Der algerische Unabhängigkeitskrieg (1954-62) bleibt unvergessen. Während allerdings die französische Politik und Öffentlichkeit noch Jahrzehnte später über Entschuldigungen und Reparationen diskutieren, verlangen die Menschen in Algerien vor allem Aufklärung über die Kriegsverbrechen des französischen Militärs. Die historische Forschung dazu hat jetzt eingesetzt.

  • Malika Rahal

    Malika Rahal ist Historikerin und spezialisiert auf zeitgenössische Geschichte des Maghrebs. Sie ist Direktorin des Institut d’histoire du temps présent in Paris. Zu ihren Veröffentlichungen gehören u. a. „Ali Boumendjel. Une affaire française, une histoire algérienne“ (2010) sowie „Algérie 1962. Une histoire populaire“ (2022). Sie betreibt den englisch/französisch/arabischen Blog https://texturesdutemps.hypotheses.org/.
  • Fabrice Riceputi

    Fabrice Riceputi ist Historiker und assoziierter Forscher am Institut d'histoire du temps présent sowie Co-Moderator der Website histoirecoloniale.net. Sein letztes Buch « Le Pen et la torture. Alger 1957, l'histoire contre l'oubli » erschien 2024 bei le passager clandestin, Paris, und Barzakh, Algier.

Erst in den Jahren 2018 und 2021 hat Frank­reich offi­ziell aner­kannt, dass die fran­zö­si­sche Armee während des Alge­ri­en­krieges für das Verschwinden zahl­rei­cher Menschen verant­wort­lich war. Abseits der wenigen, tatsäch­lich gut doku­men­tierten Fälle, stellt sich die Frage, wie die vielen, auch zivilen Opfer gezählt und ihre Namen erfasst werden können und wie bedeutsam diese Rekon­struk­tionen für die alge­ri­sche Bevöl­ke­rung sind. Die alge­ri­sche Gesell­schaft, die die Verbre­chen keines­wegs vergessen hat, ist jedoch weniger an Entschul­di­gungs­gesten Frank­reichs inter­es­siert, als an konkreter Aufar­bei­tung und dem Wissen, was mit den verschwun­denen Menschen passiert ist. Mehrere Projekte widmen sich heute noch der Befra­gung von Zeitzeug:innen und der Herstel­lung einer Karto­grafie der Repression.

Der Alge­ri­en­krieg

Bekannt ist der alge­ri­sche Unab­hän­gig­keits­krieg (1954-62) vor allem für die Schlacht um Algier, die als sein symbol­träch­tigstes Ereignis gilt und titel­ge­bend war für den Film des italie­ni­schen Regis­seurs Gillo Ponte­corvo. In Alge­rien star­tete im November 1954, nach 124 Jahren der fran­zö­si­schen Kolo­ni­sa­tion, die Front de Libé­ra­tion Natio­nale (FLN) eine bewaff­nete Revo­lu­tion. Obwohl zu Beginn nur einen Hand­voll Personen zur FLN gehörten, gelang es ihnen, den Repres­sionen stand­zu­halten und nach und nach die Unter­stüt­zung der Bevöl­ke­rung zu gewinnen.

Admi­nis­trativ wurde das alge­ri­sche Terri­to­rium so wie der zum euro­päi­schen Konti­nent gehö­rende Teil Frank­reichs durch eine Auftei­lung in Dépar­te­ments verwaltet. Im Dépar­te­ment Algier wurden die Poli­zei­kräfte ab dem 7. Januar 1957 Jacques Massu unter­stellt, Komman­dant der 10. Fall­schirm­jä­ger­di­vi­sion. Die fran­zö­si­sche Regie­rung hoffte, auf diese Weise einem Ende Januar geplanten acht­tä­gigen Streik entge­gen­zu­wirken, zu dem die FLN alle Algerier:innen aufge­rufen hatte. Ein mögli­cher Erfolg des Streiks hätte den enormen Zuspruch der Bevöl­ke­rung zur FLN offen­bart und das kurz bevor sich eine anbe­raumte UNO-Sitzung geplanter Maßen mit der alge­ri­schen Frage beschäf­tigen sollte. Ebenso erhoffte man sich von der Armee eine effi­zi­ente Aufstands­be­kämp­fung und die Vernich­tung der FLN inner­halb der Bevöl­ke­rung Algiers. Grund­lage für dieses Vorgehen waren theo­re­ti­sche Arbeiten fran­zö­si­scher Mili­tärs, die – bekannt unter dem Konzept Fran­zö­si­sche Doktrin – brutale Methoden entwi­ckelten für den Kampf gegen eine länd­liche oder urbane Guerilla.

Die Gene­ra­lität der fran­zö­si­schen Streit­kräfte in Alge­rien empfahl, in länd­li­chen Gebieten „zufällig ausge­wählte oder verdächtig erschei­nende Personen für ein Verhör“ zu entführen. Diese Vorge­hens­weise fand auch ihre Anwen­dung in der Schlacht um Algier, in einem Ballungs­raum, in dem 800.000 Menschen lebten. In etwa zu glei­chen Teilen bestand Algier aus kolo­ni­sierter Bevöl­ke­rung, damals als Muslime bezeichnet, und Kolo­ni­al­be­völ­ke­rung, die man Euro­päer nannte. Diese Bezeich­nungen entspra­chen dabei nicht unserem heutigen Verständnis der Begriffe, da sich in ihnen die rassis­ti­sche Akzep­tanz und Spezi­fität der fran­zö­si­schen Kolo­ni­sa­tion Alge­riens wider­spie­gelten. Als Muslime galt die soge­nannte „indi­gene“, d. h. arabi­sche oder berbe­ri­sche Bevöl­ke­rung der Kolonie und als euro­pä­isch bezeich­nete man alle Einwohner:innen mit euro­päi­schen Wurzeln.

Die Mili­tärs unter­lagen ab Januar 1957 keinen recht­li­chen Beschrän­kungen mehr: Durch­su­chungen, Verhaf­tungen, Gewahrsam und Verhöre fanden ohne juris­ti­sche Aufsicht oder Kontrolle statt. Die Zahl der Verhaf­tungen explo­dierte und erreichte binnen sechs Monaten mehrere Zehn­tau­send. Die Inhaf­tierten wurden gefol­tert und ihre – wahren oder falschen – Aussagen zogen neue Verhaf­tungen nach sich. Das Militär überzog Algier mit einem kollek­tiven Terror unvor­stell­baren Ausmaßes. Die Leichen derje­nigen, die unter der Folter starben oder hinge­richtet wurden, wurden beseitigt.

Unter den Fall­schirm­jä­gern befand sich auch Jean-Marie Le Pen, Gründer des rechts­extremen Front National, der mitt­ler­weile Rassem­blement National heißt. Le Pens Rolle in der Schlacht um Algier und seine Betei­li­gung an Folte­rungen werden noch heute, obwohl sie gut belegt sind, von Histo­ri­kern klein­ge­redet und auf den Webseiten der extremen Rechten geleugnet.

Die Suche nach den gewaltsam Verschwundenen

Bisher beruhte das Wissen über das Verschwin­den­lassen von Menschen während des Alge­ri­en­kriegs auf wenigen und eher außer­ge­wöhn­li­chen Einzel­fällen. Anstoß erregte im Kriegs­ver­lauf vielemehr der Einsatz von Folter durch die fran­zö­si­sche Armee, zumal dies noch nicht verblas­sene Erin­ne­rungen an den Zweiten Welt­krieg wach­rief. Doch das Verschwinden des Anwalts Ali Boumendjel im März und des Mathe­ma­ti­kers Maurice Audin im Juli 1957 offen­barten nun der fran­zö­si­schen Öffent­lich­keit in Europa, dass vom Militär entführte Menschen durch Folter oder außer­ge­richt­liche Hinrich­tung umge­bracht wurden und ihre Leich­name nicht aufzu­spüren waren.

Die Zahl der Fälle gewalt­samen Verschwin­den­las­sens während der Schlacht um Algier zu ermit­teln, gleicht einem unmög­li­chen Unter­fangen. Die Mili­tär­füh­rung war nicht verpflichtet, gegen­über der Zivil­be­hörde Rechen­schaft abzu­legen und sogar die zivile Präfektur betei­ligte sich an der Vertu­schung. So verwei­gerte die Präfektur bspw. im Mai 1957 die Heraus­gabe von Doku­menten, die eine extra einge­rich­tete Kommis­sion zur Unter­su­chung der Menschen­rechts­ver­let­zungen im Alge­ri­en­krieg ange­for­dert hatte. Als drei Anwälte im August 1959 in Algier die Zeugen­aus­sagen von Ange­hö­rigen der Verschwun­denen doku­men­tierten, wurden sie umge­hend von der Polizei daran gehin­dert. Auch die nur sehr wenigen Anzeigen, die während des Krieges von der Bevöl­ke­rung gestellt wurden, wurden mit der Amnestie im Rahmen des Waffen­still­stands 1962 obsolet.

Von den in der Schlacht um Algier verschwun­denen Menschen ist Maurice Audin der am besten doku­men­tierte und bekann­teste Fall. Dies ist der poli­ti­schen und juris­ti­schen Beharr­lich­keit seiner Frau zu verdanken, dem Enga­ge­ment eines Unter­stüt­zungs­ko­mi­tees sowie der Ausdauer des Histo­ri­kers Pierre Vidal-Naquet, der noch während des Krieges mit seinen Nach­for­schungen begann. Audins Fall ist außer­ge­wöhn­lich, denn die fran­zö­si­schen Mili­tärs haben zwar auch Dutzende „Euro­päer“ – Kommu­nisten oder libe­rale Christen – verhaftet und gefol­tert, denen sie Kompli­zen­schaft mit der FLN vorwarfen, doch Audin ist der Einzige, dessen Leiche sie verschwinden ließen. Das Verschwinden der musli­mi­schen Leich­name war hingegen gängige Praxis. Die Ange­hö­rigen der „Muslime“ verfügten nicht über die Mittel, die Justiz einzu­schalten oder die fran­zö­si­sche Öffent­lich­keit zu informieren.

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Nach einge­hender Bera­tung durch Historiker:innen räumte Emma­nuel Macron 2018 in einer Erklä­rung die Verant­wor­tung der fran­zö­si­schen Armee für das Verschwinden von Maurice Audin offi­ziell ein. Aller­dings barg das Kommu­niqué die Schwie­rig­keit, dass mit Audin der einzige „Euro­päer“ ausge­wählt wurde, um alle alge­ri­schen Opfer der Repres­sion zu reprä­sen­tieren. 2021 erkannte Marcon in einem weiteren, jedoch deut­lich allge­meiner verfassten Text an, dass es sich auch beim Tod des Anwalts Ali Boumendjel um eine Ermor­dung gehan­delt hatte.

Doch wie lassen sich die zahl­rei­chen weiteren Opfer ausfindig machen? 2018 wurde von Fabrice Rice­puti in Archiven eine Akte gefunden, in der die Anfragen alge­ri­scher Fami­lien an die Präfektur Algier doku­men­tiert sind, nachdem deren Fami­li­en­an­ge­hö­rige vom fran­zö­si­schen Militär verschleppt wurden. Anhand der in der Akte verzeich­neten Namen wurde ein Zeugen­aufruf gestartet und die betref­fenden Fami­lien konnten so über das Schicksal ihrer Ange­hö­rigen Gewiss­heit erlangen. Sie konnten Fotos und Doku­mente teilen, aber auch weitere Vermisste melden.

Hierfür wurde von Fabrice Rice­puti das Gemein­schafts­pro­jekt Mille autres. Des Maurices Audin par milliers ins Leben gerufen. Auf dieser, aus dem ersten Zeugen­aufruf entstan­denen Website werden fort­lau­fend die Fälle aus der Akte und die von den Fami­lien ergänzten Infor­ma­tionen doku­men­tiert. Die Vermissten sind mit Namen, gege­be­nen­falls Foto und vorhan­denen Infos gelistet, in der Hoff­nung, dass sie von Ange­hö­rigen, Bekannten oder Nachbar:innen noch iden­ti­fi­ziert werden. Zahl­reiche Gespräche mit Zeug:innen konnten seither geführt werden. So wie in der Aufar­bei­tung der sehr bekannten Fälle des gewalt­samen Verschwin­den­las­sens während der südame­ri­ka­ni­schen Dikta­turen, konzen­triert sich das Vorgehen auch hier auf die Fami­lien und nicht das Militär als Haupt­quelle für die Iden­ti­fi­zie­rung der Verhaf­teten und Verschwun­denen. Über Jahre haben Historiker:innen nach Doku­menten gesucht, in denen die Mili­tärs selbst über ihre Verbre­chen Zeugnis ablegen. Dabei wurde häufig über­sehen, dass zunächst einmal die Fami­lien selbst die ersten, verläss­li­chen Quellen für die histo­ri­schen Doku­mente sind, deren Spuren sich dann zum Teil in den behörd­li­chen Akten nach­voll­ziehen lassen.

Geografie der Repression

Als eines der erstaun­lichsten Ergeb­nisse entstanden aus dem Kontakt mit den Fami­lien der Opfer sehr genaue Beschrei­bungen von Orten und damit eine Geografie der Repres­sion. Im Rahmen der Doku­men­ta­ti­ons­ar­beit und im Laufe der Gespräche entdeckten wir die zahl­rei­chen Gelände und Häuser, die bei der Bevöl­ke­rung Algiers als ehema­lige Folter­keller und Haft­zen­tren bekannt sind. Auf Grund­lage der gesam­melten Daten haben wir eine Karte der Folter­orte erstellt, die wir im Rahmen unserer Forschung fort­lau­fend ergänzen.

Die Loka­li­sie­rung der Orte in Algier und dessen Umland ist 60 Jahre nach den tatsäch­li­chen Ereig­nissen kompli­ziert und aufwendig. Einige Orte sind bekannt und gut erhalten, wie ehema­lige Kasernen der fran­zö­si­schen Armee, andere wurden seit 1962 neu genutzt oder bewohnt. Wieder andere wurden zerstört, wie bspw. das Restau­rant La grand Terrasse, das die Fall­schirm­jäger beschlag­nahmt und in dem sie einen Folter­keller einge­richtet hatten. Dank des Zeit­zeugen und Histo­ri­kers Mohamed Rebah konnte die Loka­li­sie­rung dieses Folter­kel­lers durch die Befra­gung weiterer Zeugen bestä­tigt werden. Wir haben die Villa Mirelle ausfindig gemacht. Dort wurden vor allem „euro­päi­sche“ Gefan­gene, die man für ihre Unter­stüt­zung der alge­ri­schen Unab­hän­gig­keit gefol­tert hatte, kurz­zeitig wieder in einen Zustand gebracht, in dem man sie einem Richter vorführen konnte. Es ist uns auch gelungen, endlich die Villa des Roses zu loka­li­sieren, in der Le Pen laut zahl­rei­cher Zeugen­aus­sagen gefol­tert hat. In den Berichten von Opfern sowie den Memoiren ehema­liger Mili­tärs finden sich Beschrei­bungen von Kolo­ni­al­farmen im Umland Algiers, die während des Krieges beschlag­nahmt oder von ihren Besitzer:innen frei­willig dem Militär zur Verfü­gung gestellt wurden.

Im November 2022 sind wir dank unseres Kollegen und Archi­vars Mohamed Bounaama auf einen mögli­chen Standort der Ferme Perrin aufmerksam geworden. Der Zeugen­be­richt des dort inhaf­tierten Nadji Abbas Turqui beschreibt die Farm als ein kolo­niales Weingut, auf dem die Gefan­genen in ca. 3 m² große Wein­tanks gesperrt wurden, deren Zugang nur durch ein schmales Loch an der Decke möglich war. Turquis bezeugt, dass auch der Anwalt Ali Boumendjel hier inhaf­tiert war. Bei unserem spon­tanen Besuch im Winter 2022 weiß der heutige Besitzer sofort, worum es uns geht, und zeigt uns mehrere dieser voll­ständig geka­chelten Tanks, die von den späteren Eigentümer:innen über Durch­brüche verbunden und heute, mit Fens­tern und Türen versehen, als eine Art modu­larer Wohn­raum dienen. Für uns ist es ein Schock, diesen Ort zu besich­tigen. Wir haben Berichte über die Wein­tanks und den Ersti­ckungstod einiger Menschen darin gelesen, doch es ist etwas ganz anderes, sich so unver­mit­telt auf dem Grund eines solchen Tanks wiederzufinden.

In einer Art Archäo­logie des Terrors müssen wir immer wieder das, was wir sehen, mit unseren histo­ri­schen Quellen zusam­men­bringen. Indem wir mit dem Abstand der vielen Jahre die Orte aufsu­chen, können wir die Beschrei­bungen von Nadji Abbas Turqui besser verstehen. „In jedem Wein­tank befanden sich 6 oder 7 Personen. Die extreme Enge erlaubte es den Gefan­genen nicht, sich hinzu­legen und so mussten sie die ganze Zeit hocken. Fast 25 Tage verharrte ich in dieser Posi­tion und verließ sie nur, wenn man mich zu den Verhören brachte.“

Als wir auf der Straße mit den Nachbar:innen ins Gespräch kamen, schienen alle im Viertel die Geschichte der Ferme Perrin zu kennen. Während des Krieges waren die Schreie der Menschen aus dem Keller des Herren­hauses zu hören. Auch dorthin führte uns der Besitzer und zeigte uns am Boden des geräu­migen Kellers mehrere Abdrücke. Er selbst ist nach der Unab­hän­gig­keit geboren, doch er kann sich daran erin­nern, dass hier vier 1,5 m tiefe Löcher im Boden waren, bevor sein Vater sie versie­gelte. Die Gefan­genen hätten in den Löchern hocken oder stehen müssen und um ihre Qual zu erhöhen, wurden die Löcher mit Wasser gefüllt. Woher diese Infor­ma­tion kommt, lässt sich für uns nicht genau nach­voll­ziehen. Nadji Abbas Turqui spricht in seinem Zeugen­be­richt nicht von diesen Löchern, doch er berichtet, dass die Gefan­genen der Ferme Perrin regel­mäßig mit Elek­tri­zität und Wasser gefol­tert wurden. Ihnen wurden Verlet­zungen mit einem Hobel zuge­fügt, die man mit Salz bestreute, oder sie wurden hinter die Farm geführt, wo ihnen die Kehle durch­ge­schnitten wurde und man sie die Böschung hinun­ter­warf. Dies passierte in Sicht­weite der anderen Gefan­genen, weil man hoffte, sie auf diese Weise zum Reden zu bringen. Aus den Haft- und Folter­zen­tren in der Innen­stadt mussten die Mili­tärs die Leichen weiter weg bringen, um sie unauf­fällig verschwinden zu lassen, aber hier draußen konnten sie das in aller Ruhe diskret tun, in den ehema­ligen Wein­bergen und auf den umlie­genden Feldern, die aller­dings heute voll­ständig bebaut sind.

Im Rahmen unserer Arbeit über das gewalt­same Verschwin­den­lassen ist uns klar geworden, dass den Fami­lien eine Sache am aller­wich­tigsten ist: Im Gegen­satz zu dem, was sich die fran­zö­si­sche Presse und Teile des – vor allem rechten – poli­ti­schen Feldes herbei­fan­ta­sieren, geht es den Fami­lien nicht darum, Entschul­di­gungen oder Reue­be­kennt­nisse seitens Frank­reichs zu erhalten. Von allen Ange­hö­rigen der Verschwun­denen, die wir im Rahmen unserer Nach­for­schungen getroffen haben, schert sich keine:r um das Seelen­heil des Staates Frank­reichs, der seine Verbre­chen aner­kennen sollte, um sie zu sühnen. Hier dreht sich Frank­reich nur um sich selbst. Die inter­viewten Ange­hö­rigen wollen auch keine Entschä­di­gung oder Repa­ra­tion. In zwei Dingen sind sich jedoch alle einig: Sie wollen die Wahr­heit darüber erfahren, was mit den Entführten passiert ist, und sie wollen wissen, wo sich deren sterb­lich Über­reste befinden.

Die unver­hoffte Besich­ti­gung der Ferme Perrin und unsere Forschungen in Algier haben bestä­tigt, dass unter den Algerier:innen die Erin­ne­rung an das schreck­lich Jahr 1957 noch sehr lebendig ist. Es gibt immer noch Augenzeug:innen und es gibt viele über­lie­ferte Erzäh­lungen. Obwohl das Ereignis der Schlacht um Algier im Laufe der Jahre spürbar in den Hinter­grund gerückt ist, sind die Berichte und zahl­rei­chen Zeug:innen, die von der Geschichts­schrei­bung viel zu lange igno­riert wurden, nicht verstummt. Sie liefern uns wert­volle Infor­ma­tionen, die in den Kolo­ni­al­ar­chiven per Defi­ni­tion nicht vorkommen und statt­dessen im kollek­tiven Gedächtnis weiter­ge­geben werden. Sie müssen gesam­melt werden, bevor sie vergessen oder verzerrt werden und verschwinden. In einigen Jahren wird es nicht mehr so wie heute noch möglich sein, Berichte direkter Augenzeug:innen von den Mutma­ßungen der neuen Bewohner:innen der Orte unter­scheiden zu können.

Aus dem Fran­zö­si­schen von Elisa Barth.