Kevin Kühnert: Warum Politik kein Studium braucht | Vorwärts
Meinung

Kevin Kühnert: Warum Politik kein Studium braucht

Kevin Kühnert ist einer der bekanntesten Menschen in der SPD. Seit er für den Bundestag kandidieren will, wird er dafür kritisiert, dass er keinen Uni-Abschluss in der Tasche hat. Doch braucht man den eigentlich in der Politik?
von Benedikt Dittrich · 5. August 2020
SPD-Shootingstar Kevin Kühnert will 2021 für den Bundestag kandidieren.
SPD-Shootingstar Kevin Kühnert will 2021 für den Bundestag kandidieren.

Schule, Abitur – und dann ab an die Uni. Das gilt in vielen Familien nach wie vor als Ideal, als Königsweg für Erfolg und Karriere. Was eine politische Karriere anbelangt, scheiden sich dabei allerdings schon die Geister. Landläufig gibt es verschiedene Meinungen dazu, was Politiker*innen können sollten, was sie gemacht haben sollten, bevor sie in Parlament einziehen.

Während die eine Seite fordert, dass vor allem Abgeordnete der Volksparteien doch bitte möglichst viel praktische Erfahrung gesammelt haben sollten, am besten noch in Handwerksberufen, kann für andere wiederum der Bildungsgrad gar nicht hoch genug sein. Abitur, Ausbildung, Diplom, Master, Doktor, Professor – wer wichtige Entscheidung trifft, sollte demnach möglichst viel Wissen, möglichst viel Expertise angehäuft haben, bevor er eine politische Laufbahn einschlägt.

Der erfolgreiche Studienabbrecher

Kevin Kühnert ist Jahrgang 1989. Bei seiner Ankündigung, im kommenden Jahr für den Bundestag kandidieren zu wollen, ist er 31 Jahre alt, hat ein Abitur als höchsten schulischen Bildungsabschluss in der Tasche, 2009 hat er ein ein Publizistik-Studium begonnen. Das brach er ab, 2016 begann er ein Fernstudium der Politikwissenschaft, das seit einiger Zeit allerdings ebenfalls ruht. Daraus speist sich die Kritik an Kevin Kühnert. Der Studienabbrecher, der nichts beendet hat und sein Heil in der Politik sucht, lautet ein Vorwurf.

Das seltsame an dieser Kritik ist: Kühnert ist mit diesem Lebenslauf eigentlich gar nicht so allein im politischen Betrieb. Das Magazin Unicum hat jüngst dargestellt, dass auch andere, aktive und erfolgreiche Politiker*innen eine ähnliche Biographie haben. So hat CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak (Jahrgang 1985) bis heute sein Studium nicht abgeschlossen, der frühere SPD-Vorsitzende und Präsident des Europaparlaments Martin Schulz hat zwar eine kaufmännische Ausbildung beendet, aber ebenfalls nie studiert. Sogar Joschka Fischer, der frühere Außenminister der Grünen, hat nie studiert, eine Ausbildung als Fotograf hat er abgebrochen. Trotzdem würde vermutlich niemand auf die Idee kommen, ihnen ihre Fachkenntnis oder politische Leistung abzuerkennen, nur weil sie keinen Studienabschluss vorweisen können.

Weitere aktive Politiker ohne Abschluss, die Unicum aufzählt, sind unter andere Claudia Roth und Kathrin Göring-Eckhardt (Grüne) – rund 20 Prozent der Abgeordneten im Bundestag haben ebenfalls keinen Studienabschluss. Bei keinem wurde der fehlende Abschluss so negativ thematisiert wie jetzt bei Kevin Kühnert.

Karriere auch ohne Ausbildung und Abschluss

Kühnert arbeitete nach seinem Studienabbruch nach eigengen Angaben in einem Callcenter, bevor er ab 2014 für verschiedene Berliner SPD-Politiker*innen arbeitete. Seit 2017 führt er die Jusos an, seine Kampagne gegen die große Koalition machte ihn über Parteigrenzen hinweg bekannt, sein rethorisches Talent ist unbestritten. Seit dem Bundesparteitag im Dezember 2019 gehört er außerdem zu den stellvertretenden Parteivorsitzenden. Kühnert kann also schon auf eine politische Karriere zurückblicken, auch wenn er noch nicht im Bundestag sitzt, geschweige denn ein Ministeramt innehatt. Als Kommunalpolitiker sitzt er in der Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof-Schöneberg, seinem Berliner Heimatbezirk.

Ob Kühnert eine vergleichbare politische Laufbahn bevorsteht wie Fischer oder Schulz, ist Spekulation. Aber beide Personen haben bewiesen: Ihr Politischer Erfolg und die Anerkennung hingen maßgeblich davon ab, dass sie andere Menschen mit Argumenten, rethorischen Talent sowie politischem Gespür und letztendlich auch Expertise überzeugen konnten. Dafür kann ein Studium, eine Ausbildung hilfreich sein, zwingend notwendig ist weder das eine noch das andere.

Kühnert selber antwortet indes auf seine eigene Art auf diese Kritik – und verweist selbstbewusst auf seine Arbeit in einem Callcenter.

Dem Fernsehsender Phönix sagt er am Dienstag außerdem zu seiner geplanten Kandidatur für den Bundestag: „Das Tolle an der Demokratie ist, dass nicht die Vorstände von AfD, CDU oder sonstwem darüber entscheiden, wer Verantwortung im Parlament übernimmt, sondern Wählerinnen und Wähler. Und die können bei Betrachtung der Person, ihrer Programme und ihrer Integrität der Persönlichkeit entscheiden, ob sie Menschen für geeignet halten oder nicht.“

Er habe deswegen auch keine Angst, im kommenden Jahr in seinem Heimatbezirk Tempelhof-Schöneberg vor Wählerinnen und Wähler zu treten. „Ich glaube, dass ich ihre Interessen gut im Bundestag vertreten kann“, so Kühnert, „und dann sind die mündig genug, selber zu entscheiden, ob sie das richtig finden“. Wer Menschen ohne Hochschulabschluss hingegen Vorwürfe mache, sie seien nicht satisfaktionsfähig in Parlamenten, „die treffen in erster Linie nicht mich, sondern hunderttausende, wahrscheinlich millionen Menschen, die auf ganz ähnliche Biografien gucken und deren Lebensleistung damit mit Füßen getreten wird“.

Autor*in
Benedikt Dittrich

war von 2019 bis Oktober 2022 Redakteur des „vorwärts“.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare