weiteren, jedoch deutlich allgemeiner verfassten Text an, dass es sich auch beim Tod des Anwalts Ali Boumendjel um eine Ermordung gehandelt hatte.
Doch wie lassen sich die zahlreichen weiteren Opfer ausfindig machen? 2018 wurde von Fabrice Riceputi in Archiven eine Akte gefunden, in der die Anfragen algerischer Familien an die Präfektur Algier dokumentiert sind, nachdem deren Familienangehörige vom französischen Militär verschleppt wurden. Anhand der in der Akte verzeichneten Namen wurde ein Zeugenaufruf gestartet und die betreffenden Familien konnten so über das Schicksal ihrer Angehörigen Gewissheit erlangen. Sie konnten Fotos und Dokumente teilen, aber auch weitere Vermisste melden.
Hierfür wurde von Fabrice Riceputi das Gemeinschaftsprojekt Mille autres. Des Maurices Audin par milliers ins Leben gerufen. Auf dieser, aus dem ersten Zeugenaufruf entstandenen Website werden fortlaufend die Fälle aus der Akte und die von den Familien ergänzten Informationen dokumentiert. Die Vermissten sind mit Namen, gegebenenfalls Foto und vorhandenen Infos gelistet, in der Hoffnung, dass sie von Angehörigen, Bekannten oder Nachbar:innen noch identifiziert werden. Zahlreiche Gespräche mit Zeug:innen konnten seither geführt werden. So wie in der Aufarbeitung der sehr bekannten Fälle des gewaltsamen Verschwindenlassens während der südamerikanischen Diktaturen, konzentriert sich das Vorgehen auch hier auf die Familien und nicht das Militär als Hauptquelle für die Identifizierung der Verhafteten und Verschwundenen. Über Jahre haben Historiker:innen nach Dokumenten gesucht, in denen die Militärs selbst über ihre Verbrechen Zeugnis ablegen. Dabei wurde häufig übersehen, dass zunächst einmal die Familien selbst die ersten, verlässlichen Quellen für die historischen Dokumente sind, deren Spuren sich dann zum Teil in den behördlichen Akten nachvollziehen lassen.
Geografie der Repression
Als eines der erstaunlichsten Ergebnisse entstanden aus dem Kontakt mit den Familien der Opfer sehr genaue Beschreibungen von Orten und damit eine Geografie der Repression. Im Rahmen der Dokumentationsarbeit und im Laufe der Gespräche entdeckten wir die zahlreichen Gelände und Häuser, die bei der Bevölkerung Algiers als ehemalige Folterkeller und Haftzentren bekannt sind. Auf Grundlage der gesammelten Daten haben wir eine Karte der Folterorte erstellt, die wir im Rahmen unserer Forschung fortlaufend ergänzen.
Die Lokalisierung der Orte in Algier und dessen Umland ist 60 Jahre nach den tatsächlichen Ereignissen kompliziert und aufwendig. Einige Orte sind bekannt und gut erhalten, wie ehemalige Kasernen der französischen Armee, andere wurden seit 1962 neu genutzt oder bewohnt. Wieder andere wurden zerstört, wie bspw. das Restaurant La grand Terrasse, das die Fallschirmjäger beschlagnahmt und in dem sie einen Folterkeller eingerichtet hatten. Dank des Zeitzeugen und Historikers Mohamed Rebah konnte die Lokalisierung dieses Folterkellers durch die Befragung weiterer Zeugen bestätigt werden. Wir haben die Villa Mirelle ausfindig gemacht. Dort wurden vor allem „europäische“ Gefangene, die man für ihre Unterstützung der algerischen Unabhängigkeit gefoltert hatte, kurzzeitig wieder in einen Zustand gebracht, in dem man sie einem Richter vorführen konnte. Es ist uns auch gelungen, endlich die Villa des Roses zu lokalisieren, in der Le Pen laut zahlreicher Zeugenaussagen gefoltert hat. In den Berichten von Opfern sowie den Memoiren ehemaliger Militärs finden sich Beschreibungen von Kolonialfarmen im Umland Algiers, die während des Krieges beschlagnahmt oder von ihren Besitzer:innen freiwillig dem Militär zur Verfügung gestellt wurden.
Im November 2022 sind wir dank unseres Kollegen und Archivars Mohamed Bounaama auf einen möglichen Standort der Ferme Perrin aufmerksam geworden. Der Zeugenbericht des dort inhaftierten Nadji Abbas Turqui beschreibt die Farm als ein koloniales Weingut, auf dem die Gefangenen in ca. 3 m² große Weintanks gesperrt wurden, deren Zugang nur durch ein schmales Loch an der Decke möglich war. Turquis bezeugt, dass auch der Anwalt Ali Boumendjel hier inhaftiert war. Bei unserem spontanen Besuch im Winter 2022 weiß der heutige Besitzer sofort, worum es uns geht, und zeigt uns mehrere dieser vollständig gekachelten Tanks, die von den späteren Eigentümer:innen über Durchbrüche verbunden und heute, mit Fenstern und Türen versehen, als eine Art modularer Wohnraum dienen. Für uns ist es ein Schock, diesen Ort zu besichtigen. Wir haben Berichte über die Weintanks und den Erstickungstod einiger Menschen darin gelesen, doch es ist etwas ganz anderes, sich so unvermittelt auf dem Grund eines solchen Tanks wiederzufinden.
In einer Art Archäologie des Terrors müssen wir immer wieder das, was wir sehen, mit unseren historischen Quellen zusammenbringen. Indem wir mit dem Abstand der vielen Jahre die Orte aufsuchen, können wir die Beschreibungen von Nadji Abbas Turqui besser verstehen. „In jedem Weintank befanden sich 6 oder 7 Personen. Die extreme Enge erlaubte es den Gefangenen nicht, sich hinzulegen und so mussten sie die ganze Zeit hocken. Fast 25 Tage verharrte ich in dieser Position und verließ sie nur, wenn man mich zu den Verhören brachte.“
Als wir auf der Straße mit den Nachbar:innen ins Gespräch kamen, schienen alle im Viertel die Geschichte der Ferme Perrin zu kennen. Während des Krieges waren die Schreie der Menschen aus dem Keller des Herrenhauses zu hören. Auch dorthin führte uns der Besitzer und zeigte uns am Boden des geräumigen Kellers mehrere Abdrücke. Er selbst ist nach der Unabhängigkeit geboren, doch er kann sich daran erinnern, dass hier vier 1,5 m tiefe Löcher im Boden waren, bevor sein Vater sie versiegelte. Die Gefangenen hätten in den Löchern hocken oder stehen müssen und um ihre Qual zu erhöhen, wurden die Löcher mit Wasser gefüllt. Woher diese Information kommt, lässt sich für uns nicht genau nachvollziehen. Nadji Abbas Turqui spricht in seinem Zeugenbericht nicht von diesen Löchern, doch er berichtet, dass die Gefangenen der Ferme Perrin regelmäßig mit Elektrizität und Wasser gefoltert wurden. Ihnen wurden Verletzungen mit einem Hobel zugefügt, die man mit Salz bestreute, oder sie wurden hinter die Farm geführt, wo ihnen die Kehle durchgeschnitten wurde und man sie die Böschung hinunterwarf. Dies passierte in Sichtweite der anderen Gefangenen, weil man hoffte, sie auf diese Weise zum Reden zu bringen. Aus den Haft- und Folterzentren in der Innenstadt mussten die Militärs die Leichen weiter weg bringen, um sie unauffällig verschwinden zu lassen, aber hier draußen konnten sie das in aller Ruhe diskret tun, in den ehemaligen Weinbergen und auf den umliegenden Feldern, die allerdings heute vollständig bebaut sind.
Im Rahmen unserer Arbeit über das gewaltsame Verschwindenlassen ist uns klar geworden, dass den Familien eine Sache am allerwichtigsten ist: Im Gegensatz zu dem, was sich die französische Presse und Teile des – vor allem rechten – politischen Feldes herbeifantasieren, geht es den Familien nicht darum, Entschuldigungen oder Reuebekenntnisse seitens Frankreichs zu erhalten. Von allen Angehörigen der Verschwundenen, die wir im Rahmen unserer Nachforschungen getroffen haben, schert sich keine:r um das Seelenheil des Staates Frankreichs, der seine Verbrechen anerkennen sollte, um sie zu sühnen. Hier dreht sich Frankreich nur um sich selbst. Die interviewten Angehörigen wollen auch keine Entschädigung oder Reparation. In zwei Dingen sind sich jedoch alle einig: Sie wollen die Wahrheit darüber erfahren, was mit den Entführten passiert ist, und sie wollen wissen, wo sich deren sterblich Überreste befinden.
Die unverhoffte Besichtigung der Ferme Perrin und unsere Forschungen in Algier haben bestätigt, dass unter den Algerier:innen die Erinnerung an das schrecklich Jahr 1957 noch sehr lebendig ist. Es gibt immer noch Augenzeug:innen und es gibt viele überlieferte Erzählungen. Obwohl das Ereignis der Schlacht um Algier im Laufe der Jahre spürbar in den Hintergrund gerückt ist, sind die Berichte und zahlreichen Zeug:innen, die von der Geschichtsschreibung viel zu lange ignoriert wurden, nicht verstummt. Sie liefern uns wertvolle Informationen, die in den Kolonialarchiven per Definition nicht vorkommen und stattdessen im kollektiven Gedächtnis weitergegeben werden. Sie müssen gesammelt werden, bevor sie vergessen oder verzerrt werden und verschwinden. In einigen Jahren wird es nicht mehr so wie heute noch möglich sein, Berichte direkter Augenzeug:innen von den Mutmaßungen der neuen Bewohner:innen der Orte unterscheiden zu können.
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